Rechtsextremistische Orientierungen sind charakterisiert durch die Verbindung von Ideologien der Ungleichwertigkeit 1der Menschen mit zumindest der Akzeptanz von Gewalt als Handlungsform. 2 Die Abwertung gesellschaftlicher Minderheiten kann als Vorstufe für rechtsextremistische Orientierungen interpretiert werden, insbesondere wenn feindselige Einstellungen sich mit Gewaltbilligung und Gewaltbereitschaft mischen. Im GMF-Survey 2006 3 äußerten sich 30,1 % der Befragten fremdenfeindlich, 7,6 % rassistisch und 5,2 % antisemitisch. 12,2 % lehnten Homosexuelle, 10,2 % Obdachlose und 2 % Behinderte ab. 34,1 % der Befragten sympathisierten mit Etabliertenvorrechten, und 16,3 % stimmten sexistischen Aussagen zu. Zwar sind Gewaltbilligung und -bereitschaft weniger verbreitet, 4 aber sie kommen wie die menschenfeindlichen Einstellungen in allen Altersgruppen vor. 5 In einer ebenfalls 2006 durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsumfrage finden auch explizit rechtsextremistische Aussagen teilweise deutliche Zustimmung: 6 4,8 % der Befragten befürworten eine rechtsautoritäre Diktatur, 19,3 % stimmen chauvinistischen, 4,5 % sozialdarwinistischen Aussagen zu und 4,1 % verharmlosen den Nationalsozialismus. Freilich schlagen menschenfeindliche Einstellungen, rechtsextremistische Orientierungen und auch Gewaltakzeptanz und -bereitschaft nicht zwangsläufig in Gewalthandlungen um. Gleichwohl deuten die quantitative Entwicklung rechtsextremistischer Straftaten und Tatverdächtigenstudien, die wir im ersten Teil dieses Beitrags referieren werden, darauf hin, dass diese gesellschaftlich vorhandenen Überzeugungen einen Legitimationsfundus darstellen, der insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Gewalt mündet. Im zweiten Teil der Arbeit wird dieser Vorgang anhand eines fünfstufigen Prozessmodells analysiert. Das Modell bildet grundlegende Handlungsvoraussetzungen, Handlungskontexte und Eskalationsfaktoren für rechtsextremistische Gewalt ab. Auf dieser strukturierenden Folie werden zentrale Befunde der Forschungen über rechtsextremistische Gewalttäter aus Deutschland skizziert. Aus analytischen Gründen werden die Grundelemente des Prozessmodells (Sozialisation, Organisation, Legitimation, Interaktion und Eskalation) gesondert bearbeitet, obwohl sie einen Zusammenhang bilden. Abschließend wird im dritten Teil rechtsextremistische Gewalt aus der Perspektive der Theorie Sozialer Desintegration interpretiert. 7
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung polizeilich registrierter rechtsextremistischer Straftaten in Deutschland. Wenngleich die dargestellten Zeitreihen wegen mehrfach veränderter Erhebungskategorien mit Vorsicht interpretiert werden müssen, 8 so ist doch deutlich zu erkennen, dass rechtsextremistische Straftaten zwischen 1991 und 1993 sprunghaft anstiegen. Zwar gingen diese in der Mitte der 1990er Jahre wieder etwas zurück, blieben aber deutlich über dem Ausgangsniveau. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts nahmen die rechtsextremistischen Straftaten wieder zu und erreichten im Jahr 2000 ein zweites Maximum. Das 2001 eingeführte Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität weist deutlich weniger rechtsextremistische Gewalttaten und deutlich mehr rechtsextremistische sonstige Straftaten als die Vorgängerstatistiken aus, wobei in jedem Jahr mehr Gewalt- und sonstige Straftaten registriert werden als im Vorjahr. Bezogen auf die Bevölkerungszahlen werden in den ostdeutschen Bundesländern rechtsextremistisch motivierte Straftaten überdurchschnittlich häufig registriert - ein Befund, der seit 1991 weitgehend stabil ist.
2006 wurden 1 047 Gewalttaten dem Bereich Politisch motivierte Kriminalität - rechts zugeordnet. Davon hatten 484 eine fremdenfeindliche und 43 eine antisemitische Zielrichtung, 302 waren gegen Linksextremisten oder vermeintliche Linksextremisten und 91 gegen sonstige politische Gegner gerichtet. Die weiteren rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten wurden keiner Zielrichtung zugeordnet. 10 Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die Gewalt- und sonstigen Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund aus dem Bereich Politisch motivierte Kriminalität - rechts. Tabelle 1: Gewalt- und sonstige Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich Politisch motivierte Kriminalität - rechts (2006) 11 Gewalttaten Tötungsdelikte 0 Versuchte Tötungsdelikte 2 Körperverletzungen 919 Brandstiftungen 18 Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion 1 Landfriedensbruch 33 Gefährliche Eingriffe in Bahn-, Luft-, Schiffs- und Straßenverkehr 6 Freiheitsberaubung 0 Raub 13 Erpressung 7 Widerstandsdelikte 50 Sexualdelikte 0 gesamt 1 047 Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 391 Nötigung/Bedrohung 150 Propagandadelikte 12 627 Störung der Totenruhe 14 Andere Straftaten, insbesondere Volksverhetzung 3 368 gesamt 16 550 Straftaten gesamt 17 597
Zur Analyse wird das SOLIE-Schema herangezogen. 14 Dieses Prozessmodell basiert auf sozialisatorischen Vorbedingungen, zu denen individuelle Lernprozesse von Gewalt und das individuelle Lernen von menschenfeindlichen Einstellungen zählen. Sie bleiben eine individuelle und private Angelegenheit, solange es keine öffentlich relevanten Legitimationen durch Eliten und keine Organisationen mit Handlungs- oder Mobilisierungsangeboten gibt. Handlungsrelevanz ergibt sich erst dann, wenn Gelegenheitsstrukturen vorhanden, also Interaktionen möglich sind, um die Einstellungs- und Handlungspostulate zu Gewalt eskalieren zu lassen. 15 Abbildung 2: Das SOLIE-Schema ?tpb=-4dd> Quelle: Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Gewalt, in: ders./John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S.516.
Grundsätzlich unterscheiden sich rechtsextremistische Gewalttäter hinsichtlich der familialen Erfahrungen, die in Zusammenhang mit ihrer Gewaltbereitschaft und -tätigkeit stehen, nicht wesentlich von anderen Gewalttätern. 18 Direkte oder indirekte Gewalterfahrungen und aktive Demütigungen oder passive Anerkennungsverweigerung stehen sowohl am Anfang von "normalen" 19als auch von rechtsextremistischen Gewaltkarrieren. 20 Dabei sind solche Entwicklungsverläufe beiJugendlichen aus "zerrütteten" Familien überdurchschnittlich häufig. 21 Wenn rechtsextremistische Gewalt eine spezifische Erscheinungsform der Gewalttätigkeit Jugendlicher und Heranwachsender ist, stellt sich die Frage nach den Ursprüngen fremdenfeindlicher Einstellungen respektive rechtsextremistischer Ideologien.
Ein wichtiger Einflussfaktor für die Entwicklung rechtsextremer Orientierungen ist die Bindung zwischen Eltern und Kindern und die Art der Verarbeitung der kindlichen Bindungserfahrungen im Jugend- und Erwachsenenalter. 22 Untersuchungen der subjektiven Repräsentationen früher Bindungserfahrungen zeigen, dass weder junge Männer noch junge Frauen mit einer "sicher-autonomen" Bindungsrepräsentation rechtsextreme Orientierungen entwickelt hatten. Hingegen waren diejenigen mit "abwehrend-bagatellisierender" oder "verstrickter" Bindungsrepräsentation überwiegend rechtsextrem orientiert. In den Interviews zeigte sich, dass Männer und Frauen mit rechtsextremen Orientierungen deutlich häufiger von ihren Eltern zurückgewiesen worden waren und wenig persönliche, liebevolle Zuwendung erfahren hatten. Sie entschieden in moralischen Konflikten weniger normenorientiert, sondern zugunsten der eigenen Interessen und tendierten zu autoritärer Aggression. Diejenigen, die über ein hohes Maß mütterlicher Zuwendung berichteten, hatten eher moralische Normen verinnerlicht und zeigten überwiegend keine autoritäre Aggression gegen Schwächere.
Darüber hinaus findet Klaus Wahl bei gewalttätigen Heranwachsenden Hinweise auf "emotionale Vorläufer" fremdenfeindlicher Einstellungen in der Kindheit: 23 Im Vergleich zur weder gewalttätigen noch fremdenfeindlichen Kontrollgruppe erinnerten fremdenfeindliche Gewalttäter überdurchschnittlich, sich als Kind im Umgang mit fremden Menschen unwohl gefühlt zu haben. An diese anfängliche Fremdenfurcht konnten später ethnische Vorurteile andocken, die sich meist erst im Jugendalter als ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit manifestierten. Hingegen korrespondieren rechtsextremistische Überzeugungen nicht mit spezifischen Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit: Die politischen Orientierungen werden von Eltern, Großeltern, älteren Geschwistern, Gleichaltrigen (Peers) gelernt oder medial vermittelt. Dabei kann die Kombination der emotionalen Beziehung zu Vater und Mutter mit den politischen Einstellungen und ethnischen Vorurteilen der Eltern die Entwicklung von fremdenfeindlichen Einstellungen fördern, während jeder Faktor für sich allein keinen Einfluss hat. 24 Bei einer positiven Eltern-Kind-Beziehung wurden die elterlichen Orientierungen eher übernommen, bei einer negativen Beziehung entwickelten sich eher konträre Einstellungen. Eine ausgeprägte und eindeutige Wirkung auf die politischen Orientierungen und Einstellungen zu Fremden hatten die Beziehung zu den Eltern, der elterliche Erziehungsstil und das Familienklima allerdings vor allem unter besonders schwierigen Sozialisationsbedingungen, beispielsweise in den Fällen von elterlichem Alkoholismus und massiver Gewalttätigkeit.
Insbesondere männliche Jugendliche und Heranwachsende können in rechtsextremistischen Gruppen antizipierte und in Elternhaus, Schule, Medien und anderen Sozialisationskontexten an sie herangetragene Männlichkeitsfunktionen besetzen und unter anderem durch Kampfbereitschaft und -fähigkeit herausstellen. Weibliche Jugendliche würden hingegen eher den "Weiblichkeits-Klischees der männlich hegemonialisierten Gesellschaft folgen: Fürsorglichkeit, Kompromissfähigkeit, sexuelle Attraktivität etc.". 25 Gewalt sei ein "männliches Phänomen", weil sich insbesondere männliche Jugendliche gewaltsam ihrer Männlichkeit vergewissern können, während weibliche Jugendliche andere Strategien nutzen, um in ihrer Weiblichkeit bestätigt zu werden. 26
Neben der familialen Sozialisation haben die Schule und die Informationsmedien einen vergleichsweise geringen Einfluss auf die Entwicklung der Handlungsvoraussetzungen. Zwar haben rechtsextremistische Gewalttäter überdurchschnittlich häufig Probleme in der Schule, ein verursachender Effekt kann aber wohl nicht angenommen werden. 27 Eher verschärfen schulische Misserfolge familiale Konflikte oder begünstigen die Hinwendung zu Gruppen mit abweichenden Norm- und Wertvorstellungen. Für die Medienberichterstattung über fremdenfeindliche Anschläge finden Christian Lüdemann und Christian Erzberger 28 zwar auf der Grundlage von Zeitreihenanalysen deutliche Hinweise für einen Auslöseeffekt. Ursächlich für rechtsextremistische Gewalt sind Medienberichte aber wohl nicht.
Dabei ist grundsätzlich auf das Verhältnis von Ideologie und Gewalt hinzuweisen, das vom Politisierungsgrad der unterschiedlichen Gruppen abhängt: Bei ideologisch fest gefügten Gruppen hat Gewalt die Funktion der Durchsetzung von Ideologie zur Herstellung politischer Macht. Sie wird dann gezielt strategisch eingesetzt. Davon sind Gruppen von zumeist Jugendlichen und Heranwachsenden zu unterscheiden, für die territoriale Macht über Sozialräume im Vordergrund steht. Hier dominiert eher expressive Gewalt, und die Ideologiefragmente werden zum Teil auch mit wechselndem Inhalt zur Legitimation herangezogen. In der Verteilung der Gewalthäufigkeit durch die unterschiedlichen Gewaltgruppen liegt der Schwerpunkt bei der gelegenheitsabhängigen Gewalt durch politisch nicht organisierte Freizeitcliquen und Skinheadgruppen. 31
Lüdemann und Erzberger können anhand einer Zeitreihe auf Tagesbasis mit insgesamt 857 Messzeitpunkten zeigen, dass fremdenfeindliche Straftaten überwiegend an den Wochenenden registriert werden, wenn Freizeitcliquen und andere Gruppen sich in privaten Wohnungen, auf öffentlichen Plätzen, in Parkanlagen, Gaststätten oder Diskotheken zusammenfinden. 35 Diese Treffen sind beliebte Anlässe für Saufgelage, die häufig von Musik mit rassistischen, ausländerfeindlichen und antisemitischen Inhalten begleitet werden. 36 Im Gruppenkontext bilden Alkohol und Musik eine zugleich stimulierende und enthemmende Gemengelage, die rechtsextremistische Gewalttaten motivieren können.
Rechtsextremistische Gewalt ist von verschiedenen Handlungsvoraussetzungen, Kontextbedingungen und Eskalationsfaktoren abhängig, die wiederum in komplexen Beziehungen zueinander stehen. Vor dem Hintergrund der referierten Befunde soll abschließend die Funktion rechtsextremistischer Gewalthandlungen für die Täter erklärt werden. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Erkenntnis, dass intersubjektive Anerkennung ein existenzielles Bedürfnis des Menschen ist. 39 Die Theorie Sozialer Desintegration unterscheidet drei grundlegende Anerkennungsbedürfnisse, die individuell befriedigt werden müssen. 40 Aus dieser Perspektive kann rechtsextremistische Gewalt als "produktive" Verarbeitung individueller Anerkennungsdefizite verstanden werden. Wenngleich im Folgenden die Konsequenzen verweigerter Anerkennungsbedürfnisse separat behandelt werden, kann rechtsextremistische Gewalt am besten als Folge von Anerkennungsdefiziten in den drei zentralen Integrationsdimensionen erklärt werden. 1. Die Partizipation an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft wird als positionale Anerkennung erfahren. Objektiv sind ausreichende Zugänge zum Arbeits-, Wohnungs- und Konsummarkt relevant, subjektiv eine hinreichende Zufriedenheit mit der beruflichen und sozialen Position. Anerkennungsdefizite in dieser Dimension können aus schulischen und beruflichen Misserfolgen resultieren, aus geringen sozialen Aufstiegschancen oder einem drohenden oder befürchteten sozialen Abstieg. Solche Anerkennungsdefizite finden sich beirechtsextremistischen Gewalttätern überdurchschnittlich häufig. Ideologien der Ungleichwertigkeit haben vor diesem Hintergrund eine doppelte Funktion: Zum einen kann das positive Selbstbild gewahrt werden, indem anderen die Verantwortung für die eigene prekäre Lage zugeschrieben wird. Zum anderen kann das Selbstwertgefühl durch die Abwertung anderer Personen und Gruppen erhöht werden. Schließlich legitimieren Ideologien der Ungleichwertigkeit Gewalt gegen die stigmatisierten Personen und Gruppen. Die Funktion von Gewalthandlungen liegt unter anderem darin, sich in Gewalt befürwortenden Gruppen Status zu erkämpfen und auf diese Weise den Mangel positionaler Anerkennung zu relativieren. 2. Die rechtliche Gleichheit gegenüber anderen und der gerechte Ausgleich konfligierender Interessen werden als moralische Anerkennung erfahren. Dabei setzen die Aushandlung und konkrete Ausgestaltung des Interessenausgleichs sowohl entsprechende Teilnahmechancen als auch die Teilnahmebereitschaft der betroffenen sozialen Gruppen voraus. Anerkennungsdefizite in dieser Dimension können insbesondere aus beanspruchten Etabliertenvorrechten resultieren, aber auch aus rassistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen, heterophoben oder sexistischen Überzeugungen. Rechtsextremistische Gewalt hat vor diesem Hintergrund eine zweifache Funktion: Zum einen kann sie als Kampf um "soziale Gerechtigkeit" verstanden werden, was aus der Perspektive eines Rechtsextremisten die Übervorteilung der "weißen Rasse" oder die Rückbesinnung auf traditionelle Geschlechterrollen bedeuten kann. Zum anderen kann sie als Kampf um öffentliche und politische Aufmerksamkeit begriffen werden, um auf die eigene prekäre Situation hinzuweisen. 3. Die Zuwendung und Aufmerksamkeit in sozialen Nahbeziehungen, die Gewährung von Freiräumen und die Ausbalancierung sozialen Rückhalts und normativer Anforderungen werden als emotionale Anerkennung erfahren. Anerkennungsdefizite in dieser Dimension können insbesondere aus direk- ten und indirekten Gewalterfahrungen in der Familie sowie aktiver und passiver Anerkennungsverweigerung durch die Eltern resultieren. Solche Defizite finden sich bei rechtsextremistischen Gewalttätern fast durchgängig. Vor diesem Hintergrund kann die Gewaltbereitschaft Jugendlicher erstens als das Ergebnis direkter "Lernprozesse" erklärt werden, zweitens als Folge von Entwicklungsdefiziten - wie geringes Einfühlungsvermögen, mangelnde Kooperationsfähigkeit und Konfliktlösekompetenzen - und drittens als Möglichkeit, Gefühle der Schwäche durch die Ausübung von Macht über das Opfer zu kompensieren. Auch Rassismus, Antisemitismus, Ethnozentrismus, Fremdenfeindlichkeit, Heterophobie und Etabliertenvorrechte sind das Ergebnis solcher Lernprozesse. Anknüpfungspunkte finden Ideologien der Ungleichwertigkeit insbesondere bei Jugendlichen, die infolge emotionaler Anerkennungsdefizite autoritäre Ideen oder menschenfeindliche Einstellungen und Emotionen ausgebildet haben. Funktional sind Ideologien der Ungleichheit insbesondere für die Identitätsbildung Jugendlicher mit solchen Lebenserfahrungen.
Aus der Perspektive der Theorie Sozialer Desintegration werden rechtsextremistische Gewalthandlungen Jugendlicher als das Ergebnis eines Prozesses verstanden, dessen Voraussetzungen in der Familie gelegt werden, und der bei spezifischen Handlungsbedingungen und -gelegenheiten eskalieren kann. Zwar entwickeln sich nur wenige Jugendliche mit positionalen, moralischen oder emotionalen Anerkennungsdefiziten zu rechtsextremistischen Gewalttätern. Allerdings kann sich das abhängig von den Handlungsbedingungen, Gelegenheitsstrukturen und Eskalationsfaktoren kurzfristig ändern, zumal menschenfeindliche Einstellungen und rechtsextremistische Orientierungen weit verbreitet sind.
1 Ideologien der Ungleichwertigkeit sind das Kernstück verschiedener Facetten
rechtsextremistischer Ideologien wie Rassismus (Abwertung anderer aufgrund der Bewertung
biologischer Unterschiede), Antisemitismus (Abwertung vom Menschen jüdischer Herkunft oder
Religion), Ethnozentrismus (Eigene Aufwertung durch Reklamation kultureller oder
ökonomischer Leistung), Fremdenfeindlichkeit (Abwehr von Konkurrenz um Positionen, Plätze
etc. aufgrund anderer ethnischer Herkunft), Heterophobie (Angst vor und Abwertung
von Norm-Abweichung) und Etabliertenvorrechte (Reklamierung von raum-zeitlicher
Vorrangstellung gegenüber Neuen).
2 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei
Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen
Sozialisation, Weinheim-München 1987, S. 16.
3 GMF = Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Der GMF-Survey befragt über einen
Zeitraum von 10 Jahren (2002 - 2011) jährlich 2 000 repräsentativ ausgewählte Personen in
Deutschland zu menschenfeindlichen Einstellungen. Vgl. Wilhelm Heitmeyer,
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Ein normaler Dauerzustand?, in: ders. (Hrsg.),
Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt/M. 2007. Angegeben sind die prozentualen
Zustimmungen nach strengen Kriterien, also nur von den Befragten, die allen Aussagen der
entsprechenden Skala eher oder voll und ganz zugestimmt haben. Wir danken Sandra Hüpping für die
Berechnungen.
4 Vgl. Franz Asbrock/Sandra Hüpping, Deutsche Zustände - Unsere Gesellschaft:
Unsicher und feindselig?, Vortrag präsentiert bei der Friedrich-Ebert Stiftung in
Saarbrücken am 19. 4. 2007.
5 Vgl. Kirsten Endrikat, Jüngere Menschen, größere Ängste, geringere
Feindseligkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt/M. 2006.
6 Vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler/Norman Geißler, Vom Rand zur Mitte.
Rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006.
7 Die Abbildung basiert auf den Verfassungsschutzberichten 1983, 1984, 1993 bis
1995 und 2001 bis 2006 des Bundesministeriums des Innern sowie dem Ersten periodischen
Sicherheitsbericht des Bundesministeriums des Inneren und des Bundesministeriums für Justiz von
2001. Angegeben ist jeweils das Erscheinungsjahr.
8 Vgl. Helmut Willems, Unabhängige Beobachtungsstelle für rechte Gewalt? Eine
Verhinderungsgeschichte, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 1, Frankfurt/M. 2002.
9 Bundesministerium des Inneren, Verfassungsschutzbericht, Berlin 2007, S. 21.
10 Vgl. ebd., S. 26.
11 Vgl. ebd., S. 24.
12 Vgl Helmut Willems/Stefanie Würtz/Roland Eckert, Analyse fremdenfeindlicher
Straftäter, Bonn 1994; Christian Peucker/Martina Gaßebner/Klaus Wahl, Analyse
polizeilicher Ermittlungsakten zu fremdenfeindlichen, rechtsextremistischen und
antisemitischen Tatverdächtigen, in: Klaus Wahl (Hrsg.), Fremdenfeindlichkeit,
Antisemitismus, Rechtsextremismus. Drei Studien zu Tatverdächtigen und Tätern, Berlin 2001. Die
Verwendung polizeilicher Ermittlungsakten für die wissenschaftliche Analyse von
Täterstrukturen ist nicht unproblematisch (siehe auch Willems u. a., S. 105 ff., Peucker u. a., S. 19
ff.): Insbesondere handelt es sich nicht um die Daten von Tätern, sondern von
Tatverdächtigen, die von der Polizei im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens befragt wurden, um nur
die wichtigste Einschränkungen zu nennen.
13 Vgl. Chr. Peucker u.a. (Anm. 12), S. 44.
14 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Gewalt, in: Ders./John Hagan
(Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 516.
15 Vgl. Tore Bjࣺrgo, Terrorist Violence against Immigrants and Refugees in
Scandinavia: Patterns and Motives, in: Ders. (Ed.), Racist Violence in Europe, New York 1993, S.
43.
16 Vgl. Klaus-Jürgen Hurrelmann, Einführung in die Sozialisationstheorie. Über
den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit, Weinheim-Basel 1995, S.
14; Ders., Einführung in die Sozialisationstheorie, Weinheim-Basel 2002, S. 15f.
17 Vgl. Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller, Fremdenfeindliche Gewalt junger
Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung
strafrechtlicher Sanktionen, Bonn 1995, S. 13.
18 Vgl. Frank Wendt/Steffen Lau/Hans-Ludwig Kröber, Rechtsradikale Gewalttäter,
in: Rechtsmedizin, 12 (2002), S. 214 - 223.
19 Vgl. Ferdinand Sutterlüty, Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von
Gewalt und Missachtung, Frankfurt/M. 2002; Ders., Was ist eine
"Gewaltkarriere"?, in: Zeitschrift für Soziologie, 33 (2004), S. 266 - 284.
20 Vgl. Jörg Neumann/Wolfgang Frindte, Der biographische Verlauf als Wechselspiel
von Ressourcenerweiterung und -einengung, sowie Christine Wiezorek,
Fallbeispiele zur biographischen Genese von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, beide in: Klaus
Wahl (Hrsg.), Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus. Drei
Studien zu Tatverdächtigen und Tätern, Berlin 2001.
21 Vgl. W. Heitmeyer/J. Müller (Anm. 17), S. 127f.; Helmut Willems/Sandra
Steigleder, Täter-Opfer-Konstellationen und Interaktionen im Bereich
fremdenfeindlicher, rechtsextremistischer und antisemitischer Gewaltdelikte. Eine Auswertung auf
Basis quantitativer und inhaltsanalytischer Analysen polizeilicher
Ermittlungsakten sowie von qualitativen Interviews mit Tätern und Opfern in NRW, Trier 2003, S.
96ff.
22 Vgl. Christel Hopf/Wulf Hopf, Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine
Einführung in die politische Sozialisation, Weinheim-München 1997, S. 62ff.
23 Vgl. Klaus Wahl, Entwicklungspfade von Aggression, Devianz,
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, in: Ders. (Hrsg.), Fremdenfeindlichkeit,
Antisemitismus, Rechtsextremismus. Drei Studien zu Tatverdächtigen und Tätern, Berlin 2001.
24 Vgl. Klaus Wahl/Christiane Tramitz/Jörg Blumtritt, Fremdenfeindlichkeit. Auf
den Spuren extremer Emotionen, Opladen 2001, S. 262ff.
25 Kurt Möller, Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort auf den Konnex
von Männlichkeit und Gewalt, in: Benno Hafeneger/Peter Henkenborg/Albert Scherr
(Hrsg.), Pädagogik der Anerkennung, Schwalbach 2002, S. 255.
26 Vgl. Kurt Möller, Coole Hauer und brave Engelein. Gewaltakzeptanz und
Gewaltdistanzierung im Verlauf des frühen Jugendalters, Opladen 2001. Zu den Einstiegs-,
Konsolidierungs- und Ausstiegsprozessen in die rechtsextremistische Skinheadszene vgl. Kurt
Möller/Nils Schuhmacher, Rechte Glatzen, Wiesbaden 2007 und den Beitrag von Kurt Möller in
diesem Heft.
27 Vgl. Helmut Fend, Ausländerfeindlich-nationalistische Weltbilder und
Aggressionsbereitschaft bei Jugendlichen in Deutschland und der Schweiz. Kontextuelle und personale
Antecedensbedingungen, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie,
(1994), S. 131 - 162.
28 Vgl. Christian Lüdemann/Christian Erzberger, Fremdenfeindliche Gewalt in
Deutschland. Zur zeitlichen Entwicklung und Erklärung von Eskalationsprozessen, in:
Zeitschrift für Rechtssoziologie, 15 (1994), S. 169 - 190.
29 Vgl. Helmut Willems, Kollektive Gewalt gegen Fremde. Historische Episode oder
Genese einer sozialen Bewegung von rechts?, in: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hrsg.),
Neonazismus und rechte Subkultur, Berlin 1994, S. 218 f.; Frank Esser/Bertram
Scheufele/Hans-Bernd Brosius, Fremdenfeindlichkeit als Medienthema und Medienwirkung. Deutschland
im internationalen Scheinwerferlicht, Wiesbaden 2002, S. 103ff.
30 Vgl. Thomas Ohlemacher, Public Opinion and Violence against Foreigners in the
Reunified Germany, in: Zeitschrift für Soziologie, 23 (1994), S. 222 - 236.
31 Vgl. Bundesministerium des Inneren, Verfassungsschutzbericht, Berlin 2006, S.
56ff.
32 Vgl. Jack Levin/Jack Mcdevitt, Hate Crimes. The Rising Tide of Bigotry and
Bloodshed, New York 1993.
33 Vgl. Chr. Peucker u.a. (Anm. 12), S. 52ff.
34 Vgl. H. Willems u.a. (Anm. 12), S. 55; Thomas Mentzel, Rechtsextremistische
Gewalttaten von Jugendlichen und Heranwachsenden in den neuen Bundesländern. Eine
empirische Untersuchung von Erscheinungsformen und Ursachen am Beispiel des Bundeslandes
Sachsen-Anhalt, München 1998, S. 311; Chr. Peucker u.a. (Anm. 12), S. 55.
35 Vgl. Chr. Lüdemann/Chr. Erzberger (Anm. 28), S. 171f.; vgl. Helmut
Willems/Roland Eckert/Stefanie Würtz/Linda Steinmetz, Fremdenfeindliche Gewalt.
Einstellungen, Täter, Konflikteskalation, Opladen 1993, S. 180.
36 Vgl. Helmut Willems u.a., ebd., S. 185f.; Martina Gaßebner/Christian
Peucker/Nikola Schmidt/Klaus Wahl, Analyse von Urteilsschriften zu fremdenfeindlichen,
antisemitischen und rechtsextremistischen Straftätern, in: K.Wahl (Anm.12), S. 136f.
37 Vgl. Hans-Bernd Brosius/Frank Esser, Eskalation durch Berichterstattung.
Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt, Opladen 1995; Dies., Fernsehen als Brandstifter?
Unerwünschte Nebenwirkungen der Berichterstattung über fremdenfeindliche Gewalt, in: Mike
Friedrichsen/Gerhard Vowe (Hrsg.), Gewaltdarstellungen in den Medien, Opladen 1995.
38 Vgl. Roland Eckert/Helmut Willems, Eskalation und Deeskalation sozialer
Konflikte: Der Weg in die Gewalt, in: W. Heitmeyer/J. Hagan (Anm.14).
39 Einen kurzen Überblick über die Ideengeschichte geben: Peter Sitzer/Christine
Wiezorek, Anerkennung, in: Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch (Hrsg.),
Integrationspotenziale moderner Gesellschaften, Wiesbaden 2005.
40 Vgl. Reimund Anhut/Wilhelm Heitmeyer, Desintegration, Konflikt und
Ethnisierung. Eine Problemanalyse und theoretische Rahmenkonzeption, in: Wilhelm
Heitmeyer/Reimund Anhut (Hrsg.), Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse
und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen, Weinheim-München 2000; Reimut
Anhut/Wilhelm Heitmeyer, Desintegration, Anerkennungsbilanzen und die Rolle sozialer
Vergleichsprozesse für unterschiedliche Verarbeitungsmuster, in: W. Heitmeyer/P. Imbusch
(Anm.39); Reimund Anhut/Wilhelm Heitmeyer, Disintegration, Recognition and Violence,
in: Les C@hiers de Psychologie Politique, 9 (2006).