Anfang dieses Jahres schien es so, als würde die dreißigjährige Wiederkehr des Schreckensjahres 1977 zum Anlass für Gedenkroutine. Der "linke Terrorismus" der RAF schien zwischen den Buchdeckeln eines zweibändigen, dickleibigen Werkes seine endgültige Ruhe gefunden zu haben. Wolfgang Kraushaar, der nimmermüde Chronist, hatte es herausgegeben. Aber die letzte Ruhe der RAF war Schein. Die Untoten, sie sind mitten unter uns. Jetzt kann man die Gespenster sogar hören - auf den Tonbändern des Stammheimer Prozesses, deren Texte allerdings seit langem bekannt sind.
Die Debatte um die Begnadigung des ehemaligen Terroristen Christian Klar hatte die Geisterbeschwörung eingeleitet. Konservative Politiker bedrängten den Bundespräsidenten, entgegen geltendem Recht die Begnadigung von einem vorgängigen Reuebekenntnis Klars und von einer Entschuldigung bei den Hinterbliebenen seiner Mordtaten abhängig zu machen. Ganz so, als ob solchen Gesten eines Menschen, der im Gefängnis sitzt, irgendeine moralische oder politische Bedeutung zukomme. Besonders hysterische Reaktionen in der Boulevardpresse und bei Politikern rief eine in der "Jungen Welt" abgedruckte Grußbotschaft Klars hervor, die aus seinem "Antiimperialismus" kein Hehl machte. Obwohl sich in Klars Erklärung keine Spur eines Aufrufs zu irgendeiner Aktion, geschweige denn zur Gewaltanwendung fand, enthielt sie nach Meinung des bayerischen Innenministers die Quintessenz des RAF-Terrorismus. Daher dürfe eine Begnadigung nicht in Frage kommen. Das Gnadengesuch wurde verworfen.
Der Angriff der Konservativen und der "Bild"-Zeitung auf das Recht zur freien Meinungsäußerung auch eines Verurteilten hatte nicht nur das taktische Ziel, eine Begnadigung zu verhindern. Offensichtlich diente die Intervention auch dem Versuch, die Gegnerschaft zum Kapitalismus und zum "imperialistischen Weltsystem" per se mit terroristischen Aktionen in Verbindung zu bringen. Solche Anwürfe sind zum einen gegen globalisierungskritische Organisationen wie Attac gerichtet, deren Analysen zwar nichts mit Klars Holzschnitzerei zu tun haben, wohl aber in kritischer Absicht "das Ganze" der kapitalistischen Welt betreffen. Den Begnadigungsgegnern kam es aber auch darauf an, geschichtspolitisch zu wirken, indem sie den antiimperialistischen Kampf der Linken in den 1960er und 1970er Jahren in die Nähe terroristischer Gewalt rückten oder ihm zumindest eine sympathisierende Wahlverwandtschaft mit der RAF attestierten. Solche Auffassungen grassieren auch im linksliberalen Milieu. So kam den Autoren der "Süddeutschen Zeitung" beim Abhören der Bänder des Stammheimer Prozesses die Einsicht, der Angeklagte Baader argumentiere der Form nach sachlich - und befinde sich "ganz auf der Höhe des (damaligen) zeitgenössischen Imperialismus-Geschwafels".
Wenn wir über das seinerzeitige Verhältnis der Linken zur Gewalt reden, gilt es, zwei Gemeinplätze zu beachten. Der eine betrifft "die Linken". Im Folgenden steht die antiimperialistische und antikapitalistische Linke im Zentrum, wie sie im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) versammelt war bzw. aus ihm hervorging. Das Bild der Außerparlamentarischen Opposition war jedoch viel bunter. Zum zweiten gilt es, das Verhältnis zur Gewalt nicht als ein für allemal feststehend, sondern im Rahmen eines historischen Prozesses zu betrachten. Halten wir fest, dass die erste Phase der Studentenbewegung bis zum gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 gänzlich im Zeichen des "zivilen Ungehorsams" stand. Gemeint sind kalkulierte Regelübertretungen um eines als höher bewerteten Rechtsguts willen, also Verteidigung der Meinungsfreiheit auf dem Campus oder Protest gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam. Es ging um Sitzstreiks, Besetzungsaktionen, Blockaden, nicht genehmigte Demos, illegale Plakataktionen, Sachbeschädigungen vermittels Farbeierwurf und vieles mehr, meist Importe aus den USA. Gewaltanwendung war sorgsam dosiert, wie bei der Störung des Straßenverkehrs oder dem Öffnen von Rektoratstüren. Varianten zivilen Ungehorsams waren die politischen Happenings. Das Problem all dieser Aktionen war, dass auf Seiten der Staatsmacht und der Medien der Mitspieler fehlte. Es wurde ein Antagonismus aufgebaut, dem es auf Ausgrenzung ankam.
Nach dem Fanal des 2. Juni 1967 verloren die linken studentischen Aktionen die Leichtigkeit der ersten Phase. Unter dem Eindruck der drohenden Notstandsgesetzgebung zielten sie nun darauf ab, polizeiliche Reaktionen im Übermaß zu provozieren und damit das "wahre Gesicht" einer Repression zu zeigen, die sich nicht mehr um die Grenzen des Rechtsstaats schert. Die antiimperialistischen, hauptsächlich gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam gerichteten Demos und Aktionen wollten sich jetzt in einen internationalen Rahmen einordnen und begriffen sich als Bestandteil eines weltweiten Befreiungskampfs. Dieses Gefühl internationalistischer Gleichzeitigkeit setzte beispielsweise die Erstürmung der Zitadelle von Hue durch den Vietcong in zeitliche Beziehung zur (missglückten) Besetzung von Amerika-Häusern hier in Deutschland. Aber trotz aller militanten Rhetorik gab es keine Forderungen, Kampfformen der Befreiungsbewegungen auf Deutschland zu übertragen.
Unter amerikanischen Soldaten in Berlin wurde für die Desertion geworben, aber war es noch zulässig, auch amerikanische Militäreinrichtungen wie die Sendemasten des AFN anzugreifen, jenen Sender, der so manchen der radikalen Linken während eines Teils seiner Jugend begleitet hatte? Die Unterscheidung zwischen zulässiger Gewalt gegen Sachen und unzulässiger Gewalt gegen Personen war von Anfang an umstritten. Sie enthielt zwar die Beziehung eingesetzter Mittel zu politischen Zielen und verwarf den Angriff oder die Gefährdung von Menschen als mit humanen Zielen unvereinbar. Aber das Kriterium war nicht trennscharf und thematisierte nicht die mit Gewaltanwendung stets verbundenen politischen und ethischen Probleme. Mit der Eskalation polizeilicher Gewalt eskalierte auch die Gegenwehr und mit ihr ein Begriff der Militanz, der im erfolgreichen Widerstand gegen die Polizeigewalt seinen Ursprung hatte. Militanz meinte, sich nicht widerstandslos verprügeln oder festnehmen zu lassen. Das Problem dieser und anderer verwandter Begriffe war, dass sie von Gegnern wie von Anhängern der Linken im Sinn bewaffneter Aktionen missverstanden werden konnten. Bis zur Krise und zur Auflösung der Studentenbewegung 1969/70 konnte zum Gewaltkomplex innerhalb der Linken keine Klärung erreicht werden. Dazu wäre eine Denkpause nötig gewesen. Für Leute, die das Eisen schmieden wollten, so lange es glühte, war das kein akzeptabler Vorschlag.
Den Schwierigkeiten der Gewaltdiskussion versuchte die in Gruppen und Bünde zerfallende radikale Linke seit 1970 mit dem traditionellen Utilitarismus der kommunistischen Bewegung beizukommen. Danach galt jede Gewalt als legitim, die das Proletariat bei seinem Emanzipationskampf voranbringt. Revolutionäre Gewalt sollte "Gewalt durch die Massen" sein. Deshalb wurde der individuelle Terror abgelehnt - nicht nur, weil der Zeitpunkt für Gewaltanwendung nicht reif, sondern weil es die Ausgebeuteten selbst sein sollten, die sich "den alten Dreck" vom Hals schaffen müssten. Da die "revolutionären Massen" auf sich warten ließen, taugte das Kriterium ausschließlich zur Abgrenzung von der RAF. Deshalb kritisierte die RAF den "Massenopportunismus" der Linksradikalen.
Sollte die Gewalt Mittel zum Zweck der Emanzipation sein, oder war sie selbst ein emanzipatorischer Akt? Viele der radikalen Linken in der Bundesrepublik feierten den "Volkskrieg" in Indochina, weil sie die Volksarmee nach egalitär-sozialistischen Prinzipien organisiert sahen und weil in den befreiten Gebieten - quasi als Antizipation - sozialistische Einrichtungen und Projekte verwirklicht wurden. Die Idee aber, der Griff zur Waffe und die Tötung des Gegners könnten für sich genommen Akte der Befreiung sein, fand bei der radikalen Linken kaum Anhänger.
Zwischen der radikalen Linken in der Bundesrepublik und in West-Berlin und der sich herausbildenden RAF gab es zwar enge persönliche, teilweise sogar freundschaftliche Beziehungen, aber auch tief greifende politische Unterschiede, nicht nur strategische. Die radikalen Linken, ob maoistische K-Gruppen, Spontis, Trotzkisten oder Anarchisten sahen ihre Aufgabe darin, der sozialistischen Idee zu einer Massenbasis unter den Lohnabhängigen zu verhelfen. Nie wäre es ihnen, die sich tagein, tagaus mit der Mühsal sozialistischer Organisationsarbeit herumplagten, in den Sinn gekommen, die Pistoleros der RAF zu beneiden oder gar zu bewundern. Damit soll keineswegs klein geredet werden, dass die RAF über ein Unterstützungsmilieu verfügte, aus dem sich auch ihre weiteren Generationen rekrutierten. Auch in der Boheme wie in den Kreisen des akademischen Bürgertums, den Kriegsgewinnlern der studentischen Revolte zumal, verfügte sie über Parteigänger aus der Ferne - nicht aber bei den radikal linken Aktivisten der 1960er und 1970er Jahre.
Gerade dies aber behaupten Wissenschaftler, die sich in jüngsten Publikationen mit der RAF und der radikalen Linken auseinandersetzen. Jan Philipp Reemtsma meint, die RAF habe unter diesen Linken für ein latent schlechtes Gewissen gesorgt. Weil die RAF als Teil der radikalen Linken gesehen worden sei, die ihre Ideale teile, nur leider die falsche Mittel anwende, seien ihre Primitivität und Brutalität verleugnet worden. So sei die RAF ein Teil der Verwirklichung des Selbstbilds der Linken geworden. Sie verbürgte nach Reemtsma auch deren Identität.
Zweifellos existierte innerhalb der radikalen Linken in den 1970er Jahren eine starke Solidaritätsbewegung mit den inhaftierten RAF-Mitgliedern vor allem der ersten Generation. Sie machte sich aber nicht an den Aktionen der RAF fest, sondern an den Haftbedingungen, insbesondere an der "Isolationshaft". Hier ging es nicht um Phantasmen der Linken, um Verzerrungen eines funktionierenden Rechtsstaats. Die Linken knüpften an eigene, sehr schmerzhafte Erfahrungen mit Polizei und Justiz an. Allerdings interpretierten sie diese Erfahrungen im Rahmen einer Theorie, die die Demokratie auf der schiefen Bahn zum autoritären Staat, auf dem gefährlichen Weg in eine neue, modernisierte Form des Faschismus wähnte. Die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen sahen große Teile der radikalen Linken, wie die Grundrechtseinschränkungen im Namen der Sicherheit auch, als Indizien dieses Prozesses.
Solche Auffassungen waren sicher schematisch und verfehlten die Realität. Aber keineswegs war es so, dass die radikale Linke sich als Opfer der Entwicklung zum autoritären Staat sah oder gar ihr Schicksal mit den Opfern des Nazi-Faschismus identifizierte. Diese Linke arbeitete sich in den späten 1960er und 1970er Jahren nicht mehr am Nazismus ab, wie auch der Generationenkonflikt nicht mehr grundlegend war. Die Linken waren voller Optimismus, voller Tatendrang, glaubten an keine geschichtliche Fatalität - auch angesichts der "faschistischen Gefahr". Im Unterschied zu dieser "Und-der-Zukunft-zugewandt"-Mentalität war die Haltung von Ulrike Meinhof als führendem theoretischen Kopf der RAF geprägt von einem unglücklichen Bewusstsein, das die Kontinuität des Nazismus in der Bundesrepublik als entscheidenden Faktor der politischen Entwicklung beschwor. Während die radikale Linke sich dem Internationalismus zuwandte und das deutsche an ihrer politischen Sozialisation möglichst ignorierte, haben die Mitglieder der RAF den Bannkreis des "deutschen Verhängnisses" nie verlassen. Deshalb war es für sie so naheliegend, sich als Gefangene mit den Nazi-Opfern gleichzusetzen, Stammheim mit Auschwitz zu parallelisieren. Diese Selbst-Viktimisierung blieb der radikalen Linken vollkommen fremd.
Als Ende der 1970er Jahre die "neuen sozialen Bewegungen" das politische Feld zu dominieren begannen und sich die Grünen zur Partei formierten, setzte sich mit erstaunlicher Leichtigkeit das Prinzip der Gewaltfreiheit durch, eine der vier ursprünglichen Säulen grünen Selbstverständnisses. Dieser Umstand erleichterte vielen der linken Radikalen einen fliegenden Wechsel ins Lager der Gewaltfreien, ohne den Komplex der Gewaltanwendung als politisches Mittel - auch in Auseinandersetzung mit der RAF - öffentlich zu überdenken. In den 1970er Jahren hatte es, trotz der manifesten Gegnerschaft der meisten radikalen Linken zur RAF, an einer solchen Debatte gefehlt. Wenn daher heute ehemalige RAF-Mitglieder zu einer selbstkritischen Haltung aufgefordert werden, trifft dies nicht minder auf ihre ehemaligen linksradikalen Antagonisten zu.