DAS SYSTEM CAMORRA
Roberto Saviano bricht das Schweigen - und klagt an
Es ist an der Zeit, dass wir aufhören, ein Gomorrha zu sein..." Diesem Satz, einer Streitschrift des Priesters Peppino Diana gegen die Camorra-Bosse entnommen, verdankt Roberto Savianos Buch "Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra" seinen Titel. Don Peppino Diana wurde am 19. März 1994 von Killern der Camorra im neapolitanischen Vorort Casal di Principe ermordet. Er hatte gewagt, den dort herrschenden Camorra-Clans durch ein zu Weihnachten verteiltes Schreiben die Leviten zu lesen: Ein unerhörtes Vorgehen in einem Landstrich, in dem das Schweigen als erstes Gebot gilt, als ungeschriebene doch jedem selbstverständliche Regel. Außerdem ein Akt der Revolte, ein trotziges Aufmucken gegen den scheinbar unverrückbaren Status quo. Und nicht zuletzt ein Vertrauensbeweis in die Kraft des Wortes, dort, wo Worte nichts zu wiegen scheinen gegen das erdrückende Gewicht der Wirklichkeit.
Das Gleiche könnte man sagen vom 365 Seiten starken Werk des Journalisten Roberto Saviano: Eine Höllenfahrt durch die Herrschaftsgebiete der Camorra, der neapolitanischen Mafia, die sich um das Zentrum Neapels schlingen und mittlerweile auf den halben Globus ausgeweitet haben. Damit tritt der Autor in die Fußstapfen des ermordeten Paters. Er führt Fakten an - schaurige Fakten - haufenweise, benennt die Verantwortlichen, klagt an. Dem Buch ist die Wut anzumerken, die den Autor beim Schreiben antrieb: Die Wut eines jungen Süditalieners, in der Camorra-Hauptstadt Casal di Principe geboren und aufgewachsen, der von Kind an lernen musste, zwischen denjenigen zu unterscheiden, die "nur die Worte beherrschen" und jenen, "die die Dinge beherrschen", das heißt: das Leben aller anderen. "Dreitausendsechshundert Tote, seit ich geboren bin", heißt es in der Mitte des Bandes. Daraufhin ein paar Vergleiche: Die Camorra hat mehr Menschen umgebracht als die sizilianische Mafia, als die kalabresische Ndrangheta, als die russische Mafia, als ETA, IRA, Links- und Rechtsterroristen aller Art. Warum wird in den Karten, die in "Le Monde diplomatique" regelmäßig erscheinen, auf denen die Kriegsgebiete des Erdballs aufgezeichnet sind, nicht auch Kampanien, nicht auch der Süden Italiens mit einem Flämmchen gekennzeichnet?
Das Buch hat Roberto Saviano im Nu in die Schlagzeilen katapultiert. Weil er als erster die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf die bislang kaum beachtete Mafia-Organisation Kampaniens gelenkt hat; weil sich sein "Gomorrha" in Italien 800.000 Mal verkaufte, dann ins Spanische und Niederländische, nun endlich auch ins Deutsche übersetzt wurde. Außerdem deshalb, weil Roberto Saviano sich damit die Feindschaft der Camorra-Bosse eingehandelt hat: Sie haben ihn, so heißt es, zum Tode verurteilt, der Schriftsteller muss heute unter Polizeischutz leben. Mit dem Risiko dürfte er gerechnet haben, als er beschloss, das Schweigen zu brechen.
"Das System" wird die Camorra in Neapel genannt. Besser gesagt: Jede Allianz von Clans, die über ein bestimmtes Gebiet in und rund um Neapel herrscht, ist ein "System". Es kontrolliert sämtliche Wirtschaftszweige, die in seinem Territorium Profite erbringen. Das Talent der Camorra besteht darin, legale und illegale Märkte zu verschränken. Unsummen erwirtschaften die Clans durch den weltweiten Drogenhandel, für dessen reibungslose Abwicklung "Manager" in Spanien, Belgien, Holland, Deutschland und der Schweiz sorgen. Eine andere Quelle ihres Reichtums ist das Waffengeschäft: In Osteuropa kauften Camorra-Familien nach dem Fall der Mauer alle sowjetischen Waffendepots auf, an die sie durch ihre guten Beziehungen zu den osteuropäischen Mafien gelangen konnten. Andererseits beliefert die Camorra die Textilindustrie und Haute Couture Norditaliens mit hochwertigen Kleidungsstücken und Lederwaren, die von unterbezahlten Schwarzarbeitern in Treppenhäusern und Fabrikhallen Kampaniens gefertigt werden. Sie hat ein internationales Vertriebsnetz aus Boutiquen und Verkaufsketten aufgebaut, das sie ebenso für den Absatz gefälschter Markenware wie auch für das Drogengeschäft nutzt. Das gesamte Transport- und Baugewerbe Kampaniens ist in ihrer Hand: Sie kann auf Heerscharen von Arbeitslosen zurückgreifen, die ohne Verträge, ohne Ferien und irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen 15 Stunden am Tag schuften. Und weil die Camorra für die Entsorgung giftiger Abfälle der Chemieindustrie wesentlich billigere Preise bietet als rechtmäßig arbeitende Betriebe, ist das neapolitanische Umland inzwischen in eine endlose, von Giftgasen verseuchte Müllhalde verwandelt worden.
Hatte man die kampanische Mafia lange als einen Haufen wilder Gangster betrachtet, die sich gegenseitig massakrieren, muss man sich beim Lesen von Savianos Reisebericht durch ihre Höllenkreise die Augen reiben: Die Camorra ist heutzutage ein global agierendes Unternehmen, dessen Geschäftsführer das ABC des Neoliberalismus nicht nur beherrschen, sondern am erfolgreichsten in die Tat umsetzen. Die Bosse wollen nichts anderes als das, was alle Wirtschaftsführer der Welt anstreben: Geschäfte machen, möglichst profitable Geschäfte. Das einzige, was sie von anderen Unternehmern unterscheidet, ist das Bewusstsein des stets lauernden Todes. Denn die Camorra, anders als die anderen mächtigen Mafia-Organisationen Süditaliens, verfügt über keine festen Hierarchien. Die Clans machen sich beständig ihre Herrschaftsgebiete und Handelswege streitig, ein Boss wird meist durch Meuchelmord von einem anderen abgelöst. Aber gerade das macht die Bosse in den Augen der Jugendlichen, die in den Territorien der Camorra aufwachsen, zu mythischen Vorbildern: Helden unserer Zeit, die nach einem schönen, wenn auch kurzen Leben streben. Die Camorra ist in Kampanien nicht nur der erste Brotgeber, sondern auch Urheber der populären Leitkultur.
Doch das System, das Saviano beschreibt, ist nicht nur jenes der mafiösen Clans seiner Region. Der Schriftsteller nimmt das ökonomisch-politische System Italiens ins Visier, das die Herrschaft der Mafia-Organisationen im Süden des Landes erst möglich macht. Und - über die Grenzen des Landes hinaus - das kapitalistische System schlechthin, das immer billigere Waren, immer billigere Arbeitskräfte, und möglichst steuerfreie Verkehrswege verlangt. Die Camorra und andere süditalienische Mafien, die über ein riesiges Reservoir an sonst arbeitslosen, um des Überlebens willen zu allem bereiten Tagelöhnern verfügen, können in der bestehenden Weltwirtschaftsordnung nur blühen und gedeihen. Saviano zeigt, wie sie es tun - das macht die Brisanz des Buches aus.
Dabei liest sich "Gomorrha" keineswegs wie ein Sachbuch - eher wie ein Meisterwerk realistischer Literatur. Die Verquickung von akribisch Recherchiertem, Anekdotischem und schmerzhaft Erlebtem schließt die Einordnung in eine bestimmte Gattung per se aus. Der Autor aber lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er nur Wirklichkeit erzählt, nichts als die Wirklichkeit. Eine berühmte Aussage von Pier Paolo Pasolini umkehrend ("Ich weiß. Aber ich habe keine Beweise"), hämmert er dem Leser in einem zentralen Kapitel seines Erstlings den Satz "Ich weiß, und ich habe Beweise" als Refrain ein. Seine sind die Beweise von einem, der gesehen hat, der gehört und registriert hat, was um ihn herum geschah. Der persönlich erlebt hat, was er erzählt. Erlebenswert war es gewiss nicht. Lesenswert auf jeden Fall.
Gomorrha.
Reise in das Reich der Camorra.
Carl Hanser Verlag München 2007
367 S., 21,50 ¤