Literatur
Der Roman »Pazifik Exil« ist ein großartig erzählendes Kunststück zwischen Moderne und Avantgarde
Was denkt man im Exil? Arnold Schönberg, zum Beispiel, sitzt in seinem geliebten Ohrensessel, dem einzigen Möbel, das er nach Kalifornien mitgenommen hat, und klagt. Er zürnt und verzweifelt, denn er bemerkt eine Vertiefung im Polster, eine Kuhle, die ihn ärgert und stört: Thomas Mann hatte sich den Sessel, in dem schon Wagner gesessen haben soll, ausgeliehen. Um etwas abzuarbeiten. Pah! Und was tut er in Wirklichkeit? Er schreibt darin "Doktor Faustus", schreibt bei ihm, Schönberg, ab, erwähnt ihn, Schönberg, aber kein einziges Mal. Und nun sitzt dessen Hauptfigur, dieser Adrian Leverkühn, quasi imaginär im Ohrensessel, hat die Vertiefung noch breiter ausgesessen und will nicht verstummen. Setzt sich Schönberg in den Sessel, hört er ihn ständig, wie zum Hohn. Das ist tragisch und traurig und komisch zugleich.
Glaubt man der Szene, denkt man so im Exil: häufig tief depressiv; ein bisschen paranoid außerdem; banal obendrein; grotesk zweifellos und verzweifelt, ja verzweifelt in jedem Fall. Und und und. Gedanken ohne Ende. Klagen und Selbstvorwürfe; Zorn und Trauer. Zugegeben: Nicht für alle im Exil. Für jemanden wie Schönberg aber leider viel zu oft.
Wie er so denkt im Exil, ist nachzulesen. Nicht in einer neuen Biographie. Sondern in einem zerstückelten, zerhackten, gedankenverlorenen Roman - "Pazifik Exil". Mit ihm beweist Michael Lentz, dass er zu den großen Gedankenerzählern der deutschen Gegenwartsliteratur gehört.
Am Anfang tritt Marta auf den Plan, die Frau von Lion Feuchtwanger, wie sie 1933 auf einer Skitour in den Alpen von Hitlers Machtergreifung erfährt - "im Kopf ist nichts als ein Mobile, darein die Wut gefahren ist". Der deutschen Intelligenz, hier repräsentiert in einem halben Dutzend literarischer Emigranten, blieb kaum eine Wahl: entweder fliehen oder bleiben, die Strapazen der Flucht etwa aus Frankreich über die Pyrenäen über den Ozean auf sich nehmen oder der Verbrennung der eigenen Bücher beiwohnen. Leid und Unheil bedeutete beides, äußere wie innere Emigration.
Beides in einem einzigen Roman zu spiegeln, den Stoff der Erinnerung sich zu eigen machen, dokumentarisches Material heranzuziehen, um der eigenen Phantasie fast freien Lauf zu lassen, dazu ist Einschränkung vonnöten. Also beschränkt sich Lentz auf die Geflohenen, auf Thomas und Heinrich Mann, Bertold Brecht, Schönberg, Feuchtwanger, Werfel und deren Frauen. Die zugrunde liegenden Tagebuchnotate, Journale und Briefe sind dabei zwar identifizierbar. Lentz übersteigt sie jedoch kurios und lässt dadurch immer den leisen Zweifel, die Ungewissheit, was jeweils authentisches Zitat, was kreative Erfindung sei, in jeder Geschichte keimen.
Der 1964 in Düren geborene Schriftsteller, der über Lautpoesie/-musik nach 1945 promovierte und 2001 den Ingeborg Bachmann-Preis gewonnen hat, der als Kritiker und Erzähler gleichermaßen auf sich aufmerksam macht, der ein überzeugter und überzeugender Boxer ist und in Leipzig als Professor für literarisches Schreiben am deutschen Literaturins-titut lehrt, entfaltet in "Pazifik Exil" eine erzählerische Dynamik, gegenüber der seine beiden voran gegangenen Prosastücke "Muttersterben" (2002) und "Liebeserklärung" (2003) wie Prolegomena erscheinen. Nicht nur versteht es Lentz einmal mehr, benachbarte literarhistorische Sprechweisen, Avantgarde und Moderne, Stakkato-Dichtung und Granatsplitterstil, Collagentechnik und den nichtlinearen Duktus ambitionierten Erzählens mit Assoziationsketten zusammenzuführen. Erneut beschreiben kontemplativ um ihr Sujet kreisende innere wie äußere Monologe die Bahn der Erinnerung als unendliche Windung, die sich so lange bewegt, bis die Helden verstummen und zerbrechen. Währenddessen lässt Lentz die Gespräche und Selbstgespräche, die Streitgespräche und Plaudereien ins Vergessen münden, wo es keine Sprache mehr gibt.
Entwurzelung und Exil, Erinnerung und Erlösung, Selbstbefreiung und Schuld: Unverkennbar schreibt Michael Lentz aus einer politischen Sensibilität heraus. Geschult an den experimentellen Sprachspielen seit Dada sah Lentz sich offenbar genötigt, an die Wurzeln seiner literarischen Tradition zu gehen. Und das heißt eben zu den Exilliteraten des 20. Jahrhunderts. Lentzens Entscheid, einem Stipendium nach Amerika zu folgen, sich in der Villa Aurora, dem ehemaligen Wohnhaus von Lion Feuchtwanger in den Pacifik Palisades, Gedanken über ein neues Buch zu machen, dürfte nicht zuletzt dem Bedürfnis entsprungen sein, einem Stoff literarisch innovativ habhaft zu werden. Dort stieß er fast zwangsläufig auf das Thema der deutschen Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus - erstaunlicherweise als erster Autor überhaupt. Sein Roman ist nachdenklich geraten. Mit bitteren Kommentaren, mit elegischen Bildern, aber auch mit Erzählungen von der Tapferkeit derjenigen, die das "Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit" (Thomas Mann) auf sich nahmen, zeichnet Michael Lentz die zeitgeschichtliche Dimension eines dunklen Kapitels, und zwar am Beispiel der Literatur, am Beispiel von Literaten und somit am Beispiel von Protagonisten eines kollektiven Weltgedächtnisses, deren Schicksal schockt und dessen Verhalten dennoch bisweilen amüsiert.
Aus einer amerikanischen Illustrierten schneidet Heinrich Mann ein Bild seines Bruders aus, lässt es rahmen, hängt es auf - viel zu hoch, wie er meint - und hängt es wieder einen halben Meter tiefer. Nun muss er beim Betrachten den Kopf nicht mehr so sehr in den Nacken legen. Einige Zeit später wiederholt sich die Szene. Bert Brecht ist in Kalifornien zu einer Cocktailparty eingeladen, geht hin, keiner kennt ihn, was ihn gewaltig ärgert. Immerhin trifft er seinen Freund Hanns Eisler und sie kommen auf Thomas Mann zu sprechen, den "Stehkragen", wie Brecht sagt. Und da erzählt Brecht von Lion Feuchtwangers Villa und dass in dessen Arbeitszimmer Thomas Manns Foto über seinem, Brechts Foto, gehangen habe. Ohne Umstände habe er allerdings "den Brecht über den Stehkragen gehängt".
Mit seinen vielfachen anekdotischen Momenten baut der Roman eine Privatheit auf, die eine bestechende Komik beinhaltet und nur manchmal Schwatzhaftigkeit bedeutet. Es gibt eine unerträgliche Nervensäge und Hitler-Bewunderin, aggressive Symbolik und unheilvolle Vorzeichen; und es gibt einen Charakter der Mündlichkeit, der den kompletten Roman ausmacht, eine Rhetorik und einen Sound, der den Autor Michael Lentz, diesen begabten Vortragskünstler, der den Mund gerne einmal voll nimmt, aufs Trefflichste charakterisiert. Das Übergewicht an Gedachtem, mit dem Lentzens "Pazifik Exil" die Helden dieser Emigration präsentiert, seine Autorambition, dem Personal des Romans ins Gehirn hinein zu schauen, arbeitet die Latenzzeit der "Innenleben" mit hoher Fallhöhe heraus. Wirkungsvoll bringt Lentz den Roman zum Kippen. Denn seine inneren Monologe, erlebten Reden und auktorial erzählten Situationen bedingen perspektivische Brüche. Die gut zwanzig Kapitel, chronologisch und inhaltlich allenfalls lose miteinander zusammenhängend, verzichten auf den Anspruch des Konsistenten, Zuendegedachten und Zuendeerzählten.
Es gibt am Ende keine wirkliche Klärung, was man denkt im Exil. Viele sterben. Einer bricht über dem Schreiben zusammen, nicht ohne unbewusst (aber bedeutsam) das Geschriebene durchzustreichen. "Pazifik Exil" bleibt ohne Happy End. Vielmehr liest sich das Buch als Chronik eines Welt-Zerfalls, die mit dem Verlust der Sprache und das heißt des Erzählens einher geht.
Michael Lentz bietet kühn kalkulierte literarische Vexierspiele. Die Gedanken unter Palmen gehen in weit ausholenden Innenansichten eine Verbindung von qualvollem Ausmaß ein. Zwischen Skurrilität und Menetekel, privatem Geständnis und welthistorischer Tragik, Krieg und Frieden, Glück und Verzagtheit sieht man sich eindringlich ums Grübeln ersucht: "Das Brandmahl ist längst im Geist, es würde also wenig helfen, es von der Haut zu entfernen."
Pazifik Exil. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007; 462 S., 19,90 ¤