GESELLSCHAFTSVERTRAG
Wolfgang Engler propagiert ein Bürgergeld mit Bildungsauflagen
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen in ganz Europa Schriften, in denen Zeitgenossen sich den Kopf darüber zerbrachen, wie die Gesellschaft mit den Folgen der Industrialisierung am besten zurechtkommen kann. Die Autoren waren teils wunderliche Spinner, teils aber auch Denker mit nachhaltigem Einfluss wie Karl Marx. 200 Jahre später muss sich die Gesellschaft mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen. Leben wir in einer Zeit, in der wieder große Gesellschaftsentwürfe, gar Visionen gefragt sind?
Der Berliner Kultursoziologe Wolfgang Engler propagiert in seinem gerade erschienenden Buch einen neuen Gesellschaftsvertrag. Wer sich in der heutigen Informationsgesellschaft mit innovativen Gesellschaftsmodellen an die Öffentlichkeit wagt, geht ein Risiko ein. Welcher Gedanke ist nicht schon gedacht, welches Szenario von den Kritikern nicht schon verworfen worden? "Unerhörte Freiheit" ist in jedem Fall ein mutiges Buch.
Englers Thema ist die Arbeitsgesellschaft der Zukunft. Wer Arbeit hat, ist sozial anerkannt. Wer keine Arbeit hat und sich seinen Lebensunterhalt von der Solidargemeinschaft finanzieren lässt, droht diese Anerkennung zu verlieren. Wie wäre es nun, sagt Engler, wenn arbeiten und nicht arbeiten zwei Optionen wären, die jeder frei, das heißt ohne ökonomische Zwänge, wählen könnte? Ermöglichen soll dies ein Grundeinkommen für Erwachsene. Ein solches Bürgergeld soll nicht nur materiell auskömmlich sein, sondern auch Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen. Es wäre Ausfluss einer gesamtgesellschaftlichen Vereinbarung. Arbeitende und Nichtarbeitende bilden eine Art Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, denn die freie Option zum Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft erfordert zwangsläufig auch, dass es eine freie Option zum Wiedereinstieg gibt.
Finanziert werden soll das Bürgergeld für alle Erwachsenen aus Steuern - und zwar überwiegend aus Steuern auf den Konsum. Für Engler hat dies den Effekt, dass die Nichtarbeitenden ihr Bürgergeld zumindest teilweise selbst finanzieren, weil sie es komplett ausgeben müssen, um ihre Existenz zu sichern. Für den Finanzminister wäre die Frage entscheidend, wer das Grundeinkommen bezahlt und ob es überhaupt bezahlbar ist. Engler vertieft sich nicht weiter in Fragen der ökonomisch-technischen Machbarkeit seines Gesellschaftsvertrags, sondern vertraut darauf, das "die richtige finanzielle Mischung" schon gefunden wird. Dagegen nehmen kulturelle und psychologische Facetten in seiner Betrachtung einen breiteren Raum ein.
Entscheidender ist für ihn die Forderung, dass das Grundeinkommen nicht ohne Bedingungen ausgezahlt wird. Vielmehr sollen die Empfänger nachweisen müssen, dass sie "glaubwürdige und beglaubigte Bildungsanstrengungen" unternommen haben. Wer sich dem verweigert, soll mit einem Taschengeld abgespeist werden, das nicht ausreicht, um sich aus der Abhängigkeit von anderen zu befreien. Erst das volle Bürgergeld soll ökonomische Unabhängigkeit garantieren.
Den Grundstein für seinen Gesellschaftsvertrag hat Engler bereits vor zwei Jahren in dem Buch "Bürger, ohne Arbeit" gelegt. Er entwickelt diese Ansätze nun in 42 kurzen Kapiteln fort, in einer an Brecht geschulten Sprache, die ohne Modewörter, ohne soziologisches Fachvokabular und fast ohne Anglizismen auskommt. Trotzdem ist es wegen der dichten Gedankenführung und dem eigenwilligen Stil Englers kein Buch für Schnellleser.
Der weiteren Auseinandersetzung um ein allgemeines Grundeinkommen hat der Autor mit diesem Buch den theoretischen Boden bereitet. Dennoch haftet dem Werk etwas Fragmentarisches an. Engler hat begonnen, viele Tunnel in verschiedene Richtungen zu bohren, aber keinen ganz zu Ende. Doch das "Kommunistische Manifest" kam auch vor dem "Kapital". Vielleicht ist Wolfgang Engler ja noch für manche Überraschung gut.
Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft.
Aufbau-Verlag, Berlin 2007; 180 S., 16,95 ¤