Der Fall Litwinenko
Verschwörungstheorien verkaufen sich gut - vor allem wenn die Geheimdienste die Hauptrolle spielen
Haben Sie Beweise für Ihre Version?", fragt die Staatsanwältin, gespielt von Julia Roberts. "Nein! Absolut keine!", antworte Taxifahrer Jerry (Mel Gibson). "Eine gute Verschwörung ist unmöglich zu beweisen." Tatsächlich wird Jerry im Hollywood-Thriller "Fletcher's Visionen" von einem der geheimsten Geheimdienste gejagt, weil eine seiner Verschwörungstheorien zufällig wahr ist. Auch wenn sich Hollywood noch so interessante Plots ausdenken mag, das Leben schreibt oft die besseren Geschichten. In unserem Fall geht es um provozierte Kriege, Terroranschläge, Massenmord, Machtkämpfe im Kreml und das Schicksal eines nach Großbritannien übergelaufenen Ex-KGB-Offiziers, der Opfer eines spektakulären Attentats mit einer radioaktiven Substanz wird.
Wie der britische Innenminister John Reid erklärte, erlag der ehemalige Oberstleutnant des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), Alexander Litwinenko, am 23. November 2006 in London einer Polonium-Vergiftung. Zuvor hatte das Opfer die mediale Vermarktung seiner Krankheit selbst in Szene gesetzt. Er wollte sicher gehen, dass seine Feinde in Kreml die Propagandaschlacht verlieren würden. Persönlich wählte er das für die Veröffentlichung bestimmte Foto aus, das ihn auf dem Krankenlager zeigte: Ein Mann ohne Haare im grünen Kittel, der den Betrachter direkt anzuschauen scheint. Jeder weiß, dass er mit einem radioaktiven Stoff vergiftet ist und sterben muss.
Nach seinem Tod wird den wartenden Journalisten vor dem Universitätsklinikum Litwinenkos Erklärung verlesen, in der er auch "ein paar Worte" über Präsidenten Putin verliert, den er für seine Ermordung verantwortlich macht. Nach den Worten Litwinenkos ist Putin seines "Amtes nicht würdig", weil er "keine Achtung vor dem Leben, vor der Freiheit oder sonst einem Wert der Zivilisation" habe. Auch wenn es dem russischen Präsidenten gelungen sei, "einen einzelnen Mann zum Schweigen zu bringen", werde er für diese Tat bestraft werden. Ein halbes Jahr später musste Litwinenkos Gattin einräumen, dass der Befehl, ihren Mann zu töten, nicht unbedingt von Präsident Putin persönlich angeordnet worden sei.
Nach dem Tod des Ex-KGB-Agenten blieben die von Litwinenko erhofften weltweiten Proteste aus. Allein Moskau und London stritten über die Auslieferung verdächtiger Personen. Besonderes Interesse zeigten die Briten an den ehemaligen KGB-Offizieren Andrej Lugowoj und Dmitrij Kowtun, die mit der Vergiftung ihres früheren Kollegen in Verbindung gebracht werden konnten. Da sich Russland ihrer Auslieferung widersetzte, verwies London russische Diplomaten des Landes. Daraufhin mussten auch britische Diplomaten Russland verlassen.
Präsident Putin reagierte erst am 1. Februar 2007 öffentlich auf die Ermordung Litwinenkos: Auf einer Pressekonferenz bezeichnete er ihn als ein "unbedeutendes Ziel". Kurz: Der Ex-KGB-Agent sei für den Geheimdienst zu unwichtig gewesen.
Der Buchautor Alex Goldfarb, der der Familie Litwinenko bei ihrer Flucht aus Russland geholfen hatte, stimmte Putin zu: "Was immer Sascha getan hatte oder noch tun würde, es war diese Mühe nicht wert." Litwinenko sei nicht das eigentliche Ziel gewesen, vielmehr sollte sein Tod nur ein Mittel zum Zweck sein, meinte Goldfarb, der seinen Lebensunterhalt bei einer Stiftung verdient, die vom russischen Exil-Oligarchen und Milliardär Boris Beresowskij finanziert wird. Seiner Ansicht nach gibt es nur "ein glaubwürdiges Motiv" für diesen Mord: In dem endlosen Konflikt zwischen Präsident Putin und Boris Beresowskij "sollte der jeweils anderen Seite ein Mord angehängt werden".
In dem Buch von Alex Goldfarb und Litwinenkos Ehefrau Marina "Tod eines Dissidenten" geht es weniger um die Frage: "Warum Alexander Litwinenko sterben musste?", sondern um die Geschichte Boris Beresowskijs und seinen persönlichen Kampf mit Wladimir Putin. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Beresowskij rasch zum einflussreichsten Unternehmer des Landes mit unbegrenzten politischen Ambitionen aufgestiegen. Dabei geholfen hatten ihm die Privatisierungen und seine enge Verbindung zu Tatjana, der Tochter von Präsident Boris Jelzin. Mit Beresowskijs Karriere begann das Zeitalter der Oligarchen in Moskau, die unter dem Deckmantel politischer Reformen und marktwirtschaftlicher Umstrukturierungen vornehmlich von der Privatisierung des Volkseigentums profitierten. Diese Milliardäre wurden von der "Familie" im Kreml, einem engen Kreis um Boris Jelzin, geführt und stellten ihr "erworbenes" Kapital in den Dienst der "Familie". Der Finanzmagnat George Soros bezeichnete die Oligarchen einmal als "Raubkapitalisten". Als der intellektuelle Kopf der "Familie" galt Beresowskij, der angeblich persönlich die Ernennung Putins als Geheimdienstchef, Ministerpräsident und später als Präsident initiierte.
Im internen Machtkampf um Einfluss auf Präsident Jelzin bekam später eine Gruppe von FSB-Offizieren die Order, Beresowskij "aus dem Verkehr zu ziehen". Die Operation sollte ausgerechnet Litwinenko leiten, der Beresowskij gut kannte und ihm nahe stand. Der Oligarch, der die größte russische Fernsehanstalt ORT kontrollierte, organisierte daraufhin für Litwinenko und seine Kollegen eine Pressekonferenz, auf der das "Mordkomplott" bekannt gegeben wurde. Unterdessen suchte die "Familie" einen Nachfolger für Präsident Jelzin. Wegen seiner Loyalität gehörte Putin von Anfang an zum engsten Kreis der Auserwählten. Angeblich wollte Putin einen anderen Job. Bei einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch soll er Beresowskij gebeten haben: "Mach mich zum Gazprom-Chef." Statt dessen habe der "gutgläubige Oligarch" mit Putin "seinen natürlichen Todesfeind" ausgerechnet als Präsident installiert!
Angesichts der überzeugend vorgetragenen Verschwörungstheorien ist es guten Kennern der russischen Innenpolitik vorbehalten, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Dabei sollte jeden Leser aufmerken lassen, dass Goldfarb und Marina Litwinenko selbst immer wieder darauf hinweisen, dass es keine wasserdichten Beweise dafür gebe, dass beispielsweise der FSB die Terroranschläge in Russland vom September 1999 durchführte. Im Unterschied dazu zeigten sich Alexander Litwinenko und sein Co-Autor Yuri Felshtinsky in ihrem Buch "Eiszeit im Kreml" sicher, dass der russische Inlandsgeheimdienst für den Massenmord verantwortlich ist.
Aber auch Goldfarb nimmt letztlich keinen Abstand von seinen abstrusen Thesen. Ohne Beweise vorzulegen, wirft er Putin vor, persönlich einen Angriff des tschetschenischen Terroristen Schamil Bassajew auf Russland provoziert zu haben, um einen Krieg gegen Tschetschenien beginnen zu können. Dieser "Geniestreich" sollte Putin helfen, an die Macht zu kommen. Dagegen erfährt der Leser wenig über die Kontakte der tschetschenischen Islamisten zu Beresowskij. Angeblich hatten radikale Tschetschenen den Oligarchen nur gebeten, ihnen zu helfen, Präsident Maschadow los zu werden, um ein fundamentalistisches Tschetschenien zu gründen und so einen Krieg mit Russland zu verhindern.
Damit nicht genug: Laut Goldfarb kontrolliert der russische Geheimdienst fast alle tschetschenischen Terrorgruppen. Auf Geheiß des Geheimdienstes verüben die tschetschenischen Kämpfer Anschläge in Russland, auch auf das Moskauer Musicaltheater im Oktober 2002. Demnach müsste es also das oberste Ziel des FSB gewesen sein, sich international und innenpolitisch bis auf die Knochen zu blamieren!?
Als Fazit muss man festhalten, dass sich die beiden Bücher auf Klischees und eine Ansammlung unbewiesener Anschuldigungen beschränken. Dabei sind selbst die Verschwörungstheorien so banal, dass diese "Werke" kaum zu den Klassikern dieses Genres gezählt werden dürften.
Eiszeit im Kreml. Das Komplott der russischen Geheimdienste.
Hoffmann u. Campe, Hamburg 2007; 360 S., 19,95 ¤
Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste.
Hoffmann u. Campe, Hamburg 2007; 428 S., 19,95 ¤