Vereinte Nationen
Das Porträt einer fehlbaren, aber unersetzlichen Organisation
Es ist schwer messbar, was politische Visionen bewirken und wie sie letztendlich den Alltag der Menschen beeinflussen. Unabhängig davon aber steht fest, dass Visionäre großen Zulauf haben, weil an ihre gewagten Vorstellungen neue Hoffnungen geknüpft werden. Im Jahre 1837 schrieb der vielversprechende englische Dichter Alfred Tennyson das Gedicht "Locksley Hall". Mit jugendlichem Schwung und mitreißender Sprache pro-phezeite der Dichter, dass die Nationen der Welt, die ihre Fähigkeiten zu ihrer gegenseitigen Zerstörung erkannt hatten, möglicherweise übereinkommen würden, eine politische Föderation zu bilden: das in ein universales Recht eingebettete Parlament der Menschheit.
Manches von Tennysons Vision ist 170 Jahre später verwirklicht worden, vieles aber ist noch weit entfernt davon. Immerhin beeinflusste er die Gründerväter der Vereinten Nationen, die der US-Präsident Eisenhower als die am besten organisierte Hoffnung bezeichnet, das Schlachtfeld durch den Konferenztisch zu ersetzen. Der Yale-Professor Paul Kennedy, seit seinem Werk "Aufstieg und Fall der großen Mächte" einer der wichtigsten Historiker, geht in seinem jüngsten Werk "Parlament der Menschheit" den Wurzeln der Vereinten Nationen nach, fragt nach ihrer Effizienz in der Vergangenheit und betont ihre Unverzichtbarkeit angesichts der Vielfalt der Herausforderungen, vor denen die rasant wachsende Weltbevölkerung steht.
In sieben Kapiteln unternimmt Kennedy mit bewundernswerter intellektueller Disziplin den Versuch, das vielschichtige Forum der Vereinten Nationen zu untersuchen, ihre Gremien vorzustellen, ihre Erfolge zu würdigen, aber auch das nicht seltene Scheitern zu erwähnen. Denn - das zieht sich als Grundgedanke durch das Buch - die Vereinten Nationen können nur so stark und durchsetzungsfähig sein, wie ihre Mitgliedstaaten dies zulassen.
Zwar durchlitten die Menschen im 20. Jahrhundert die verlustreichsten Kriege, zugleich aber bildete sich ein Netzwerk globaler Institutionen; Staaten gingen aufeinander zu, um Aggressionen einzudämmen, international gültige Regeln zu entwerfen und soziale Entwicklungen anzuregen. Die in ihren Zielen ambitionierteste Organisation sind die von den Siegermächten gegründeten Vereinten Nationen. Sie standen von Anfang an in der Spannung zwischen nationaler Souveränität und Internationalismus. Es galt und gilt bis heute, nationale Egoismen an die Kette zu legen, selbstsüchtige Macht zu bändigen. Würden heute keine internationalen Behörden existieren, "wären wir gezwungen, sie zu schaffen", wird der Autor angesichts der Aufgabenvielfalt nicht müde, zu betonen.
Kennedys Arbeit eine "Ideengeschichte" der Vereinten Nationen zu nennen, trifft es nur zum Teil. Es ist eine Untersuchung über die sich wandelnden Vorstellungen von internationalen Strukturen und die Frage, wie sie eingesetzt wurden, um Ziele, die die ganze Menschheit betreffen, in Bereichen durchzusetzen, in denen jede Nation für sich keine zufriedenstellenden Ergebnisse hervorbringen könnte. So beim Umweltschutz, der Friedenserhaltung und der Durchsetzung der Menschenrechte. Der Weg zu einer neuen Weltordnung ist lang und mit Hindernissen gespickt: Anzeichen für internationale Verflechtungen werden begleitet von ethnisch-nationalistischen Leidenschaften und blutiger Kriegshetze, wie auf dem Balkan in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu besichtigen.
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte zur Wiederbelebung der Vorstellung, die Menschheit müsse einfach ihre Nationen zusammenführen, bevor diese die Welt vernichteten. Das Ergebnis war die Satzung des Völkerbundes, dessen schwerwiegende Konstruktionsfehler man erst später erkannte. Immerhin waren die Staaten einem Parlament der Menschheit noch nie näher gekommen. Erstmals wurden die Rechte von Ethnien anerkannt und geschützt, auch die der Juden. Erstmals in der Geschichte waren Staaten einer Art internationaler Überprüfung ausgesetzt. Allerdings wird leicht vergessen, dass über die Hälfte des Globus sich noch in kolonialer Abhängigkeit befand.
Bald rotteten sich die Gespenster des Ersten Weltkriegs wieder zusammen, und Millionen Menschen mussten sterben, bevor sich die Einsicht durchsetzte, dass Kriege künftig nur verhindert werden könnten, wenn weltweit ein System zur Schaffung eines besseren politischen und kulturellen Verstehens unter den Völkern geschaffen würde. Die Gründung der Vereinten Nationen ging aber mit der Erkenntnis einher, dass ungeachtet der UN-Charta auch weiterhin mächtige Staaten sich über die Weltorganisation hinwegsetzen und im Alleingang handeln konnten. Eklatantes Beispiel dafür ist der Feldzug der US-Regierung gegen den Irak, ohne sich den Militärschlag vom Sicherheitsrat genehmigen zu lassen. Dieses Gremium, belegt Paul Kennedy an zahlreichen Beispielen, ist immer nur so stark, wie es die Vetomächte zulassen.
Ob Korea, Suez, Berlin, der Kongo, die Auseinandersetzungen im Nahen Osten, Mittelamerika und Afrika: Die Tagesordnung des Sicherheitsrats war ein Spiegelbild der Spannungen zwischen den Großmächten. Kam es zu einer Krise, bei der eine Vetomacht sich der UNO entgegenstellte, konnte der Sicherheitsrat kaum etwas tun. Schließlich wurde das ganze System der Vereinten Nationen bis in seine Wurzeln erschüttert, als es in den frühen 1990er-Jahren zu einer Explosion von Bürgerkriegen, ethnischer und religiöser Gewalt, massiven Menschenrechtsverletzungen und dem Zusammenbruch von Staaten kam. Interne Gemetzel und der Zerfall sozialer Strukturen wie etwa in Somalia und Haiti waren in der UN-Charta schlichtweg nicht vorgesehen. Auch ein Konsens, wie die Struktur zu reparieren ist, sei nicht in Sicht, räumt der Autor ein.
Paul Kennedy belässt es nicht bei Beispielen, dass einige Staaten eben gleicher sind als andere. Er widmet sich auch eingehend den Forderungen nach einer Reform des Sicherheitsrats, zumal alle seine Entscheidungen über Interventionen Länder des Südens betreffen. Würden nicht neue ständige Mitglieder wie Japan oder Deutschland von den Entwicklungsländern als zusätzliche Demütigung empfunden?
Diese umfassende Darstellung der Vereinten Nationen untersucht ihre Anstrengungen zur Friedenserhaltung, die Wirtschaftsprogramme, ihre Gesellschafts-, Umwelt- und Kulturprogramme, das dramatische Kapitel der Menschenrechte und die nicht-staatlichen Akteure wie Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen.
In Paul Kennedys rhetorischer Frage steckt zugleich die einzig mögliche Antwort: Wie wollen wir grässliche Diktaturen in die Schranken verweisen und die Menschenrechte voranbringen, wenn nicht durch die Mobilisierung der Weltmeinung, durch öffentlichen Druck und Sanktionen seitens
des Sicherheitsrats?
Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregie-rung.
Verlag C.H. Beck, München 2007; 400 S., 24,90 ¤