Ziel der deutschen Entwicklungspolitik istes, zur Minderung der weltweiten Armut, zur Sicherung des Friedens und zur gerechten Gestaltung der Globalisierung beizutragen. Sie tut dies, indem sie die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Partnerländern durch Entwicklungszusammenarbeit (EZ) fördert und zudem an der Gestaltung der globalen Rahmenbedingungen mitwirkt. 1 Sie handelt dabei nicht allein. Vielmehr beeinflussen andere Politiken, obwohl sie ihre eigenen Ziele verfolgen, gewollt oder ungewollt ebenfalls die Entwicklung in den Partnerländern und auf globaler Ebene. Sie können die Bemühungen der Entwicklungspolitik daher unterstützen, aber auch beeinträchtigen oder zunichte machen.
Im ersten Fall liegt aus entwicklungspolitischer Sicht Politikkohärenz vor, im zweiten Falle Inkohärenz. Wenn der Erfolg entwicklungspolitischer Bemühungen daher auch von den Wirkungen anderer Politiken abhängt, muss Entwicklungspolitik andere Politiken mit im Blick haben und auf sie einwirken, um möglichst Inkohärenzen zu vermeiden und Synergien zu erzeugen; sie muss sich also um mehr Politikkohärenz bemühen. Deshalb hat Entwicklungspolitik neben der Ebene der Partnerländer und der globalen Ebene noch eine dritte Handlungsebene, nämlich die entwicklungspolitische Bildungs- und Kohärenzarbeit im Inland.
Politikkohärenz gilt für Regierungshandeln als wünschenswert, weil mangelnde Kohärenz zu Ineffizienz (Verschwendung von Ressourcen), Ineffektivität (Nichterreichen von Zielen) und Glaubwürdigkeitsverlust von Politiken führen kann. Darüber hinaus erhebt Entwicklungspolitik einen spezifischen Anspruch auf mehr Politikkohärenz, den sie doppelt begründet. "Negative" Begründung: Inkohärenzen zwischen Entwicklungspolitik und anderen Politiken
Die Inkohärenzen können verschiedene Formen annehmen. Die eine Variante ist, dass entwicklungspolitische Ziele von anderen politischen Interessen überlagert werden mit der Folge, dass Widersprüche zwischen den erklärten Zielen und der Praxis der Entwicklungspolitik entstehen können. Das Besondere ist hier die unmittelbare Einflussnahme anderer Politiken auf die Entwicklungspolitik. Beispiele, die sich in vielen Industrieländern finden lassen, sind außenpolitische, Exportförderungs- oder Arbeitsmarktinteressen, die entwicklungspolitische Entscheidungen überlagern und Auswirkungen z.B. auf die ländermäßige Verteilung der EZ (Bevorzugung von außenpolitisch wichtigen Ländern), die Auswahl von Projekten und Programmen (Priorität für solche, die im Interesse der eigenen Exportwirtschaft sind) oder die Bedingungen der Hilfe (z.B. Bindung von EZ-Leistungen an Lieferungen des Geberlandes; sog. Lieferbindung) haben.
Die andere Variante besteht darin, dass EZ zwar im Einklang mit ihren erklärten Zielen durchgeführt wird, andere Politiken aber ihre Wirkungen konterkarieren oder ihren Absichten zuwiderlaufen. Dies ist sozusagen der klassische und am häufigsten diskutierte Typus entwicklungspolitischer Inkohärenzen. Hier können drei Fälle unterschieden werden: Erstens: Die Wirksamkeit der EZ wird durch die Auswirkungen anderer Politiken unmittelbar behindert (spezielle Inkohärenz). Ein Beispiel sind Projekte der EZ zur Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Exporte von Partnerländern, während die Geberländer gleichzeitig die Importe zahlreicher Produkte aus Entwicklungsländern durch Handelshemmnisse erschweren. Zweitens: Andere Politiken der Geberländer hemmen die Entwicklung von Partnerländern und laufen damit dem Anliegen von Entwicklungspolitik zuwider, selbst wenn keine EZ-Projekte negativ betroffen werden (generelle Inkohärenz). Beispiele: Importhemmnisse besonders für Agrarprodukte aus Entwicklungsländern auf den Märkten der Industrieländer; Verzerrung der Weltagrarmärkte auf Grund der Preisstützungs- und Exportsubventionspolitik der Industrieländer mit der Folge, dass die Weltmarktpreise gedrückt werden und die Landwirtschaft vieler Partnerländer verminderte Exporterlöse und/oder eine unfaire Importkonkurrenz hinnehmen muss; Genehmigung von Rüstungsexporten in Entwicklungsländer, in denen die innergesellschaftliche Lage konfliktiv oder die regionale Stabilität gefährdet ist; Umweltpolitik, die der Hauptverantwortung der Industrieländer für den Klimawandel, der auch zahlreiche Entwicklungsländer bedroht, nicht immer gerecht wird. Weitere Politiken, die unter dem Gesichtspunkt entwicklungspolitischer Kohärenz der Aufmerksamkeit bedürfen, weil sie im einzelnen negative Auswirkungen auf Entwicklungsländer haben können, sind z.B. die Fischereipolitik der EU, die Einwanderungspolitik oder die Bestimmungen zu Patentschutz und geistigem Eigentum. Drittens: Es gibt Widersprüche zwischen Entwicklungspolitik und anderen Geberpolitiken, die zwar die Partnerländer nicht unmittelbar zu schädigen brauchen, aber die Glaubwürdigkeit der Entwicklungspolitik untergraben und unter Umständen negative Anreize für Regierungen in Entwicklungsländern darstellen. Dies ist etwa der Fall, wenn Geberländer im Rahmen ihrer EZ den Schutz der Menschenrechte anmahnen und fördern, sich gleichzeitig aber staatliche Menschenrechtsverletzungen vorhalten lassen müssen. Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit Korruption: Einerseits fordert und fördert die deutsche EZ seit Anfang der 1990er Jahre gute Regierungsführung und Kampf gegen Korruption in den Partnerländern. Andererseits hat der Deutsche Bundestag bis heute nicht die von der Bundesregierung 2003 unterzeichnete Konvention der Vereinten Nationen (VN) gegen Korruption ratifiziert. 2
"Positive" Begründung: Leitbild nachhaltiger Entwicklung und Millenniumserklärung
Streng genommen ist mit der "negativen" Begründung des entwicklungspolitischen Kohärenzanspruchs noch nichts über seine Richtung gesagt. Die erwähnten Inkohärenzen mögen zwar entwicklungspolitisch bedauerlich sein, sie sind dies aber nicht notwendigerweise aus der Sicht anderer Politiken, für die sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis inkohärenter Politiken anders darstellen mag.
Mit welchem Recht fordert Entwicklungspolitik von anderen Politiken mehr Entwicklungsorientierung? Nach dem Motto "Kohärenz ist keine Einbahnstraße" könnte man auch umgekehrt von Entwicklungspolitik die Berücksichtigung anderer politischer Ziele verlangen, also z.B. einen Beitrag zur Förderung von deutschen Exporten und Arbeitsplätzen. Schließlich ist Entwicklungspolitik in die Kabinettsdisziplin eingebunden und unterliegt wie alle Politiken dem grundgesetzlichen Auftrag, deutschen Interessen zu dienen. 3 Läuft Entwicklungspolitik also bei der Forderung nach mehr Kohärenz in eine Falle? Das ist nicht der Fall, da es übergeordnete Ziele gibt, die als Leitlinie für die Bestimmung der Kohärenzbeiträge verschiedener Politiken dienen können.
Die Globalisierung und die mit ihr verbundenen zunehmenden grenzüberschreitenden, regionalen und globalen Auswirkungen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Handelns haben die grundsätzliche Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Weltgesellschaft aufgeworfen. Nachhaltige Entwicklung, die eben diese Zukunftsfähigkeit sichern soll, ist deshalb Leitbild und Aufgabe globaler Strukturpolitik, als deren Teil sich Entwicklungspolitik versteht und für die andere Politiken eine Mitverantwortung haben.
Diese Botschaft findet sich in der Millenniumserklärung, die anlässlich des Millenniumsgipfels der Vereinten Nationen im Jahr 2000 von 189 Staaten angenommen wurde. Sie sieht in der positiven Gestaltung der Globalisierung die zentrale Herausforderung der Staatengemeinschaft und hat dazu zahlreiche Ziele bekräftigt, die bereits früher im VN-Rahmen vereinbart wurden. Im Bereich Entwicklung sind dies die Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs), die sich auf die Erreichung messbarer Ergebnisse (darunter MDG 1: Halbierung der extremen Armut) bis 2015 beziehen. Die MDGs implizieren eine gemeinsame Verantwortung für Entwicklungs- und Industrieländer. Dazu gehört der Millenniumserklärung zufolge, die globalen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen der Entwicklungsländer gerecht werden, eine Aufgabe vor allem für die Industrieländer. 4
Aus dieser Perspektive beinhaltet der entwicklungspolitische Kohärenzanspruch nicht mehr allein die Vermeidung von Inkohärenzen nach dem Prinzip der Schadensbegrenzung, sondern die Berücksichtigung der genannten Entwicklungsziele auch durch andere Politiken. Wie groß der Kreis der betroffenen Politiken ist, hat die Europäische Union (EU) in der Gemeinsamen Erklärung des Ministerrates, des Europäischen Parlamentes und der Europäischen Kommission zur Entwicklungspolitik der Europäischen Union ("Europäischer Konsens") von November 2005 im Kapitel I.6 "Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung" zum Ausdruck gebracht, in der sie zwölf Politikfelder nennt. 5
Es gibt eine Reihe von Versuchen, die Kosten oder die Dimension von Politikinkohärenz zu quantifizieren. Dabei wird entweder der den Entwicklungsländern entgangene Nutzen (z.B. auf Grund von Lieferbindung oder unzureichender Importliberalisierung der Industrieländer) geschätzt, oder die Aufwendungen für eine als inkohärent eingestufte Politik (z.B. die Agrarsubventionen in den Geberländern) werden mit der Höhe der Entwicklungshilfeleistungen verglichen. Auch wenn Modellrechnungen etwa der Kosten unterlassener Handelsliberalisierung auf diskussionswürdigen Annahmen beruhen und daher mitunter zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, sind sie doch geeignet, dafür zu sensibilisieren, dass die Auswirkungen von Politikinkohärenz beachtliche Dimensionen annehmen können.
Einen anderen Ansatz stellt der vom Center for Global Development in Washington 2003 erstmals vorgestellte und seitdem jährlich veröffentlichte Index der Entwicklungsfreundlichkeit (Commitment to Development Index, CDI) von sieben Politiken in 21 Industrieländern dar. Die Ergebnisse des CDI 2007 sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Angesichts des Anspruchs, komplexe Politikfelder zu bewerten, aber auch wegen der Zuweisung von Rangplätzen hat der Index, wie nicht anders zu erwarten, kontroverse Diskussionen ausgelöst. Neben methodischen Einwänden gab es auch Vorbehalte von politischer Seite gegen seine Aussagekraft. Der CDI wurde jedoch inzwischen mehrfach verfeinert und stellt einen in dieser Art neuen und nützlichen Beitrag zur Kohärenzdebatte dar.
Deutschland rangiert in der Gesamtbewertung des CDI 2007 auf Platz 12, d.h. im Mittelfeld (unter den G 7-Staaten, d.h. den führenden Industrieländern, an dritter Stelle). Sein Punktwert (5,2) liegt knapp über dem Median, also auch hier im Mittelfeld, und hat sich gegenüber den früheren Jahren kaum verändert. Bemerkenswert ist der niedrige Wert für die EZ. Hier wirken sich insbesondere die niedrige EZ-Quote (Anteil der EZ-Leistungen am Bruttonationaleinkommen) von 0,23 % 6 sowie der relativ hohe Anteil der EZ mit weniger armen und weniger demokratischen Ländern aus. Deutlich besser schneidet Deutschland bei Investitionen sowie bei der Migration und Umwelt ab. Die Tabelle zeigt auch, dass ein Land wie Norwegen, das wegen seiner hohen EZ-Quote (2005 Rang 1 in der OECD) oft als entwicklungspolitisches Vorbild genannt wird, in seiner Politikgestaltung keineswegs immer entwicklungsfreundlich ist: Die norwegische Importpolitik zählt zu den protektionistischsten aller Geberländer.
Der entwicklungspolitische Kohärenzanspruch ist nicht nur ein Anliegen wohlmeinender Entwicklungspolitiker, sondern wiederholt von Staats- und Regierungschefs und auch von der Bundesregierung international wie national ausdrücklich anerkannt worden. Dies gilt zum einen für die Vereinten Nationen (z.B. Millenniumserklärung 2000; Entschließung der VN-Generalversammlung 2005 zur Überprüfung der Umsetzung der Millenniumserklärung), die OECD (z.B. mehrfache Erklärungen des OECD-Ministerrates) und die EU (z.B. Vertrag von Maastricht bzw. Amsterdam; der erwähnte "Europäische Konsens" von 2005).
Die Bundesregierung hat das entwicklungspolitische Kohärenzgebot aber nicht nur in den genannten internationalen Beschlüssen und Erklärungen, sondern auch auf nationaler Ebene anerkannt. Als Beispiele seien genannt: der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005, der Zwölfte Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung von 2005, die Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland von 2002 und das Aktionsprogramm 2015 (AP 2015) "Der Beitrag der Bundesregierung zur weltweiten Halbierung der Armut" von 2001.
Entwicklungspolitik versteht sich als Teil globaler Struktur- und Friedenspolitik, die auf globale Zukunftssicherung ausgerichtet ist. 7 Dieses Oberziel ist nach der Millenniumserklärung mehrdimensional: Es umfasst insbesondere (1) Frieden und Sicherheit, (2) Entwicklung und Armutsbekämpfung, (3) Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie (4) Menschenrechte, Demokratie und gute Regierungsführung. Entsprechend ist die Verfolgung des Oberziels eine Aufgabe nicht nur der Entwicklungspolitik, sondern auch der Sicherheitspolitik, der globalen Umweltpolitik sowie der Menschenrechtspolitik und Demokratieförderung. Entwicklungspolitik ordnet sich hier auf gleicher Ebene ein.
Aus dem gemeinsamen Oberziel der vier Politikbereiche ergeben sich wechselseitige Kohärenzansprüche. Entwicklungspolitik kann aus ihrem Verständnis des Oberziels, ihrem Beitrag zu dessen Erreichung und ihren Erfahrungen Kohärenzforderungen an die anderen drei Politikbereiche, etwa Sicherheitspolitik, stellen. Gleichzeitig muss sie sich hier aber auch den Kohärenzforderungen der anderen drei genannten Politikbereiche stellen. Dies erfordert eine Verständigung über die inhaltliche Konkretisierung des Oberziels.
Armutsbekämpfung als ein wesentliches Ziel der Entwicklungspolitik ist nicht oder nur eingeschränkt zu erreichen, wenn andere Politiken dem zuwiderlaufen. So wie Armut vielfältige Ursachen hat, können andere Politiken (z.B. Handels-, Agrar- oder Migrationspolitik) zur Verschärfung der Armut oder aber zu ihrer Verringerung beitragen. Andere Politiken haben demnach eine Mitverantwortung, aber auch ein Mitgestaltungspotenzial, die sich beide aus dem Oberziel der globalen Zukunftssicherung ergeben. Folglich hat die Bundesregierung im AP 2015 Armutsbekämpfung auch zu einer Querschnittsaufgabe aller Politiken erklärt.
Bedeutet dies, dass Entwicklungspolitik zum alleinigen Normgeber für alle anderen Politiken avanciert? Sicher nicht. Der entwicklungspolitische Kohärenzanspruch ist ernst zu nehmen, allerdings ist auch Folgendes zu beachten: - Da Entwicklungspolitik weder hinsichtlich des Oberziels globaler Zukunftssicherung noch hinsichtlich des Ziels der Armutsbekämpfung die alleinige Verantwortung trägt, hat sie auch nicht die alleinige konzeptionelle Zuständigkeit oder gar Definitionsmacht. Andere Politiken können und müssen entsprechend ihrer Mitverantwortung ebenfalls konzeptionelle Antworten geben. Allerdings hat Entwicklungspolitik auf Grund ihres expliziten Auftrags (Armutsbekämpfung und Mitwirkung an globaler Zukunftssicherung) sowie ihrer Erfahrungen eine besondere programmatische Rolle bei der Sensibilisierung anderer Politiken im Hinblick auf mehr entwicklungspolitische Kohärenz. - Entwicklungspolitik hat keineswegs bereits alle Antworten darauf, ob, wann und inwieweit andere Politiken entwicklungspolitisch kohärent sind. Dies ist wegen der teilweise hohen Komplexität von Kohärenzthemen nicht der Fall, bedeutet aber für Entwicklungspolitik die Aufgabe, die Auswirkungen anderer Politiken auf die Entwicklung in den Partnerländern und auf die globale Entwicklung sorgfältig zu analysieren, um gegebenenfalls von anderen Politiken mehr Kohärenz inhaltlich begründet fordern zu können. Dies ist mitunter eine schwierige Aufgabe.
Die Hauptursachen von Politikinkohärenzen sind: Politische Interessendivergenzen: Häufig ist Politikinkohärenz das Ergebnis divergierender politischer Interessen. Dabei ist Entwicklungspolitik im politischen Kräftespiel gegenüber anderen Politiken eher schwach, da sie keine mächtigen innenpolitischen Interessengruppen hinter sich hat. Mehr Politikkohärenz aus entwicklungspolitischer Sicht erfordert daher besondere Anstrengungen zur Mobilisierung öffentlicher Unterstützung. Unterschiedliche Zuständigkeiten auf nationaler und EU-Ebene: Die Situation wird dadurch noch komplizierter, dass einige Politiken wie die Außenhandels-, Agrar- und Fischereipolitik in die Zuständigkeit der EU fallen, d.h. von einem einzelnen EU-Mitgliedsland, das sich einer bestimmten Inkohärenz sehr wohl bewusst sein mag, nicht alleine korrigiert werden können. Die Forderung nach mehr Kohärenz bedeutet daher, dass die Regierungen der EU-Mitgliedsländer nicht nur ihre nationalen Politiken im Blick haben müssen, sondern auch EU-Politiken, für die sie mitverantwortlich sind. Defizite in der Organisation politischer Entscheidungsprozesse: Die Verfolgung einer kohärenten Gesamtpolitik ist im Prinzip die Aufgabe interministerieller Abstimmung unter der letzten Verantwortung der Regierungschefs. Die Verteilung von Kompetenzen, die Beteiligungsmöglichkeiten einzelner Ressorts und das Gewicht der Entwicklungspolitik in diesem Kontext können Politikkohärenz erleichtern oder erschweren. Informationsdefizite: Inkohärenzen wie die oben erwähnten mögen evident sein. Häufig sind aber die (Wechsel-)Wirkungen anderer Politiken auf den Entwicklungsprozess in den Partnerländern und auf globaler Ebene weniger offensichtlich und nur mit erheblichem Aufwand zu bestimmen. Wirkungsanalysen, Informationsbeschaffung und die systematische Nutzung vorhandener, aber oft verstreuter Informationen sind daher unabdingbar. Komplexität des Entwicklungsprozesses: Unabhängig von den Informationsdefiziten bleibt als prinzipielles Problem die Komplexität sozioökonomischer und politischer Entwicklung, die häufig nur partielle Erkenntnisse über Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge zulässt, insbesondere bei Prognosen. Mit der Halbierung der extremen Armut bis 2015 ist zwar ein klares und international akzeptiertes Ziel formuliert worden, und es liegen auch zahlreiche Erfahrungen im Hinblick aufArmutsbekämpfung vor; eine generelle Übereinstimmung hinsichtlich der erforderlichen Strategien gibt es deswegen aber nicht.
Die generelle Schlussfolgerung ist, dass vollständige Politikkohärenz weder theoretisch noch praktisch möglich ist. Ein realistisches und politisch angemessenes Ziel sollte daher sein, einerseits massive Inkohärenzen zu überwinden und andererseits Kohärenz im Sinne von Synergien schrittweise zu verbessern.
Im Vordergrund der entwicklungspolitischen Kohärenzdebatte stehen seit langem die Auswirkungen einzelner inkohärenter Politiken. Demgegenüber ist die generelle Frage nach Wegen zur Verbesserung der Kohärenz erst in den letzten Jahren ausführlicher erörtert worden. Vergleichenden Studien 8 zufolge sind für Verbesserung der Politikkohärenz folgende Aspekte wichtig: Politisches Engagement des für Entwicklungspolitik zuständigen Regierungsmitglieds. Erleichtert wird dies, wenn Entwicklungspolitik Kabinettsrang hat, d.h. mit einer eigenen Ministerin bzw. einem eigenen Minister in der Regierung vertreten ist. Strategiekompetenz: Das politische Engagement für mehr Kohärenz muss durch eine klare entwicklungspolitische Strategie konzeptionell untermauert werden. Systematische Analysen: Mehr entwicklungspolitische Kohärenz sowohl einzufordern als auch zu fördern setzt sorgfältige Beobachtung und Analysen der Entwicklungswirkungen anderer Politiken voraus; dazu bedarf es mitunter umfangreicher Forschungstätigkeit. Proaktive Kohärenzarbeit der für Entwicklungspolitik zuständigen Ministerien bzw. Regierungsstellen: Führung eines kohärenzbezogenen Dialogs mit anderen Ministerien mit dem Ziel der Sensibilisierung, der gemeinsamen Analyse von Inkohärenzen und möglichst der Erarbeitung kohärenzfördernder Positionen. Intensive Informationsarbeit gegenüber Parlament, Interessengruppen, Nichtregierungsorganisationen, Medien und Öffentlichkeit sowie Werbung für politische Unterstützung zugunsten von mehr Kohärenz.
1 Vgl.
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (BMZ), Zwölfter Bericht zur Entwicklungspolitik
der Bundesregierung, Bonn 2005, S. IX.
2 Der Grund ist, dass dazu der
Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung neu geregelt werden
muss, weil die VN-Konvention hier strenger ist als das deutsche
Strafgesetzbuch. Transparency International (Deutschland) und die
Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen haben
wiederholt die gesetzliche Neuregelung und die Ratifizierung der
VN-Konvention angemahnt.
3 Amtseid jedes Bundesministers nach
Art. 64 und 56 des Grundgesetzes.
4 MDG 8 "Bildung einer globalen
Entwicklungspartnerschaft" ist spezifischer und verlangt u.a.
besseren Marktzugang für Agrar- und Industriegüterexporte
der Entwicklungsländer in den Industrieländern, d.h. eine
entwicklungspolitisch kohärentere Handels- und
Agrarpolitik.
5 (i) Handel, (ii) Umwelt, (iii)
Klimawandel, (iv) Sicherheit, (v) Landwirtschaft, (vi) Fischerei,
(vii) soziale Dimension der Globalisierung, Beschäftigung und
menschenwürdige Arbeit, (viii) Migration, (ix) Forschung und
Innovation, (x) Informationsgesellschaft, (xi) Verkehr, (xii)
Energie.
6 Referenzjahr ist 2005. Diese für
den CDI 2007 berechnete Quote enthält die in den
Erläuterungen zur folgenden Tabelle genannten Bereinigungen
und weicht daher von der offiziellen EZ-Quote (0,36 %) ab.
7 Vgl. BMZ (Anm. 1), S. 19 sowie I -
II.
8 Vgl. u.a. OECD, Policy Coherence for
Development. Promoting Institutional Good Practice, Paris 2005;
Guido Ashoff, Der entwicklungspolitische Kohärenzanspruch:
Begründung, Anerkennung und Wege zu seiner Umsetzung, Bonn
2006.