HIV/AIDS ist insbesondere ein Problem in Entwicklungsländern. In vielen afrikanischen Ländern zählt HIV/AIDS mittlerweile zu den häufigsten Todesursachen. Seit kurzer Zeit wird auch in vielen osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern ein enormer Anstieg von HIV-Infektionen beobachtet, so dass auch dort mit erheblicher AIDS-bedingter Sterblichkeit zu rechnen ist. Die damit verbundenen demografischen Veränderungen lassen vermuten, dass HIV/AIDS auch zu großen wirtschaftlichen Problemen führen könnte. Dies liegt deshalb nahe, weil HIV/AIDS in erster Linie Erwachsene im erwerbsfähigen Alter trifft.
Im Jahre 2001 hat das United Nations Development Program (UNDP) davor gewarnt, dass die HIV/AIDS-Epidemie zum größten Hindernis ökonomischen Fortschritts im Afrika südlich der Sahara werden könnte. Schwerwiegende gesamtwirtschaftliche Konsequenzen sind zumindest bisher nicht zu beobachten. Die meisten wissenschaftlichen Studien kommen eher zu dem Ergebnis, dass selbst in den besonders stark betroffenen Volkswirtschaften im südlichen Afrika mit einer Reduzierung des Wirtschaftswachstums von maximal ein bis zwei Prozentpunkten pro Jahr gerechnet werden muss. Dies ist zwar nicht unerheblich, aber bei Wachstumsraten von fünf bis sechs Prozent weit entfernt von dem, was man gemeinhin eine ökonomische Katastrophe nennen würde. Dieser Beitrag soll zeigen, wie sich dieser doch eher moderate Einfluss ökonomisch erklären lässt. Er wird aber auch zeigen, dass alternative Indikatoren, die beispielsweise den Verlust an Leben in das ökonomische Kalkül mit einbeziehen, zu anderen Ergebnissen führen. Ich widme mich ausschließlich den wirtschaftlichen Konsequenzen der HIV/AIDS-Epidemie. Die humanitären Konsequenzen dieser Epidemie sind ohne Zweifel furchtbar und können nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse sein.
Auf der Haushaltsebene kommt es nach Ausbruch von AIDS - d.h. in Afrika, so die Schätzungen der WHO, im Durchschnitt acht Jahre nach der Infektion mit dem Virus - zunächst zu einem erhöhten Aufwand in Form von Zeit für Pflege sowie Ausgaben für medizinische Betreuung und Medikamente. Effektiv wirkende Medikamente sind den meisten Menschen in denen durch AIDS betroffenen armen Ländern allerdings nicht zugänglich. Der zeitliche Aufwand für die Pflege kann dazu führen, dass nicht nur die durch AIDS betroffene Person ihr Arbeitsangebot reduzieren muss bzw. eine geringere Produktivität aufweist, sondern auch die betreuenden Familienangehörigen, die die Pflege leisten. Die erhöhten Ausgaben für Pflege und Medikamente führen dazu, dass die Ausgaben für andere Güter wie beispielsweise Kleidung oder noch fundamentalere Dinge wie Nahrungsmittel, Schulbildung sowie ärztliche Versorgung von Kindern reduziert werden müssen. Letzteres kann insbesondere langfristig zu schwerwiegenden Konsequenzen führen. Im Kindesalter erlittene Defizite in der Ernährung, der medizinischen Versorgung und Schulbildung können später oft nicht mehr aufgeholt werden. In landwirtschaftlichen Haushalten können die erhöhten Ausgaben auch dazu führen, dass der Anbau von einfachen Getreidesorten, die entweder selbst konsumiert oder lediglich lokal getauscht werden, durch monetär handelbare Produkte wie Kaffee oder Kakao substituiert werden, um an Bargeld zu gelangen. Auch dies kann die Ernährungssituation eines Haushaltes erheblich belasten.
Stirbt eine durch AIDS betroffene Person, sind zu dem Bestattungekosten zu zahlen. Auch diese können je nach Kulturkreis eine hohe finanzielle Belastung für Haushalte darstellen. Allerdings, und dies wird oft übersehen, führt der Sterbefall auch zu einer Entlastung auf der Ausgabenseite sowohl hinsichtlich der alltäglichen Aufwendungen als auch hinsichtlich derjenigen für die medizinische Betreuung. Rein ökonomisch gesehen ist der Effekt, der direkt von der Sterblichkeit ausgeht also nur dann nachhaltig negativ, wenn das erwirtschaftete Einkommen des oder der Verstorbenen größer war als der von ihm oder ihr auf der Ausgabenseite zu verbuchende anteilige Verbrauch.
Größere Unternehmen und weite Teile des öffentlichen Sektors, die über qualifiziertes Fachpersonal verfügen, das unter Umständen auch im eigenen Unternehmen ausgebildet wurde, leiden unter einer geringeren Produktivität ihrer durch AIDS betroffenen Mitarbeiter. Zusätzlich werden sie durch Lohnersatzzahlungen und einer Beteiligung an den Beerdingungskosten belastet. Weiter müssen sie die Kosten der Suche und Ausbildung neuer Mitarbeiter tragen. Einige internationale Firmen, die in stark durch AIDS betroffenen Ländern tätig sind, wie beispielsweise Volkswagen und DaimlerBenz in Südafrika, investieren mittlerweile nach eigenen Angaben beachtliche Summen in die Prävention bzw. in die Betreuung ihrer durch AIDS betroffenen Mitarbeiter. In kleinen Unternehmen des informellen Sektors (Schattenwirtschaft), die in den meisten Entwicklungsländern bei weitem dominieren, sind die Probleme als weitaus geringer einzuschätzen. Arbeitnehmerversicherungen sind hier in der Regel nicht vorhanden, und die Qualifizierung der meisten Mitarbeiter ist so gering, dass der Ersatz aufgrund des enormen Angebots nur geringe ökonomische Auswirkungen hat.
Besondere Belastungen werden häufig im Bereich des öffentlichen Schulwesens vermutet. Erstens gelten in vielen durch AIDS betroffenen Ländern Lehrer als eine der wichtigsten Risikogruppen aufgrund ihrer oft sehr hohen räumlichen Mobilität und ihres in der Regel etwas überdurchschnittlichen Einkommens. Zweitens erfordert die Ausbildung neuer Lehrer relativ hohe finanzielle Ressourcen und Zeit. Das heißt, Investition in das Humankapital zukünftiger Generationen ist nicht nur auf der Ebene der Haushalte, das heißt von der Nachfrageseite her gefährdet, sondern auch von der Angebotsseite.
Auf der Ebene des öffentlichen Haushalts entstehen insbesondere dann erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, wenn die Ausgaben für Gesundheit steigen und dafür andere Ausgaben wie im Bildungssektor oder Investitionen in Infrastruktur zurückgenommen werden müssen. Unter Umständen wird der Effekt zudem durch eine simultane Schrumpfung der Steuerbasis verstärkt. Die Wachstumsaussichten einer Volkswirtschaft könnten dadurch dauerhaft gedämpft sein. Allerdings sind solche Effekte nur dann quantitativ bedeutsam, wenn ein Staat erheblich in produktive Sektoren investiert, sich massiv im Kampf gegen AIDS beteiligt, und dies nicht durch zusätzliche internationale Hilfe kompensiert wird. Nur wenige Entwicklungsländer erfüllen alle drei Bedingungen.
Auf makroökonomischer Ebene könnte HIV/AIDS neben dem schon erwähnten negativen Effekt auf Investitionen zu einer massiven Zerstörung von Humankapital, zu einem signifikanten Ungleichgewicht in der Bevölkerungsstruktur sowie einer deutlichen Reduzierung des Bevölkerungswachstums beitragen. Darüber hinaus wird aktuell viel darüber spekuliert, ob der massive Zufluss von Entwicklungshilfe zum Kampf gegen AIDS zu so genannten "Dutch-Disease-Effekten" 1 führen kann. Die meisten Experten schätzen diese Gefahr allerdings als relativ gering ein.
Die empirische Messung der volkswirtschaftlichen Konsequenzen von HIV/AIDS über die oben beschriebenen Wirkungskanäle ist in der Regel mit großen Schwierigkeiten verbunden. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften hat man es in den Wirtschaftswissenschaften nicht mit kontrollierten Experimenten zu tun. Eine Beobachtung der Auswirkungen von HIV/AIDS unter Konstanthaltung aller anderen Größen ist nicht möglich. Die entscheidende Frage ist demnach: Welche anderen Dinge haben sich ebenfalls verändert und könnten diese für einen Teil der vielleicht fälschlicherweise der HIV/AIDS-Epidemie zugeschriebenen Effekte verantwortlich sein? Die folgende Abbildung illustriert den Sachverhalt für Südafrika. Sie zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes (linke Skala) und die der AIDS bedingten Sterbefälle (rechte Skala). Die Reihen weisen eine recht deutliche positive Korrelation auf. Daraus aber zu schließen, dass hier ein kausaler Zusammenhang besteht, wäre Unsinn. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie kann ein adäquates Alternativszenario konstruiert werden? Das heißt, wie wäre die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in Südafrika ohne die HIV/AIDS-Epidemie gewesen?
Die unter Wissenschaftlern am häufigsten verwendete Methode, um die makroökonomischen Konsequenzen der HIV/AIDS-Epidemie quantitativ zu erfassen, ist die Simulation. Das heißt, es wird ein Alternativzustand simuliert, in dem man beispielsweise das Arbeitsangebot reduziert, die Gesundheitsausgaben erhöht und die Investitionen verringert. Schließlich werden die resultierenden Schlüsselvariablen wie Wirtschaftswachstum und Beschäftigung dieses Alternativzustandes mit dem des Ist-Zustandes verglichen. Vorteil dieser Methode ist, dass es zumindest theoretisch möglich ist, den Einfluss einer Änderung, z.B. einer Erhöhung der Sterblichkeit, isoliert zu betrachten. Nachteil dieser Methode ist, dass sehr viele Annahmen getroffen werden müssen. Wie verändert sich das Arbeitsangebot nach Bildungsgruppen? Wie stark beeinträchtigt AIDS die Arbeitsproduktivität? Was passiert mit der Spar- und Investitionsquote? Hierüber weiß man bisher nur sehr wenig. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass es sehr große Unterschiede von Land zu Land gibt. Entsprechend sind natürlich die Ergebnisse der Simulationsmodelle mit großer Unsicherheit behaftet.
Hinzu kommt, dass HIV/AIDS ein dynamisches Phänomen ist. Eine HIV-Infektion führt, wie oben erwähnt, in Afrika nach durchschnittlich acht Jahren zur Erkrankung und nach zehn Jahren zum Tod. In dieser Zeit besteht das Risiko, dass eine infizierte Person weitere Personen ansteckt. Je mehr sexuelle Partner die infizierte Person aufweist und je größer der Altersunterschied zwischen den Paaren, desto schneller kann sich die Epidemie in einer Bevölkerung ausbreiten. In dieser Zeit interagiert die Epidemie aber auch mit anderen demografischen Variablen. Beispielsweise haben HIV-infizierte Frauen eine biologisch geringere Fruchtbarkeit. Das heißt, das Bevölkerungswachstum geht unter Umständen nicht nur aufgrund der höheren Sterblichkeit, sondern auch aufgrund einer niedrigeren Geburtenhäufigkeit zurück. Daraus folgt: Möchte man die mittel- und langfristigen Konsequenzen der HIV/AIDS-Epidemie abschätzen, müssen hierüber ebenfalls Annahmen getroffen werden.
Hinsichtlich der mikroökonomischen Konsequenzen sieht die Lage kaum besser aus. Im Idealfall brauchte der Ökonom wie im medizinischen Experiment eine so genannte Behandlungsgruppe, d.h. Personen, die mit HIV/AIDS infiziert sind, und eine so genannte Kontrollgruppe, d.h. Personen, die nicht betroffen sind. Die "behandelten" Personen müssten dabei eine Zufallsstichprobe aller Personen sein. Aus ethischen Gründen ist es natürlich absolut undenkbar, solche Daten zu generieren. Deshalb behilft man sich in der Regel mit einfachen Haushaltsbefragungen, in denen man, neben der Haushaltsstruktur, der Bildung, der Beschäftigung, der landwirtschaftlichen Produktion, dem Einkommen und dem Vermögen auch nach einer möglichen HIV-Infektion oder AIDS-Erkrankung fragt. In manchen Befragungen ist es mittlerweile sogar möglich, die Personen einem freiwilligen AIDS-Test zu unterziehen. Aber die Betroffenen wissen oft selbst nicht, ob sie mit HIV/AIDS infiziert sind bzw. die Gruppe, die sich bereit erklärt, an einem Test mitzumachen, ist in der Regel nicht repräsentativ für die gesamte Gruppe aller Personen. Selbst wenn Gewissheit über den HIV/AIDS-Status besteht, ist es schwierig, Ursache und Wirkung zu ermitteln. Wenn beispielsweise Angehörige armer Haushalte eine höhere Wahrscheinlichkeit haben sich mit HIV zu infizieren und ihre Kinder seltener in die Schule schicken, könnte man zu dem Schluss kommen, dass HIV/AIDS einen negativen Einfluss auf das Einkommen und die Bildungsinvestitionen der Kinder hat. In Wahrheit sind aber ärmere Haushalte stärker von AIDS betroffen und schicken ihre Kinder generell, aufgrund des niedrigen Einkommens, seltener in die Schule. Das heißt, die Gruppe der von HIV/AIDS betroffenen Haushalte ist keine Zufallsstichprobe aller Haushalte.
Simulationsstudien des oben erläuterten Typs, welche versuchen, die volkswirtschaftlichen Konsequenzen der HIV/AIDS-Epidemie in mittlerer Frist zu quantifizieren, kommen in der Regel zu dem Ergebnis, dass in den von HIV/AIDS stark betroffenen Ländern im südlichen Afrika das Wachstum über die nächsten 10 bis 15 Jahre jährlich um ein bis zwei Prozentpunkte zurückgehen wird. Dieser negative Wachstumseffekt ist in der Regel in erster Linie auf den Rückgang des Arbeitsangebotes, auf eine Verminderung des durchschnittlichen Humankapitals und damit der Arbeitsproduktivität und schließlich eine Reduzierung der volkswirtschaftlichen Ersparnis und der Investitionen zurückzuführen. Diese Effekte werden allerdings durch einen simultanen Rückgang des Bevölkerungswachstums und, sofern die Annahme einer offenen Volkswirtschaft getroffen wird, von einem Zufluss ausländischen Kapitals zumindest teilweise konterkariert. Beides führt zu einem Anstieg des Kapitals pro Kopf. Die kritischen Prämissen in einem solchen Modell betreffen die Annahmen, wie die unterschiedlichen Bildungsschichten der aktiven Bevölkerung durch HIV/AIDS betroffen sind und inwieweit es wirklich zu einem Rückgang der Ersparnis und der Investitionen kommt. Über beide Aspekte gibt es allerdings nur sehr vage empirische Erkenntnisse. Einige mikroökonomische Studien suggerieren, dass es bei geringer HIV-Prävalenzrate zunächst die gebildeten Schichten sind, die überproportional von HIV/AIDS betroffen sind. Grund hierfür könnte sein, dass sowohl Bildung als auch das Risiko einer HIV-Infektion mit dem Einkommen und der räumlichen Mobilität positiv korreliert sind. Allerdings betonen einige dieser Studien, dass höhere Bildungsschichten auch am schnellsten lernen und ihr Verhalten entsprechend anpassen. Das heißt, bei anhaltender Epidemie und steigenden Prävalenzraten verschwindet die überproportionale Präsenz hoher Bildungsgruppen unter den Betroffenen, so dass die Effekte auf das durchschnittliche Humankapital der Beschäftigten kleiner ausfallen.
Wie sind ein bis zwei Prozentpunkte Wachstumsverlust einzuschätzen? Gemessen am bisher doch eher moderaten Wachstum afrikanischer Volkswirtschaften im Vergleich zu aufstrebenden Volkswirtschaften in Süd-Ostasien sind ein bis zwei Prozentpunkte natürlich nicht unerheblich. Es ist auch unbestritten, dass eine nachhaltige Armutsreduzierung nur durch anhaltendes und kräftiges Wirtschaftswachstum erreicht werden kann. Aber Modellrechungen zeigen auch, dass die Ungleichheit entscheidenden Einfluss darauf hat, inwiefern Wirtschaftswachstum Armutsreduzierung herbeiführen kann. Bei hoher Ungleichheit kommt das Wirtschaftswachstum der armen Bevölkerung nur unterproportional zugute. Das heißt, der Entwicklung der Ungleichheit im Zuge der HIV/AIDS-Epidemie kommt eine große Bedeutung zu.
Einschlägige Studien zu den Wachstumseffekten der HIV/AIDS-Epidemie kommen jedoch zu anderen Ergebnissen, wenn sie einen längeren Zeitraum betrachten und entsprechend die dauerhaften Effekte auf die Akkumulation von Bildungskapital mitberücksichtigen. Die Studie des Heidelberger Ökonomen Clive Bell (und Koautoren) 2 betont insbesondere drei Mechanismen, über die die Akkumulation von Bildung gehemmt werden kann. Erstens, durch AIDS verursachte Einkommensrückgänge erschweren es den Eltern, adäquat in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. Zweitens, durch AIDS verursachte Sterblichkeit führt zu einer verminderten Wissensweitergabe der Eltern an ihre Kinder. Drittens, in Erwartung einer niedrigen Lebenserwartung, erscheinen Bildungsinvestitionen weniger rentabel, weil die zu erwartende Nutzungsperiode der Investition geringer ausfällt. Für Südafrika finden die Autoren unter Berücksichtigung dieser drei Effekte einen substantiellen Rückgang des Bildungskapitals über die folgenden zwei bis drei Generationen. Dieser Rückgang an Bildungskapital führt dazu, dass im Jahre 2080 das durchschnittliche Bildungskapital pro Kopf auf ein Niveau reduziert wird, welches unter dem von 1960 liegt. Dies würde, so die Autoren weiter, zum Kollaps der südafrikanischen Wirtschaft führen. Allerdings lassen sich auch hier wieder Studien finden, die radikal gegenläufige Ergebnisse präsentieren. Der Chicago-Ökonom Alwyn Young behauptet, dass die negativen Effekte durch einen Anstieg der Bildungsrendite und einen Rückgang der Geburten überkompensiert werden. 3 Das theoretische und empirische Fundament dieser Analyse ist allerdings unter Ökonomien sehr umstritten.
Der sicher offensichtlichste mikroökonomische Einfluss von HIV/AIDS ist die Beeinträchtigung der individuellen Produktivität. Eine Studie unter an AIDS erkrankten kenianischen Teepflückern und einer gesunden (nicht zwangsläufig repräsentativen) Kontrollgruppe zeigt, dass die Produktivität erkrankter Personen um ca. 17 Prozent niedriger liegt als die der gesunden Personen. 4 Hier muss allerdings wieder betont werden, dass in Afrika die AIDS-Erkrankung erst nach einer im Durchschnitt achtjährigen Inkubationszeit eintritt. Während dieser ist die körperliche Leistungsfähigkeit nahezu unbeeinträchtigt.
Statistisch verlässliche Studien, die sich mit den Konsequenzen auf der Ebene der Haushalte beschäftigen, sind selten. Am Beispiel einiger Regionen in Nigeria konnte der Harvard-Ökonom David Canning (und Koautoren) mit Hilfe so genannter Matching Modelle - hier werden Haushalte verglichen, die sich in ihren Eigenschaften sehr ähneln, sich aber im AIDS-Status unterscheiden - zeigen, dass in betroffenen Haushalten die Ausgaben für Pflege und medizinische Behandlung sich im Durchschnitt verdoppeln und fast 35 Prozent des Haushaltseinkommens erreichen. 5 Zusätzlich müssen die Haushaltsmitglieder erhebliche Zeit für die Pflege der erkrankten Personen aufwenden, die nicht anderweitig produktiv eingesetzt werden kann. Besonders schwerwiegend sind die Konsequenzen, wenn die erkrankte Person der Hauptverdiener im Haushalt ist, da es dann kaum möglich ist, die erhöhten Ausgaben zu kompensieren.
Der Tod der erkrankten Person bedeutet dann rein ökonomisch gesehen zunächst mal eine Erleichterung auf der Ausgabenseite, wenn auch Beerdingungskosten je nach religiösem Kontext eine wichtige Rolle spielen können. Dementsprechend zeigt die Weltbankforscherin Kathleen Beegle (und Koautoren) mit Hilfe von Längsschnittdaten - hier werden Haushalte über die Zeit beobachtet -, dass die ökonomischen Konsequenzen zwar für die betroffenen Haushalte negativ sind, aber nach einer Dauer von ungefähr zehn Jahren keine signifikanten Unterschiede mehr im ökonomischen Status zwischen betroffenen und nicht betroffenen Haushalten festgestellt werden können. 6
Der bereits oben diskutierte negative Effekt von HIV/AIDS auf Investitionen in Bildung und Gesundheit der Kindergeneration kann empirisch bestätigt werden. Studien, die auf Längsschnittdaten basieren und damit in der Lage sind, kausale Effekte aufzuzeigen, belegen in der Tat einen negativen und signifikanten Effekt auf die Einschulungsraten von AIDS-Halb- und Vollwaisen. In einer weiteren Studie haben Beegle und Koautoren gezeigt, dass diese Effekte auch permanente Wirkung haben können. Erwachsene in Tansania, die als Waisen aufgewachsen sind, haben im Vergleich zu Nicht-Waisen, so die Studie, eine durchschnittlich geringere Körpergröße (ernährungsbedingt), eine geringere Schulbildung und ein geringeres Einkommen. 7
Für die Veränderung der Einkommensverteilung ist es entscheidend, in welchem Segment der Verteilung sich die von HIV/AIDS betroffenen Haushalte befinden. Liegen diese eher im oberen Teil, wäre zu erwarten, dass die Ungleichheit zurückgeht und die Armut aufgrund des durch die gesamtwirtschaftlichen Veränderungen leicht gesunkenen Durchschnittseinkommens leicht ansteigt. Sind dagegen eher die ärmeren Haushalte betroffen, kann der Effekt auf die Armut erheblich stärker sein und könnte gar die Anstrengungen im Rahmen der Jahrhundertentwicklungsziele zur Halbierung der Armut zwischen 1990 und 2015 konterkarieren. Bei einer gleichmäßigen Verteilung der HIV/AIDS-Epidemie über die verschiedenen Einkommensgruppen ist es wahrscheinlich, dass die Einkommensverteilung nur unwesentlich berührt wird und die Armut entsprechend der makroökonomischen Wirkungen nur leicht ansteigt.
Da HIV/AIDS von Land zu Land sehr unterschiedlich über die Bevölkerung verteilt ist, sind auch die empirischen Ergebnisse zu den Verteilungswirkungen stark vom Länderkontext abhängig. Simulationen für die Elfenbeinküste zeigen so gut wie keine Änderung in der Ungleichheit und der Armutsquote. 8 Dies lässt sich zum einen damit erklären, dass dort nicht die ärmsten der Armen, sondern eher die untere Mittelschicht von HIV/AIDS betroffen ist und dass viele Betroffene der Gruppe der Erwerbslosen und Nebenverdiener zuzurechnen sind, so dass das Haushaltseinkommen in den betroffenen Haushalten oft nur schwach, unter Umständen sogar positiv und nicht negativ berührt wird. Andere Studien schätzen beispielsweise für die Länder Ghana und Kenia auch nur moderate Erhöhungen der Armutsquote von ca. 0 - 2,8 Prozentpunkten. Für die stark von HIV/AIDS betroffenen Länder Swasiland und Sambia ergeben sich aufgrund der höheren Prävalenzraten Erhöhungen der Armutsquoten von vier bis acht Prozentpunkten. 9 Wenn auch die jeweils verwendeten Methoden zur Abschätzung dieser Effekte nicht vollständig vergleichbar sind, zeigen sie doch das ungefähre Ausmaß der Verteilungs- und Armutseffekte. Die Größenordungen situieren sich damit in einem Bereich, der in einigen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern mit strukturellen Anpassungsprogrammen in Verbindung gebracht wurde. Sie liegen aber erheblich unter denen, die in einigen südostasiatischen und lateinamerikanischen Ländern mit den schweren Währungskrisen in Verbindung gebracht wurden.
Mehr oder weniger alle oben verwendeten Indikatoren messen in irgendeiner Art und Weise Einkommensgrößen pro Kopf. Das heißt, sie beschränken sich auf die Messung monetärer Wohlfahrt und messen der Bevölkerungsgröße an sich keinen Wert bei. Im Gegenteil, stirbt eine Person, welche ein unterdurchschnittliches Einkommen bezieht, so steigt sogar die durchschnittliche Wohlfahrt. Dies wirft die berechtigte Frage auf, ob die üblicherweise verwendeten Messmethoden zur Beurteilung der ökonomischen Konsequenzen der HIV/AIDS-Epidemie nicht ungeeignet sind. Sollte nicht zumindest der Verlust an Leben in irgendeiner Weise in das verwendete Wohlfahrtsmaß eingehen? Der von den Vereinten Nationen jedes Jahr veröffentlichte Human Development Index (HDI) tut dies, wenn auch in recht rudimentärer Weise. Der HDI ist ein ungewichteter Mittelwert aus einem Lebenserwartungs-, Bildungs- und Einkommensindex. Norwegen erreicht seit einigen Jahren hier stets den höchsten Indexwert und das afrikanische Niger den niedrigsten. 10 Für die stark von HIV/AIDS betroffenen Länder weist der Index in der Tat, aufgrund des massiven Rückgangs der Lebenserwartung, einen Verlust auf. In Südafrika beispielsweise ist der Human Development Index zwischen 1990 und 2006 um 8,2 Punkte gefallen.
Damit ist Südafrika im Ranking aller Länder von der Position 85 auf 121 gefallen. 11 Simbabwe ist von Platz 121 auf Platz 151 zurückgefallen, ebenfalls in erster Linie aufgrund des massiven Rückgangs der Lebenserwartung. Insofern ist der HDI besser geeignet, die sozioökonomischen Konsequenzen aufzuzeigen als die einfache Betrachtung des BIP. Eine andere Alternative ist die Berechung von durchschnittlichen Lebenseinkommen anstatt von durchschnittlichen Jahreseinkommen. Werden nämlich durchschnittliche Lebenseinkommen betrachtet, würde ein durch AIDS bedingter Rückgang der Lebenserwartung ceteris paribus zu einem Rückgang des Einkommens führen. Simulationen für Südafrika zeigen, dass unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Effekte HIV/AIDS in der Tat zu einem Anstieg des durchschnittlichen Jahreseinkommens führt, aber zu einem deutlichen Rückgang des durchschnittlichen Lebenseinkommens. 12
Resümierend kann festgehalten werden, dass selbst das Fehlen von unter Umständen substantiellen ökonomischen Konsequenzen nicht Anlass sein kann, die internationale Hilfe im Kampf gegen HIV/AIDS einzuschränken. Das Ausmaß der humanitären Katastrophe, rund 40 Millionen infizierte Personen weltweit, davon alleine rund 25 Millionen in Afrika südlich der Sahara, knapp drei Millionen durch AIDS bedingte Todesfälle im vergangen Jahr und ungefähre 15 Millionen Kinder, die durch AIDS zu Waisen geworden sind, sollten ausreichen, um die internationale Staatengemeinschaft und insbesondere die Regierungen der reichen und der betroffenen Länder dazu zu bewegen, alles nur Erdenkliche zu tun, um diesem Leid ein Ende zu setzen. Dazu zählt die Prävention ebenso wie die Behandlung bereits infizierter Personen. Dabei sollte aber nicht der Fehler begangen werden, den Kampf gegen AIDS isoliert von den übrigen Problemen zu betrachten oder gar die übrigen Entwicklungsziele zu vernachlässigen. Ein effizienter Kampf gegen HIV/AIDS in armen Ländern muss die finanziellen Mittel in die allgemeine Entwicklungsstrategie einbetten. Eine Prioritätensetzung nur auf das Ziel der AIDS-Prävention und Behandlung wäre mittel- bis langfristig sicher nicht von Erfolg gekrönt.
1 Als "Dutch
Disease" wird ein Anstieg der Einkommen in diesem Fall durch
einströmende Entwicklungshilfe verstanden, der zur Aufwertung
der inländischen Währung und schließlich zur
Deindustrialisierung führt.
2 Vgl. C. Bell/S. Devarajan/H. Gersbach,
The Long-Run Economic Costs of AIDS, in: The World Bank Economic
Review, 20 (2006) 1, S. 55 - 90.
3 Vgl. A. Young, The Gift of the Dying:
The Tragedy of AIDS and the Welfare of Future African Generations,
in: Quarterly Journal of Economics, 120 (2005) 2, S. 423 -
465.
4 Vgl. M. Fox/S. Rosen/W. MacLeo et al.,
The Impact of HIV/AIDS on Labor Productivity in Kenya, in: Tropical
Medicine and International Health, 9 (2004) 3, S. 318 - 324.
5 Vgl. D. Canning/A. Mahal/K. Odumosu/P.
OkonkwoZhiwei, Assessing the Economic Impact of HIV/AIDS on
Nigerian Households, PGDA Working Papers Nr. 1606, Harvard
University 2006.
6 Vgl. K. Beegle/J. de Weerdt/S. Dercon,
Adult Mortality and Economic Growth in the Age of HIV/AIDS, in:
Economic Development and Cultural Change, (i.E.).
7 Vgl. Dies., The Long-run Impact of
Orphanhood. World Bank Policy Research Paper 4353, World Bank,
Washington, D.C. 2007.
8 Vgl. D. Cogneau/M. Grimm, The impact
of AIDS mortality on the distribution of income in Côte
d'Ivoire, in: Journal of African Economies, (i.E.).
9 Vgl. G. Salinas/M. Hacker, HIV/AIDS:
The impact on poverty and inequality. IMF Working Paper WP/06/126,
Washington, D.C. 2006.
10 Vgl. UNDP, Human Development Report
2006, New York 2007.
11 Allerdings ist die Anzahl der
Länder, für die der HDI erfasst, wird auch in der Zeit
gestiegen, so dass der tatsächliche Rückfall etwas
überzeichnet wird.
12 Vgl. M. Grimm/K. Harttgen, Longer
Life. Higher Welfare?, in: Oxford Economic Papers,
(i.E.).