DAs Elend der Slums
Die städtische Armut wächst bedrohlich. Gegenkonzepte fehlen.
Irgendwann im nächsten oder übernächsten Jahr werden mehr Menschen auf der Welt in Städten als auf dem Land leben. Aus deutscher Perspektive findet man diese Tatsache wahrscheinlich beachtlich. Aber man erschrickt nicht unbedingt. Erschrecken wird man dann, wenn man sich das tatsächliche Ausmaß dieses Prozesses im globalen Zusammenhang vor Augen führt. Dabei "helfen" die Zahlen- kolonnen, mit denen der amerikanische Soziologe Mike Davis seine neueste Untersuchung über die Zukunft der Städte unterfüttert. Schon nach der Lektüre der ersten Seiten bestätigt sich sein Befund, dass es sich wirklich um einen "Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte" handelt.
Seit 1950 haben die Städte fast zwei Drittel des weltweiten Bevölkerungswachstums absorbiert. Das heißt, dass das künftige Wachstum der Weltbevölkerung (derzeit 6,6 Milliarden) sich nahezu ausschließlich auf die Städte konzentrieren wird. Schätzungen gehen von 10 Milliarden Menschen im Jahr 2050 aus. 95 Prozent dieses Zuwachses werden auf die städtischen Gebiete der Entwicklungsländer entfallen. Innerhalb dieser Städte sind es wiederum die Slums, die den Zuwachs an Menschen fast vollständig aufsaugen: Die Bevölkerung der illegalen Siedlungen im pakistanischen Karatschi verdoppelt sich alle zehn Jahre. Von 500.000 Menschen, die jährlich nach Delhi ziehen, enden 400.000 in Slums. Im Jahr 2015 wird, so schätzen Experten, die indische Hauptstadt eine Slumbevölkerung von 10 Millionen Menschen haben. In Afrika ist die Situation noch extremer: Zwischen 1989 und 1999 wurden 85 Prozent des kenianischen Bevölkerungswachstums von den übervölkerten Slums Nairobis und Mombasas aufgesogen. Im Jahr 2015 werden in Schwarzafrika über 300 Millionen Menschen in Slums leben - auf engstem Raum, ohne Zugang zu öffentlicher Infrastruktur wie Wasserversorgung und ohne Aussicht auf eine reguläre Beschäftigung.
Solche zahlenstarken Beispiele benutzt Mike Davis, um die Dimension des Problems begreiflich zu machen. Dennoch bleibt "Planet der Slums" vor allem eine strukturell-politische Analyse dieser sich dem westlichen Blick meist entziehenden Armensiedlungen. Indem er den Vergleich zu den europäischen Slums des 19. Jahrhunderts bemüht, kristallisiert er die Besonderheit der Slums von heute und damit ihre Herkunft aus dem globalisierten Wirtschaftssystem der Gegenwart heraus.
Anders als in Europa fehlt dem städtischen Wachstum der meisten Entwicklungsländer die wirtschaftliche Antriebsmaschine. Urbanisierung findet auch ohne Industrialisierung statt; ebenso wie die Produktivitätssteigerung vom Beschäftigungszuwachs im globalen Kapitalismus zunehmend entkoppelt wird. Millionen Menschen strömen dennoch in die Städte und damit von einer Armutsexistenz (auf dem Land) in die nächste. Denn dort wartet nicht die Chance auf einen sozialen Aufstieg in reguläre Beschäftigungsverhältnisse auf sie, sondern, wenn überhaupt, eine ständig bedrohte Existenz in der informellen Ökonomie. In Lateinamerika beschäftigt diese Schattenwirtschaft fast 60 Prozent der Arbeitskräfte.
Die Fülle wissenschaftlicher Untersuchungen, auf die Davis sich beruft, unterstreicht den sachlich-fundierten Charakter des Buches. Eine politische Anklage kann er sich trotzdem nicht verkneifen, wenn es darum geht, die Strategien von nationalen (Regierungen) wie transnationalen Institutionen (Weltbank, IWF) danach zu hinterfragen, was ihre Bemühungen in Sachen Armutsbekämpfung bisher gebracht haben. Zwar warnte die Weltbank schon in den 1990er-Jahren, dass sich die städtische Armut zum "signifikantesten und politisch explosivsten Problem des nächsten Jahrhunderts" entwickeln würde. Aber was ist die Schlussfolgerung? Bisher ist keine erkennbar, die das Problem an seiner Wurzel zu fassen gedenkt. Solange man die Existenz von Slum-Siedlungen an sich nicht in Frage stellt, ändert sich das auch nicht.
Planet der Slums.
Assoziation A, Berlin 2007; 247 S., 20 ¤