Baumkronenpfad
In Thüringen lässt sich der Wald aufs Dach steigen. Das ist sagenhaft schön - selbst im Nebel.
Die Gebrüder Grimm hätten "Hurra!" gerufen. Das Wetter ist wie gemacht für Feen und Schrate. Träge wabert der Novembernebel durchs Gehölz, unbarmherzig kriecht die feuchte Kühle ins Hosenbein. Na prima, da kommt auch schon König Drosselbart. So zumindest sieht der Berg von einem Mann aus, der mir seine prankenähnliche Hand reicht. Roter Rauschebart mit grauen Einsprengseln, die Schirmmütze so tief in die Stirn gezogen, dass gerade noch die beiden blitzenden blauen Augen hervorlugen. "Guten Tag", sagt er und stellt sich als Helge Graßhoff vor, Ranger im Thüringer Nationalpark Hainich. "Lange wandern wollen Sie ja wohl nicht", fügt er hinzu, nachdem er mich kurz gemustert hat. Ok, mit klobigen Wanderschuhen und krachlederner Hose wie er kann ich an diesem Spätherbstmorgen nicht dienen, aber - na schön, ich verkneife mir die Antwort genauso wie den Kommentar zu seinem aufreizend nachgiebigem "Ist-halt-ne-Städterin"-Grinsen. Schließlich soll mich Drosselbart in den "Urwald mitten in Deutschland", so die Hainichwerbung, führen, genauer gesagt auf dem Baumkronenpfad in die Wipfel.
Zehn Jahre alt wird der Hainich, einer der jüngsten von 14 deutschen Nationalparks, an Silvester. Im Dreieck von Mühlhausen, Bad Langensalza und Eisenach gelegen, umfasse er eine Fläche von 7.500 Hektar, berichtet Graßhoff. Die Kernzone, für Menschen tabu, habe eine Fläche von 2.100 Hektar. Wieviel das, sagen wir mal, in Fußballfeldern gerechnet ist? "Weiß ich nicht. Ich interessiere mich nicht für Fußball", antwortet mein 46-jähriger Begleiter. Na gut, selbst rechnen macht schlau. Also, mein lieber König D., es sind rund 10.000 Fußballfelder, die in den gesamten Nationalpark passen würden. Platz genug für das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet in einem deutschen Nationalpark.
Erstmal marschieren wir vom Parkplatz über einen matschigen Weg an der Thiemsburg vorbei. Eine echte Burg mit Turm und dicken Mauern sei das nie gewesen, berichtet der Ranger. Im Forsthaus, das hier bis 2006 stand, sei er groß geworden. "Schon mein Vater war Förster", sagt der gelernte Forstwirt. Er selbst gehe "seit 30 Jahren ins Holz". Ranger sei er erst seit sieben Jahren. An der Thiemsburg steht jetzt ein neues Gasthaus. Gerade hat die Landesregierung entschieden, dass hier auch das Nationalparkzentrum gebaut werden soll.
Vorbei geht es an einem Tümpel, der bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt so ungemütlich wirkt, dass auch der Froschkönig Reißaus genommen hätte. Ein kurzer Blick auf die älteste Eiche des Nationalparks (Graßhoff: "Zirka 600 Jahre, 5,45 Meter Umfang.") und plötzlich schimmern die ersten Stahlstelzen des Baumkronenpfades wie die Beine eines prähistorischen Tausendfüßlers durch die nasskalten Nebelschwaden. "Hallo Jurassic Park", denke ich. Doch für gedankliche Ausflüge in die Zeit der Oberkreide vor 65 Millionen Jahren ist keine Zeit. Grasshoff nimmt die ersten der 47 perforierten Metallstufen. Jetzt keine Schwäche zeigen und schnell hinterher. Rund um den 44 Meter hohen Turm führt die Treppe, über die in zehn Meter Höhe der Anfang und in 24 Meter Höhe das Ende des 308 Meter langen Baumkronenpfades zu erreichen ist. Wer nicht laufen kann, nimmt den Lift ins Geäst. Der 2,40 Meter breite und wackelfreie Steg ist rollstuhlgeeignet.
Auf dem Weg nach oben legen wir einen Stopp in einem Turmraum ein. Anhand einer Karte über die Geologie des Hainichs lässt sich nachvollziehen, wie schwierig der Bau der Waldattraktion gewesen sein muss. Für die feste Verankerung des Turmes hätten mehr als 100 Meter tiefe Löcher in den von Hohlräumen durchsetzten Muschelkalk gebohrt werden müssen, erklärt Graßhoff. Die Stahlstelzen des Rundwegs seien mit Spezialkränen in den Boden gedreht worden.
Auf den ersten Bretterbohlen des Pfades angelangt, atmet der Ranger tief durch. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Ich staune und höre - wenig. Außer einem knarzenden Krähen (Graßhoff: "Ein Kolkrabe") und einem aufgeregten Zwitschern ("Eine Blaumeise") herrscht Stille im dritten Stock des Waldes. Es ist, als habe der Nebel alle(s) Laute aufgesaugt. Kein Lüftchen regt sich. "Nur wer ruhig ist, kann alles sehen", sagt der Ranger. Ich glaube es ihm aufs Wort.
Der 46-Jährige kommt in Fahrt. "Wir wollen Begeisterung wecken für den Lebensraum Wald. Es geht um Umweltbildung, nicht um Action", sagt er. Das unterscheide den Hainich-Pfad im Übrigen vom zweiten deutschen Wipfelweg im Pfälzerwald mit Rutsche und Seilbrücken, erläutert später der stellvertretende Leiter des Nationalparks, Rüdiger Biehl.
Das Ziel, mit dem Baumkronenpfad möglichst viele Neugierige in den Nationalpark zu locken, scheint aufzugehen. Die Zahlen jedenfalls stimmen. Die Geschäftsführerin der Betreibergesellschaft, Andrea Fischer, sagt, zur Eröffnung des Bauwerks vor gut zwei Jahren seien sie von "allerhöchstens 80.000 Besuchern pro Jahr" ausgegangen. Sowohl in diesem als auch im vergangenen Jahr habe man die 200.000er-Marke locker geknackt. Damit das so bleibt, schmieden die Thüringer große Pläne. Der Pfad solle 2008/2009 um 210 Meter verlängert werden, so Fischer. Nochmals 1,5 Millionen Euro koste das. Biehl ergänzt, dass sich der Hainich zusammen mit einigen anderen Nationalparks um den Titel des Weltnatur-erbes beworben habe. 2010 werde die Unesco entscheiden.
Ranger Grasshoff hat sich inzwischen warm geredet. Bei klarem Wetter reiche der Blick bis zum Brocken im Harz, schwärmt er. Heute wären wohl Hexenkräfte nötig, um so weit zu gucken. Ich kann mich also voll auf das Naheliegende konzentrieren. Eine Traubeneiche zum Beispiel, die mir ihre Zweige entgegenstreckt. "Mehr als 1.000 Tierarten bewohnen so einen Baum", hebt Graßhoff hervor. Ehrfurcht klingt in seiner Stimme mit.
Besonders auf Totholz tobt das Leben. Falter, Käfer, Mücken - mehr als 4.300 Insektenarten sind schon nachgewiesen. "Die Forscher erwarten 10.000", sagt Graßhoff. Auf dem Holzsteg tummeln sich deshalb nicht nur Touristen, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler, die sich für die 187 Vogelarten, die seltenen Wildkatzen oder die Fotosynthese interessieren.
Der Wald habe sich auch im vorigen Jahrhundert relativ ungestört entwickeln können, bemerkt Graßhoff. In dieser Zeit hätten Wehrmacht, Rote Armee, NVA und Bundeswehr vor allem die Ränder des Hainichs als Schießplatz genutzt; ein wesentlicher Grund, warum der Baumbestand im Herzen des Hainichs "urwaldiger" sei als in manch anderem Nationalpark.
Doch nicht die Eiche sei wie oftmals angenommen der typisch deutsche Baum. Helge Graßhoff legt eine kleine Pause ein. "Es ist die Rotbuche", sagt der Ranger und streicht vorsichtig über eine ihrer Knospen. "Griffe der Mensch nicht ein", so der Hainich-Ranger, "würde die hier überall stehen - wie in ganz Mitteldeutschland." Drosselbarts Lächeln lässt darauf schließen, dass er das für eine durchaus verlockende Vorstellung hält.
Mehr zum Thema unter: www.nationalpark-hainich.de und www.baumkronenpfad-hainich.eu