DER WALD
Ein wichtiger Umwelt- und Wirtschaftsfaktor - aber auch ein Objekt der Sehnsucht
Sprechen wir von Natur, meinen wir damit zwei Dinge: Auf der einen Seite die kulturelle Projektion menschlicher Ideen und Gefühle, auf der anderen Seite die Natur an sich mit all ihren Lebensformen - zu denen auch der Mensch gehört. Auch wenn vom deutschen Wald die Rede ist, haben wir zwei unterschiedliche Bilder vor Augen: Zum einen den imaginären, mit kultureller Symbolik beladenen Ort, kurzum ein Objekt der Sehnsucht. Aber daneben gibt es noch einen anderen deutschen Wald - oder vielleicht sollten wir ihn besser den "deutschen Forst" nennen: eine wichtige wirtschaftliche Ressource, die immer Gegenstand langwieriger sozialer und politischer Konflikte war. Diese beiden verschiedenen Vorstellungen haben zwei unterschiedliche Geschichten hervorgebracht. Wissenschaftler sprechen entweder von "Waldgesinnung" oder von "Forstfrevel". Lassen sich diese beiden historischen Sichtweisen unter einen Hut bringen?
Der deutsche Wald als Mythos war eine Schöpfung der Romantik. Malerei, Musik und Dichtung verkehrten die bis dahin gültige Ästhetik des Waldes in ihr Gegenteil. Was zuvor wild und unheimlich anmutete, wurde nun als erhaben betrachtet. In ähnlicher Weise erschienen auch Berge und Küsten in völlig neuem Licht - genauso wie man etwas später auch Heide- und Moorlandschaften idealisierte. Ein markantes Merkmal für diesen "Waldmythos" war die unterstellte Affinität zwischen dem deutschen Wald und dem deutschen Volk. Sie reicht oft bis zu den gebetsmühlenartig zitierten Anmerkungen von Tacitus über die starken Germanen zurück. Die Sammler deutscher Märchen und Sagen stießen in das gleiche Horn. Als Wilhelm Heinrich Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts über die Beziehung zwischen den Völkern und der sie umgebenden Landschaft schrieb, hatte der deutsche Wald bereits eine steile Karriere hinter sich. Als mystisch-sentimentale Verkörperung des Volkscharakters fand er sich in den Heimat- und Naturschutzbewegungen wieder und wurde vom Bildungsbürger wie vom Spießer gleichermaßen begeistert angenommen. Waldgesinnung bedeutete nicht zwangsläufig Nationalgesinnung. Als Ludwig Tieck den Begriff der "Waldeinsamkeit" prägte, war dies mehr Ausdruck eines träumerischen Verlustgefühls denn eines politischen Programms. Die Wälder in den Gemälden von Caspar David Friedrich vermitteln mit ihren Kreuzen und Klosterruinen ein Gefühl der Vergänglichkeit, Melancholie und geistigen Sehnsucht, das weit über die Politik hinausreicht. Gleichwohl war Friedrichs Bild vom "französischen Chasseur", dem französischen Jäger, der sich im Wald verirrt hat, ein eindeutig politisches Gemälde. Und sein Zeitgenosse Ernst Moritz Arndt forderte gar einen "Bannwald" gegen die Franzosen.
Der deutsche Wald wurde im 19. Jahrhundert immer mehr zum nationalistischen Symbol, ja sogar zum Symbol nationaler Männlichkeit und militärischer Stärke stilisiert. Die Gründe für eine "Mobilmachung des Waldes" während des Ersten Weltkriegs reichen weit in die Geschichte zurück. Bald vereinnahmten Nationalsozialisten diese Waldideologie und nutzten sie für Propagandazwecke. So tönte etwa der "Reichsforstmeister" Hermann Göring: "Ewiger Wald und ewiges Volk gehören zusammen."
Wenn man den "ewigen Wald" der deutschen Mythologie verlässt und sich in den sich fortwährend verändernden Alltagswald begibt, betritt man eine andere Welt. Gerade so als würde man die Grenze zwischen Heiligem und Profanem überschreiten. Der "natürliche" Wald, der den Vorstellungen der Romantik entsprach, trug in Wirklichkeit den Stempel der jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelangen Nutzung durch den Menschen. Man hatte ihn gerodet, um Siedlungen zu gründen; dieser Prozess wiederholte sich stets, wenn die Bevölkerung durch Pest oder Krieg dezimiert wurde und der Wald den verlorenen Lebensraum "zurückerobert" hatte. Dieser Wald, der profane Wald, war Weide für das Vieh, und die Früchte des Waldes boten den Menschen ihre Lebensgrundlage. Man brauchte Holz zum Heizen und Kochen, und es wurde für den Bau von Häusern, Ställen, Brücken und Bretterwegen benötigt. Stellmacher, Wagner und Böttcher konnten ohne Holz nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und so lieferte Holz auch das Material, das die Deutschen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit für die Begradigung der Flüsse verwandten. Darüber hinaus wurde es intensiv im Bergbau und in Salzbergwerken genutzt. Die Holzkohle brachte industrielle Verarbeitungsprozesse wie die Verhüttung in Gang, bevor sie von der Kohle - dem "unterirdischen Wald" - abgelöst wurde. Ende des 18. Jahrhunderts war die "Holznot" in aller Munde. Der Begriff ist strittig: Viele Historiker sehen ihn heute als rhetorischen Kunstgriff an. Landesherren und Bauern brachten die Holznot als Argument vor, um ihre eigenen Ansprüche auf den Wald geltend zu machen. Denn seine Nutzung war stets umstritten.
"Wissenschaftliche Forstwirtschaft" lautete die Antwort des Staates auf die angebliche Holzknappheit; und so wurden im Rahmen einer "rationalen" Bewirtschaftung der Holzressourcen die den Bauern verbliebenen Nutzungsrechte weiter eingeschränkt. Wissenschaftliche Forstwirtschaft produzierte schnell wachsende Fichtenmonokulturen, die nicht nur monoton, sondern äußerst anfällig waren.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlug das Pendel dann wieder in die andere Richtung zurück: Einige deutsche Förster machten sich für einen "natürlicheren" Mischwald mit Laub- und Nadelbäumen stark. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er mit dem Schlagwort "Dauerwald" bezeichnet. Von hier aus lassen sich die beiden unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen des deutschen Waldes miteinander verknüpfen. Es fällt auf, dass der romantische Mythos vom deutschen Wald genau zu dem Zeitpunkt entstand, als die wissenschaftliche Forstwirtschaft den realen Wald veränderte.
Naturschützer äußerten immer öfter die Kritik, dass die Landschaft zu geometrisch werde und ihren "deutschen" Charakter verliere. So erklärte der Förster Rudolf Düesberg, dass das Schicksal des Waldes und des Volkes miteinander verflochten seien. Die Argumente für den Dauerwald in der Weimarer Republik hatten einen ähnlich nationalistischen Unterton. Das nationalsozialistische Regime nahm sich der Sache rhetorisch bereitwillig an. Allerdings blieb der Dauerwald für die Forstbewirtschaftung weitgehend ein Lippenbekenntnis. Die Kluft zwischen dem mythischen Wald und dem realen Wald reichte bis in die Nachkriegszeit. Während die wirtschaftliche Not zu Holzdiebstählen und Fällaktionen führte, ließen sich Spuren der vertrauten Waldideologie in Martin Heideggers Abhandlungen "Holzwege" und Ernst Jüngers Essay "Waldgang" wiederfinden. Heute kann der romantisch-sentimentale deutsche Wald, nachdem er für die völkisch-nationalistische Sache so sehr missbraucht wurde, die Vorstellungskraft der Deutschen zwar nicht mehr in dem Maße wie einst fesseln. Die Idee vom "Dauerwald" hat sich in der deutschen Forstwirtschaft durchgesetzt, aber der Begriff an sich ist zu sehr belastet. Man spricht lieber vom "naturnahen Wald". Die Identifikation der Deutschen mit dem Wald hat sich in Richtung eines umweltorientierteren Ansatzes geändert. Gleichwohl deutet die Entrüstung über den Erwerb deutscher Wälder durch chinesische Investoren ebenso wie der Aufschrei über das "Waldsterben" darauf hin, dass sich die symbolische Bedeutung des deutschen Waldes geändert hat. Die Diskussion bleibt aber nach wie vor moralisch und politisch aufgeheizt.