Die Macht der Vergangenheit sorgt für kraftvolle nationale Narrative, die bis in die Gegenwart wirken. Mit dem Ende der europäischen Teilung entdeckten die jahrzehntelang von der Sowjetunion dominierten Staaten Mittel- und Osteuropas ihre nationalgeschichtlichen Traditionen neu. In der von der Europäischen Union geprägten Hälfte des Kontinents war bereits vor dieser Zeitenwende von "europäischer Identität" und von "transnationaler Geschichtsschreibung" die Rede gewesen. Dabei geriet häufig aus dem Blick, dass auch Budapest, Prag, Warschau oder Dresden traditionsreiche mitteleuropäische Metropolen sind.
Die politische Vereinigung von Bundesrepublik und DDR verlief schnell und reibungslos, sie war ohne realistische Alternative. Ungarn, Tschechen und Polen knüpften an die nationale Selbstbestimmung vor dem Zweiten Weltkrieg an. Auch in den baltischen Staaten war die Phase ihrer Souveränität vor der Unterdrückung nationaler Regungen durch die sowjetischen "Befreier" tief im historischen Gedächtnis verankert. "Proletarischer Internationalismus" hatte sich nicht verordnen lassen.
Zur jüngeren gesamteuropäischen Vergangenheit gehören neben den beiden Weltkriegen, dem Völkermord an den Juden und der kommunistischen Gewaltherrschaft auch Kolonialismus und Imperialismus. Wie kann vor dem Hintergrund eines solch disparaten, schrecklichen Erbes eine gemeinsame europäische Identität reifen? Der nationale Referenzrahmen erscheint auch bei fortschreitender europäischer Integration bis auf Weiteres als unverzichtbar. Kohärenz in der Vielfalt könnte das Leitmotiv abgeben, um eine viel versprechende, sich allmählich herausbildende europäische Identität im 21. Jahrhundert zu kennzeichnen.