lettland
Viele Russen verlassen das Baltikum
Elena Drosdowa stapelt kleine Kisten und vollgestopfte Tüten übereinander, während ihr Mann Leonid Kuprijanik einen Umzugskarton verschnürt. Für einen kurzen Moment hält der kleine drahtige Mann inne und schiebt seine Schirmmütze in den Nacken. Kaum fällt sein Blick auf die beiden Formel-Eins-Miniaturen, die neben der Wohnungstür hängen, nimmt Elena sie schon mit einem Lachen ab, drückt sie ihm in die Hand und schlägt den Autoatlas auf. Langsam fährt sie mit ihrem Finger von Riga aus in Richtung Russland, zu der kleinen Stadt Lipitsk, in die Elena mit ihrem Mann umsiedeln will. "Dort ist Moskau, und hier, rund 400 Kilometer südlich davon, beginnt der Lipitskajer Bezirk", sagt sie. Elena und ihr Mann Leonid sind Russen, Ende vierzig und seit ihrer Kindheit in der lettischen Hauptstadt Riga zu Hause. Elenas Eltern zogen Anfang der 60er-Jahre von der Krim an die Ostsee; Leonids Vater suchte damals als Ingenieur in der ehemaligen Sowjetrepublik Lettland sein Glück. Für beide bedeutet Lettland ein Stück Heimat: Wenn da nicht der Austritt aus der Sowjetunion vor 16 Jahren gewesen wäre.
Wie Elena und Leonid wurden die meisten Russen plötzlich staatenlos. Um die lettische Staatsbürgerschaft zu erwerben, müssen sie heute harte Prüfungen in Geschichte und Staatsbürgerkunde auf Lettisch bestehen. Leonid hat zwar einen guten Job in Riga, trotzdem hält ihn nichts. Er sei in Lettland geboren und sehe nicht ein, weshalb er sich um eine Staatsbürgerschaft bemühen sollte, sagt er. "Die Letten haben sie mir nicht gegeben und ich werde sie nicht darum bitten. Deshalb will ich jetzt zurück nach Russland gehen." Denn ohne die Staatsbürgerschaft gibt es kein Wahlrecht, kein Recht auf Grundbesitz oder einen Job im öffentlichen Dienst.
Aus Angst vor dem sozialen Abstieg haben mehr als 10.000 Russen direkt nach der Unabhängigkeit Lettland den Rücken gekehrt. Auf eigene Faust und ohne fremde Hilfe. Nun ist aber auch Moskau ernsthaft an Heimkehrern interessiert.
Im Baltischen Institut für Sozialforschung beobachtet Brigita Zepa schon seit der Unabhängigkeit, wie schwer sich Russland mit dem Verlust der baltischen Länder tut. Die Soziologin ist überzeugt, dass Wladimir Putin mit seiner neuen Rückkehr-Politik vor allem Stimmung gegen Lettland machen will. Wie üblich werde Lettland an den Pranger gestellt, weil die Russen hier nicht automatisch die Staatsbürgerschaft erhielten, meint Zepa. Durch die Heimholaktion solle gleichzeitig das Selbstbewusstsein der Russen in Russland gestärkt werden. "Und Moskau will sein Image aufpolieren und beweisen, dass es sich wirklich um seine Leute im Ausland sorgt. Ob dann wirklich jemand kommt, ist nicht mehr so wichtig."
In der russischen Botschaft in Riga klärt Ludmilla Antonowna über eine Rückkehr nach Russland auf. Sie bietet hohe Prämien, Wohnungen, Arbeitplätze und die russische Staatsbürgerschaft an. Leider sei die Begeis-terung in Lettland nicht besonders groß, meint sie. Bei ihren Kollegen in Mittelasien sehe es viel besser aus. "Dort ist das Lebensniveau niedriger als in Russland, während wir hier in Riga fast europäischen Standard haben. 26 Russen sind in diesem Jahr ausgesiedelt, meist nach Kaliningrad."
Auch Ivan Davidko möchte nach Kaliningrad, ins ehemalige Königsberg. Der 28-Jährige ist lettischer Staatsbürger, hochgewachsen, teuer gekleidet und hat einen gutbezahlten Job bei einer Spedition. Trotzdem träumt er von einer Karriere in Russland und wartet auf seinen russischen Pass. Er sei Russe, alle seinen Verwandten lebten in Sibirien. Sich dort selbstständig zu machen, traue er sich allerdings nicht zu. Kaliningrad hingegen habe eine Freihandelszone, also beste Voraussetzungen für Geschäfte mit der EU, meint Ivan Davidko. "Und Kaliningrad liegt auch an der Ostsee, da lebe ich nicht so weit von meinen Freunden in Riga entfernt."
Der Weg von Riga ins russische Lipitsk sei zwar etwas weiter, meinen Elena Drosdowa und Leonid Kuprijanik, trotzdem schrecke sie die Entfernung zu Kindern und Enkeln in Lettland nicht. Es gebe ja das Internet, meint Elena, darüber könnten sie sogar kos-tenlos telefonieren. Sie sei froh, dass sie endlich ihr winziges Appartement in Riga verlassen könne. In Lipitsk sei alles billiger und sie könnten sich das leisten, was in Lettland heutzutage unmöglich sei, schwärmt Elena: "Ein eigenes Haus mit Garten. Wir haben schon Grundstückspreise verglichen. Vielleicht gelingt es uns später, unsere Kinder zu locken, ihre Zukunft in Russland aufzubauen."