Gesellschaft
Zwei Berichte zur Situation der Kinder kommen zu gleichen Ergebnissen
Es ist schon fast ein Allgemeinplatz: Immer mehr Kinder in Deutschland leben in Armut. Wie viele es sind, ist in diesem Jahr so häufig genannt worden, dass man sich an die Zahl beinahe gewöhnt hat. 2,5 Millionen Kinder sind es, die von Sozialleistungen, also zumeist in einer Familie von Hartz IV-Empfängern leben. Weniger geläufig ist allerdings, wie stark der Anstieg der Kinderarmut in Deutschland ist: Er verdoppelt sich alle zehn Jahre. War in der Bundesrepublik 1965 nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren zeitweise oder dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen, ist es heute mehr als jedes sechste. Gleichzeitig hat sich die Zahl der geborenen Kinder halbiert.
Der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert prägt in dem "Kinderreport Deutschland 2007" einen prägnanten Begriff zur Beschreibung dieser Lage. Die "doppelte Kinderarmut", schreibt Borchert, sei der "auffälligste familienpolitische Befund". Als Gründe macht Borchert vor allem das Steuer- und Sozialrecht aus. Der Sozialexperte kritisiert, den Familien werde ein "Übermaß an öffentlichen Abgaben" abverlangt. Als Beispiele nennt er die mangelnde Berücksichtigung des Unterhalts von Kindern bei der Einkommensteuer, Sozialabgaben, die hohen Verbrauchssteuern und die Kosten für Kinderbetreuung und -erziehung.
Wie 2004 liefern die Autoren des "Kinderreports" auch in ihrem aktuellen Werk keine brandneuen Daten. Das Verdienst des Berichts, den das Deutsche Kinderhilfswerk in Auftrag geben hat, ist vielmehr ein qualifizierter Blick hinter die Daten. Dahin, wo man die Ursachen der Kinderarmut erkennt - aber auch ihre Auswirkungen. Die nämlich sind zahlreich: Kinder aus armen Familien werden schlechter ernährt, bewegen sich weniger, leiden unter dem Gefühl des Ausgeschlossen-Seins. Vor allem aber haben sie äußerst schlechte Chancen, sich aus ihrer Lage zu befreien und ihren eigenen Kindern eines Tages bessere Aussichten mit auf den Weg zu geben.
Die vielleicht frappierendste Erkenntnis gleich zwei aktueller Kinderstudien lautet: Armut ist erblich. Schon in der Grundschule wiederholen arme Kinder mehr als dreimal so häufig eine Klasse wie Mittel- oder Oberschichtssprösslinge. In der Oberschule geht der Nachwuchs dann richtig getrennte Wege: Mehr als jeder dritte Schüler, der keine Armut kennt, besucht das Gymnasium; acht von zehn der immer oder zeitweise Armen maximal die Realschule. Die Gründe sind nach Erkenntnissen der Armutsforscher zahlreich. Kinder in armen Familien fehlt neben Geld für Nachhilfe oder Freizeitangebote und einem ruhigen Eckchen zum Lernen häufig auch ein Bildungsvorbild.
Kinder aus armen Familien scheitern aber auch an sich selbst - weil ihnen das Selbstbewusstsein fehlt. Sie wissen, dass sie benachteiligt sind und trauen sich weniger zu. Schon Zehnjährige aus armen Familien, stellt der Kinderreport fest, fühlten sich "eher überfordert" und "neigen mehr zur Resignation".
Zum gleichen Schluss kommt Klaus Hurrelmann, Deutschlands führender Kindheits- und Jugendforscher, in seiner ersten repräsentativen "Kinderstudie" unter Acht- bis Elfjährigen: "Kinder aus armen Familien haben bereits in jüngsten Jahren eine andere Selbstwahrnehmung". Schon Grundschüler aus armen Familien, hat Hurrelmann in der Studie "Kinder in Deutschland 2007", nachgewiesen, dächten kaum noch daran, es so weit zu bringen wie andere. Die Belege sind erdrückend: Acht von zehn Kindern aus gut gestellten Familien gaben in der Befragung an, das Abitur machen zu wollen. Aus der Unterschicht hatten sich das schon im Grundschulalter nur zwei von zehn vorgenommen. Wie früh Kinder ihre Bildungsbiographie in Bezug zu ihrer Herkunft setzen hat selbst Hurrelmann überrascht: "Diese Kinder sehen mit acht, neun oder zehn bereits ihre mutmaßliche Bildungsbiographie voraus. Das wird massive Auswirkungen auf den tatsächlichen Bildungsverlauf haben."
Die von der Hilfsorganisation World Vision in Auftrag gegebene Kinderstudie orientiert sich an der Shell-Studie, in deren Zentrum die repräsentative Erhebung jugendlicher Lebenswelten steht. Sie ist die erste ihrer Art und dürfte der Kinder-, aber auch der Bildungsforschung wertvolle Zusatzinformationen liefern. Wie die Shell-Studie lockert sie die Auswertung der Daten mit gelungenen Porträts einiger der befragten Kinder auf.
Gemeinsam ist beiden Werken vor allem eines. Sie bieten viele Argumentationshilfen dafür, zu verhindern, dass 2017 geschrieben werden muss: Noch vor zehn Jahren wuchsen nur halb so viele Kinder in Ar- mut auf.
Kinderreport Deutschland 2007. Daten, Fakten, Hintergründe.
Velber Verlag, Freiburg/Brsg. 2007; 220 S., 12,50 ¤
Klaus Hurrelmann, Sabine Andresen:
Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007; 352 S., 12,95 ¤