Es mag anekdotenhaft wirken, wenn in der Debatte um eine vermeintliche oder reale Renaissance bürgerlicher Kulturmuster innerhalb der Gegenwartsgesellschaft zunächst auf ein ganz profan wirkendes Faktum als Beleg für Kontinuität verwiesen wird: auf die weitgehend unbemerkt gebliebene Wiederkehr der Dienstmädchenfrage. Bekanntlich endete das "lange" 19. Jahrhundert auch durch die rigorose Verknappung der haushälterischen Dienstkräfte, deren Anwesenheit, zumindest einer ihrer Vertreterinnen, als "Minimalbedingung eines wirklich bürgerlichen Haushalts" 1galt.
In Deutschland stellt sich seit einigen Jahren eine "neue Dienstmädchenfrage". 2 Sie erscheint ökonomisch verursacht durch einen enttabuisierten privaten Bedarf an Dienst- und Kindermädchen, Pflegerinnen und Putzfrauen, der angesichts demographischer und wohlfahrtsstaatlicher Krisendiagnosen stetig steigt. Wie schon im bürgerlichen Zeitalter, in dem die Anstellung eines Dienstmädchens zur "Pflichtausstattung" eines Haushaltes gehörte, selbst dann, wenn man es sich kaum leisten konnte, sind diese, wie die Soziologin Maria Rerrich belegt hat, auch heute vielfach in "Haushalten mit einem eher niedrigen Einkommen" 3 auszumachen. Anders aber als ihre historischen Vorgängerinnen - zumeist aus armen Landfamilien stammende ledige Frauen ab 14 Jahren - bieten heute auch (vor allem osteuropäische) Akademikerinnen ihre handarbeitlichen Dienste an, die vom wöchentlichen Putzjob bis zur 24-Stunden-Betreuung im Hause lebender Familienangehöriger (live-ins) reichen.
Bei der (im wahrsten Wortsinne: Wieder-) Einwanderung dieser archaisch anmutenden Beschäftigungsverhältnisse, deren gesellschaftliche Realdimension trotz steuerrechtlicher Verklärung zur "haushaltsnahen Dienstleistung" wegen ihres weitgehend informellen Charakters in der Öffentlichkeit verdeckt bleibt, kommt es zu kulturellen Effekten. Die Verpflichtung des neuen "Bodenpersonals der Globalisierung" 4 geht für den Auftraggeber - dem zuweilen noch statusindifferenten Nachfolger einstiger "Herrschaft" - mit einem Mehrwert in Gestalt eines Prestigegewinns einher, über den zu sprechen sich lohnt, wenn man den Motiven und Hintergründen neubürgerlicher Gesinnung auf die Spur kommen möchte. "Wie kommt es", fragt Helma Lutz deshalb zu Recht, "dass eine Tätigkeit, die spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Berufsregister gestrichen wurde, heute wieder solche Aktualität und Brisanz besitzt?" 5
Das wundersame Comeback der Sozialfigur "Dienstmädchen" auf dem Privatparkett der Berliner Republik ist nur einer von vielen Mikroprozessen, welche sich in der These von einer "Rückkehr der Bürgerlichkeit" bündeln lassen. Es gibt unter diesen Phänomenen "unsichtbare" Formen und Verläufe - man denke nur an das rudimentäre Wissen von Demoskopie und Sozialforschung über die für den Zusammenhang maßgeblichen Reichtumsverhältnisse und ihre prospektive Verschiebung in den nächsten Jahren im Rahmen eines bislang ungekannten Erbschaftsaufkommens 6 - und es existieren Befunde, die von den Instanzen der Mediengesellschaft hypergrell ausgeleuchtet werden.
Paradox erscheint dabei die Attraktivität der reanimierten Bürgerlichkeitsformen bei einem nicht unbedingt zum bürgerlichen Milieu zählenden Massenpublikum. Trotz aller Vorbehalte - die zahllosen TV-Kochshows, von Johannes B. Kerner bis Alfred Biolek, proklamieren eben auch den kalorienarmen Aufstand gegen "gutbürgerliche" Kantinen- und Hausmannskost. In den permanent produzierten Quizformaten wird - neben medialer Penetranz - zugleich ein volksnaher Bildungsauftrag mit ungeheurem Publikumserfolg vollzogen, der den ARD-Moderator Jörg Pilawa, Kopf einer erfolgreichen Vorabendrätselsendung, etwa darüber nachdenken lässt, erst im Frühjahr 2009 nach 1 500 (!) Folgen aus der Sendung auszusteigen. Und selbst die beim Gesellschaftstanz in der RTL-Show "Let's dance!" unglücklich wirkende (und in der Bild-Zeitung daraufhin schamlos als "Hoppel-Heide" vorgeführte) Ex-Ministerpräsidentin Heide Simonis konnte gegen den Vorwurf einer verfehlten Selbstinszenierung den Dienstauftrag eines emanzipatorischen Kulturhebungsprojekts in Anschlag bringen, da ihre Gage an Unicef-Deutschland überwiesen wurde.
Die suggestive, volkspopuläre Variante einer "Lust am Bürgerlichen" wird in diesen Trivialformaten überaus sichtbar. Sie hätte aber niemals zum Stoff einer diskursiven Verständigungsdebatte getaugt, wenn die Empathie nicht zugleich in den elaborierten Themenfeldern der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten des Landes Einzug gehalten hätte. Gleichsam in einer Parallelbewegung zum Sickereffekt innerhalb der Massenkultur reihen sich im "gehobenen" Feld neubürgerlicher Rückbesinnung längst verabschiedet geglaubte Werte und Normen zu einem unverbrieften Tugendarsenal. In distinkter Absetzung zum programmatischen Egoismus der Ereignis- und Singlegesellschaft werden wieder "alte" bürgerliche Verhaltensformen beschworen - deren ins Heute gewendete Kernelemente in einer Hinwendung zu gesellschaftlichem Engagement und zu einer private Risiken selbstständig tragenden Lebensführung bestehen.
Der Verfassungsrichter Udo di Fabio hat diesen neubürgerlichen Wertehimmel gleichsam sakralisiert, in dem er in seinen Forderungen nach einem "neuen bürgerlichen Zeitalter" neben "mehr Respekt für die Familie, für Aufrichtigkeit, Höflichkeit, Fleiß und Erfolg" gleichzeitig und selbstverständlich mehr Akzeptanz "für religiöse Demut" 7 einklagte. Das muss angesichts der konstatierten "neuen Frömmigkeit" 8 in Berlin und (ost-)deutschen Städten, in denen wieder gefüllte Kirchen und wachsende Gemeinden registriert werden, durchaus nicht als Fiktion interpretiert werden. Auch die einst als Ausdruck autoritärer Gängelung abgeschafften "Kopfnoten" für die von di Fabio benannten Sekundärtugenden werden mancherorts von engagierten Eltern, mitunter schon in den Grundschulen, regelrecht eingefordert. Dabei ist es noch nicht so lange her, das sich Oskar Lafontaine mit der political correctness in Übereinstimmung wähnen konnte, als er gegen die von Helmut Schmidt vorgebrachte Verteidigung bürgerlicher Werte das Argument vorbrachte, mit diesen Sekundärtugenden könne "man auch ein KZ betreiben". 9
Hoch im Kurs des Neubürgerlichen stehen kulturelle Techniken und Geselligkeitsformen. Dabei erlangen wiederentdeckte Benimmregeln und "gute Manieren" sowie Hausmusik und eine längst versunken geglaubte Salonkultur, an die anzuknüpfen versucht wird, einen hohen Stellenwert. Noch vor einem Jahrzehnt verpönte Bildungskanons erweisen sich seit einigen Jahren jedenfalls als Bestseller - von Marcel Reich-Ranicki bis zum Prinzen Asfa-Wossen. 10 Und der sich auf Vernissagen epidemisch äußernde Drang zum eigenen "Sofa-Bild" hat vor allem die werthaltige gegenständliche Malerei zum "neuen Pop" mittelständischer Distinktionsansprüche gemacht - mitunter begleitet von der Anlage eigener Sammlungen sowie der Wiedereinübung einer Praxis mäzenatischen Handelns.
Es ist die syntheseferne Monotonie solcher Erweckungsdiagnosen und es ist ihr stilindifferenter Pendelschlag - zwischen schrulliger ARD-"Bräuteschule", dem humanistischen Comeback von Latein und Griechisch an deutschen Gymnasien bis hin zu der vom Historiker Paul Nolte ausgerufenen Projektkladde einer "Generation Reform" 11 -, welche in der Debatte um die "neue Bürgerlichkeit" schnell auch zu abwehrenden Artikulationen eines empfundenen Überdrusses geführt haben. Die zunächst in den meinungsbildenden Feuilletons durchaus hoffnungsvoll wahrgenommene Rückbesinnung erschien - nach der massenmedialen Entkoppelung des Themas von den Diskurseliten - somit bald als ein Kapitel post-postmoderner Suchbewegungen, dass allenfalls eine Phasenrelevanz beanspruchen konnte.
Gustav Seibt, einer der außeruniversitären Großintellektuellen seiner Generation, sah in diesem vermeintlichen "Bürgerlichkeitsspiel" einen beliebig austauschbaren Retro-Style am Werk, 12 wenngleich er diese Abwertung später relativierte und zu bedenken gab, dass Bürgerlichkeit heute seit langer Zeit "vielleicht (...) wieder mehr als nur eine Stilfrage" 13sei.
Der Wirtschaftsjournalist Christian Rickens schalt die Akteure der "neuen Bürgerlichkeit" unverblümt als Spießer. 14 Und Jens Bisky, einer der wenigen ostdeutschen Intellektuellen mit Platzgarantie im überregionalen Feuilleton, sah in der reanimierten Sozialfigur des Bürgers gar nur eine traurige Karikatur heraufdämmern: "Wie sieht er denn aus, der neue Bürger? Er pflanzt sich fort, er weiß, einen Smoking zu tragen, verzehrt seinen Schokopudding nicht unter Zuhilfenahme des Fischbestecks, sorgt sich um die Unterschichten und nimmt an allerlei Geselligkeiten teil, von deren kulturprägender Kraft er und die mit ihm Trinkenden überzeugt sind. Das hat etwas Kraftloses." 15
Neubürgerlicher Mummenschanz ist mit solchen Invektiven trefflich zu erledigen. Aber stellt die Sehnsucht nach dem Bürgerlichen mitsamt ihren bisweilen noch täppisch daherkommenden Praxisformen wirklich eine geschwätzige "Omnipotenzphantasie der bundesrepublikanischen Mittelschicht" 16dar?
Schon die Nachhaltigkeit der Debatte, die sich, trotz vorschneller Verabschiedungen, bis heute fortsetzt und in die verschiedensten institutionellen Felder multipliziert, 17 verweist hingegen auf eine gärende Homologie zwischen diskursiver Deutungsvielfalt und kultureller Heterogenität neubürgerlicher Formen. Zwar fehlt, wie der Soziologe Heinz Bude berechtigt einwendet, in der auseinanderstrebenden Diskussion um den Sinn einer nachholenden Verbürgerlichung die "bindende Klammer und der begreifbare Zusammenhang". 18 Aber es ist nicht zu leugnen, dass sich in der Gegenwartsgesellschaft die Optionschancen einer alten, neuen oder gänzlich andersartig verfassten Bürgerlichkeit gegenüber der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in erheblichem Maße vergrößert haben. 19
Dieser Verweis auf das weithin Unabgeschlossene und noch Unverstandene eines Prozesses erinnert an die Forschungsergebnisse der Bielefelder Bürgertumsforscher, 20 welche die kulturellen Bindekräfte vor allen sozialstrukturellen Fixierungen als eigentliches Formationselement bürgerlicher Geltungsbehauptung erkannten. Ebenso betont der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg die konstruktive Wirkkraft kultureller Phänomene bei der Durchsetzung von Bürgerlichkeit, deren konkurrierende "Leitbilder" sich gegenwärtig in einem Stadium ausdifferenzierender Polarisierung befinden: "Die sozialstrukturelle Unbestimmbarkeit der Begriffe "Bürger" und "Bürgertum" scheint durch die neuere Forschung bewiesen.
Deshalb sieht es so aus, als wäre "Bürgerliche Kultur" geradezu das letzte noch mögliche Identifikationsmerkmal der so bezeichneten Gruppen und Lagen: Kulturelle Muster, Formen der Vergesellschaftung, der ständischen Lebensführung, der Sozialisation und Selbstrekrutierung konnten als "bürgerlich" bestimmt werden, nicht jedoch exklusive, fest umschreibbare Berufsgruppen oder Statuslagen." 21
Ohne die Thematisierung der rigorosen Entbürgerlichung, einer zehrenden Verlustgeschichte vor allem in der Phase der deutschen Teilstaatlichkeit, ist die aktuelle Konjunktureuphorie "alter" Kulturmuster und der anschwellende "Stimmungswandel" (Paul Nolte) in der Mitte unserer Gesellschaft jedoch kaum zu verstehen. In den voneinander abgeschotteten Sozialräumen von Ost und West ist es, folgt man den Erhebungen der Historiker und Sozialwissenschaftler, bis 1989 zu ganz ähnlichen sozialstrukturellen Verwerfungen gekommen: zur Diffusion eines einstmals wirtschaftlich, politisch wie kulturell eng konturierten Bürgertums, das selbst in der Blütezeit des bürgerlichen 19. Jahrhunderts kaum mehr als zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte, in eine die Bevölkerungsmehrheit inkludierende und integrierende gesellschaftliche "Mitte", bestimmt von sozialer Homogenisierung und offenen Zugangswegen.
In der "alten" Bundesrepublik hat diese Entwicklung ihren prägnanten Ausdruck in Helmut Schelskys Modellmetapher der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" gefunden. Als Resultante verschiedener Prozesse - etwa des Aufstiegs der Arbeiterschaft und der Verarmung bürgerlicher Flüchtlinge - habe sich, so Schelsky, "eine breite, verhältnismäßig einheitliche Gesellschaftsschicht" herausgebildet, welche die Tendenz zur "Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen" aufweise. 22
Namhafte Sozialwissenschafter konstatierten in der, durch die vollzogene Westbindung initiierten, bundesdeutschen Erfolgsgeschichte die vermeintliche Auflösung der einstmals klassentypischen Gegensätze und ersetzten das Klassenmodell durch Schichtungstheorien. "Ein solch kleinteiliges Schichtungsmodell", formuliert der Soziologe und Ethnologe Rolf Linder, "legte intra- und vor allem intergenerationale Aufstiegsaspirationen als realistisch und realisierbar nahe, etwa von der Oberen Unterschicht zur Unteren Mittelschicht oder von der Unteren Mittelschicht zur Oberen Mittelschicht." 23
Als Leitbild der expandierenden und auf gesellschaftlichen Erfolg gestellten mittleren Lagen erschien die in den 1960er Jahren von Karl Martin Bolte entworfene dickbäuchige "Bolte-Zwiebel". In dieser Visualisierung der bundesdeutschen Sozialstruktur spiegelte sich der vermeintlich ungeheure Zuwachs der Mittelschicht, zu der damals die Majorität der Gesellschaft gerechnet wurde. Im Zuge dieser vorschnellen Abkehr von Klassenunterschieden, wurden, wie Jens Hacke formuliert, die "feinen Unterschiede" (Pierre Bourdieu) eingeebnet, "denn eine uniforme Kultur des Konsums, des Profitdenkens und des marktgesteuerten bzw. staatlich abgefederten Wohlfahrtsstrebens schritt unaufhaltsam voran. Der "außengeleitete Mensch" (David Riesman) hatte kein Verlangen mehr nach bürgerlicher Innerlichkeit und den lange kultivierten Distinktionsmodi der Status- und Bildungsrepräsentation." 24
In der DDR vollzogen sich die Auflösung des alten Bürgertums sowie eine radikale Entbürgerlichung in machtgesteuerten diktatorischen Bahnen. Während das Besitz- und Wirtschaftsbürgertum weitgehend enteignet wurde, 25 ergaben sich für bildungsbürgerliche Professionen - vor allem für Ärzte, Hochschullehrer und "Kulturschaffende" -, zunächst mit Privilegien beworbene Sonderräume, so dass die bildungsbürgerlichen Refugien zu Sozialisationsbiotopen einer in der DDR auf spezifische Weise überwinternden Bürgerlichkeit zu werden vermochten.
Nach dem Mauerbau 1961, der die in der DDR verbliebenen Eliten räumlich von einer alternativen Lebensplanung im Westen abschnitt, erwuchs aus der systemtreuen "neuen sozialistischen Intelligenz" eine "staatstragende" Mittelschicht. Diese auftrumpfende, aus proletarischen Bildungsaufsteigern rekrutierte staatssozialistische Funktionselite zeichnete sich auch quantitativ durch eine starke Dynamik aus - hatten zur ihr am Beginn der 1950er Jahre allenfalls vier Prozent der berufstätigen Bevölkerung gezählt, 26 so umfasste dieses Milieu zum Ende des DDR-Systems 15 Prozent der Sozialstruktur mit fast 1,3 Millionen Menschen. 27
Trotz der repressiven Eindämmung existierten diese bürgerlichen Sonderräume nach 1961 in der DDR jedoch als soziokulturelle Alternativen in der "Kleine-Leute-Gesellschaft" (Dietrich Mühlberg). Sie tradierten jenseits des kommunistischen Erziehungsdogmas plurale Werte und bürgerliche Kulturmuster. Dieser alternative Handlungs- und Sozialisationsrahmen war dabei freilich vielmehr auf kulturelle Leitmodi des 19. Jahrhunderts als auf zeitgenössische Muster der westlichen Zivilgesellschaft gerichtet. Jene für die gesamte "Gegenkultur aus bildungsbürgerlichem Geiste" 28 überaus typische, retrospektiv geleitete Stil- und Rollenfixierung hatte nicht nur mit der von allen Fremdeinflüssen abgeschotteten Situation im ostdeutschen Teilstaat zu tun, sondern ebenso mit einem ausgeprägten Faible für historistisches Ressentiment in den von bürgerlicher Zeitgenossenschaft abgeschnittenen Milieus.
Der Schnittpunkt dieser beiden gänzlich unterschiedlich verlaufenden Entwicklungslinien liegt in einer kulturellen Verkleinbürgerlichung der zentraler Mittelschichten in West wie Ost. Da und dort führte die forcierte Herausbildung einer neuen staatstragenden Mittelschicht bzw. die Wohlstandsintegration außerbürgerlicher Schichten zu einer kleinbürgerlichen Aneignung bürgerlicher Kulturmuster, in deren Folge die Kontur einer tradierten Bürgerlichkeit zunehmend verblasste.
In der Bundesrepublik wurde dieser Prozess freilich perforiert durch die Studentenbewegung und deren Symboljahr "1968", die ja ganz bewusst gegen bürgerliche Besitzstände zu Felde zog, die realiter kaum noch existierten. Nach der "Kulturrevolution", in deren Ergebnis die kleinbürgerliche Gesellschaftspolitur mehr als nur Risse bekommen hatte, erlangten plurale Lebensstile sowie Individualisierungsprozesse Deutungsmacht. In der DDR ist es zu keinem genuinen "[19]68 im Osten" 29 gekommen. Hier kann "die in der Hosentasche geballte Faust als das vielleicht repräsentativste Symbol einer nicht zustande gekommenen sozialen oder politischen Bewegung" 30 gelten. Diese Diagnose gilt auch dann, wenn man einräumt, dass im Osten ebenfalls kulturelle Protestformen als Korrektivphänomene des Mittelstands auszumachen sind. Anders jedoch als im Westen schlugen diese nicht auf die politische Kultur durch, sondern blieben in einem ästhetisierenden Historismus einer retardierenden Moderneaneignung gefangen. 31
Die Ballung in der Mitte blieb für beide deutsche Teilstaaten repräsentativ. Damit war zwangsläufig eine ostentative Kleinbürgerlichkeit verbunden, da die sich solcherart ausgeweitete Mittelschicht kulturell nach unten orientierte. Somit galt das "Elitäre" im Westen lange als Angriff auf die Konsensgesellschaft; im Osten galt ohnehin das Ethos "antielitärer Eliten". 32 Damit verlor Bürgerlichkeit aber ihr Sinnzentrum, da eine in die Segmente der Gesamtgesellschaft eingewanderte, vollends aufgefächerte und für breite Bevölkerungskreise alltäglich gewordene Bürgerlichkeit eben keine mehr ist. Im Versiegen der bürgerlichen Distinktionschancen - angesichts von Massenuniversität, beruflichen Kollektivzwängen sowie einem in Westeuropa immer noch protestantisch gedämpften "demonstrativem Konsum" - zeigt sich bis heute die bürgerliche Crux der Massenkultur im Zustand einer "Bürgerlichkeit ohne Bürgertum." 33
Niemand hat die eklatante Diskursdifferenz - zwischen den brüchig gewordenen (aber immer noch konsensfähigen) Fiktionen einer um die Mitte zentrierten Wohlfahrtsgesellschaft und der auch in den Konturierungs- und Etablierungsprozessen einer "neuen Bürgerlichkeit" aufscheinenden Akzeptanz neu aufbrechender Ungleichheit - so gut veranschaulicht wie der ehemalige Vizekanzler und Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD). Dieser hatte bekanntlich im Herbst 2006 als Repräsentant der herrschenden Verhältnisse erklärt, dass er beim besten Sinne keine sozialen Schichten in der Bundesrepublik erkennen könne, schon gar keine Unterschicht. Höchstens, wetterte er gegen das solche Zumutungen ausdrückende "Soziologendeutsch", kenne er Menschen, die "es schwerer haben, die schwächer sind." 34
Das Phänomen der "neuen Bürgerlichkeit" ist ohne den Blick auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge nicht verstehbar: Der Diskurs reicht von der strittigen Diskussion um die Wiederkehr der "Klassengesellschaft" 35 über die "Unterschichten"-Debatte bis hin zur Thematisierung der (die These von der neuen Bürgerlichkeit eher erhärtenden) bürgerlichen Antibürgerlichkeit in Gestalt einer "digitalen Bohème": 36 All diese anhaltenden und ein größeres öffentliches Podium verdienenden Diskurse belegen aufbrechende Ungleichheiten, eine im radikalen Umbruch befindliche Sozialstruktur und vor allem das Ende der Glaubwürdigkeit jener bis heute von weiten Teilen der Politik vorgetragenen Gleichheits- und Homogenitätsfiktion.
Aber die diskursive Wiederkehr des Bürgerlichen ist keinesfalls bereits eine Ankunft im Alltag. Erst wenn die sieben Häute der Bolte-Zwiebel abgeschält sind, wird sich zeigen, ob Bürgerlichkeit tatsächlich zum Leitbild künftiger Führungskompetenz taugt, wie seine Protagonisten mit zuweilen fataler großpädagogischer Pose insinuieren, oder ob es sich, wie manche Kritiker meinen, lediglich um das kulturelle Styling einer selbst ernannten Elite handelt.
1 Jürgen
Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in:
Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert.
Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, Einheit und
Vielfalt Europas, Göttingen 1995 (zuerst München 1988),
S. 9 - 75, S. 62f. (Anm. 29).
2 Helma Lutz, Ethnizität.
Profession. Geschlecht. Die neue Dienstmädchenfrage als
Herausforderung für die Migrations- und Frauenforschung,
Münster 20032.
3 Vgl. Maria S. Rerrich, Das ist nicht
einfach Schwarzarbeit, in: Frankfurter Rundschau (FR) vom 29.11.
2006, S. 25; vgl. auch dies., Die ganze Welt zu Hause. Cosmobile
Putzfrauen in privaten Haushalten, Hamburg 2006.
4 Sabine Hess, Bodenpersonal der
Globalisierung. Die neue Dienstmädchenfrage, in: Die Zeit, Nr.
51 vom 12.12. 2002, S 13.
5 Vgl. Helma Lutz, Die
Dienstmädchenfrage oder: Ein Beruf kehrt zurück, in: FR
vom 18.7. 2000, S. 7.
6 So soll das Erbschaftsaufkommen in den
nächsten zehn Jahren um 92 Prozent auf 2,5 Billionen Euro
steigen. Vgl. Thomas E. Schmidt, Die neue Bürgerlichkeit, in:
Die Zeit, Nr. 16 vom 11.4. 2002.
7 Udo di Fabio, "Wir brauchen ein neues
bürgerliches Zeitalter" (Spiegel-Gespräch), in: Der
Spiegel, Nr. 44 vom 31.10. 2005, S. 58 - 62, hier: S. 59.
8 Vgl. Dirk Westphal/Jessica Schulte am
Hülse, Neue Frömmigkeit in Berlin, in: Welt am Sonntag
vom 16.12. 2007, S. B1 oder Julia Schaaf, Latte Macciato mit Gottes
Segen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16.12. 2007,
S. 59.
9 Oskar Lafontaine im stern-Magazin, vom
15.7. 1982.
10 Vgl. Asfa-Wossen Asserate, Manieren,
Frankfurt am Main 20037.
11 Paul Nolte, Generation Reform.
Jenseits der blockierten Republik, München 2004.
12 Vgl. Gustav Seibt, Canaletto im
Bahnhofsviertel. Kulturkritik und Gegenwartsbewusstsein, Springe
2005.
13 Gustav Seibt, War da was?, in:
Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 28.12. 2005, S. 14.
14 Vgl. Christian Rickens, Die neuen
Spießer. Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten
Gesellschaft, Berlin 2006.
15 Jens Bisky, Zeit für einen
Abschied. Die "neue Bürgerlichkeit" ist nur ein Lifestyle
unter vielen, in: SZ vom 31.1. 2006, S. 11.
16 Ebd.
17 Man denke nur an die Tagungen
"Bürgerlichkeit ohne Bürgertum?" (9.6. 2007 auf Schloss
Neuhardenberg), "Wie bürgerlich ist die Moderne?
Bürgerliche Gesellschaft - Bürgertum -
Bürgerlichkeit" (13./14.7. 2007 in der Universität
Konstanz); auch der in Dresden stattfindende 47. Deutscher
Historikertag (30.9.-3.10. 2008) wird sich diesem Thema
widmen.
18 Heinz Bude, Vom Rand in die Mitte,
in: FR vom 4.1. 2006, S. 17.
19 So Heinz Bude in seinem Vortrag
"Einübung in Bürgerlichkeit" auf der Tagung
"Bürgerlichkeit ohne Bürgertum" am 9.6. 2007 auf Schloss
Neuhardenberg.
20 Vgl. bes. Jürgen Kocka (Hrsg.),
Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen
Vergleich, 3 Bde, München 1988.
21 Karl-Siegbert Rehberg, Metamorphosen
der Bürgerlichkeit, in: Heinz Bude/Joachim Fischer/Paul
Kaiser/Bernd Kauffmann (Hrsg.), Bürgerlichkeit ohne
Bürgertum, München 2008 (i.E.).
22 Helmut Schelsky, Gesellschaftlicher
Wandel (1956), in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit.
Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf-Köln 1965, S.
339f.
23 Rolf Lindner, "Unterschicht". Eine
Gespensterdebatte, in: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hrsg.),
Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der "Armen" in
Geschichte und Gegenwart (=Edition Parabasen; Bd. 8),
Freiburg-Berlin-Wien 2008, S. 9 - 18, hier: S. 10.
24 Jens Hacke, Bekenntnis zur
Bürgerlichkeit. Selbstbehauptungsmotive in der politischen
Philosophie der Bundesrepublik, in: vorgänge (Rückkehr
der Bürgerlichkeit), 44 (2005) 2, S. 33 - 44, S. 34.
25 Vgl. dazu die Einleitung der
Herausgeber zur "Sozialgeschichte der DDR" in: Hartmut
Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte
der DDR, Stuttgart 1994, S. 9 - 16, hier: S. 12: "Um Professoren,
Ärzte und Pfarrer geht es in den Beiträgen von Ralph
Jessen, Christoph Kleßmann und Detlef Pollack, während
Hartmut Zimmermann die Geschichte der höheren Funktionäre
behandelt. Damit stehen soziale Gruppen zur Debatte, die in der DDR
am ehesten Traditionen des Bürgertums fortsetzten oder
Äquivalente zum Bürgertum darstellten, während von
einer Fortexistenz wirtschaftsbürgerlicher Gruppen oberhalb
des ebenfalls nur rudimentär fortlebenden selbständigen
Kleinbürgertums nicht die Rede sein kann." Anmerkung der
Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Thomas Großbölting
in dieser Ausgabe.
26 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Geist im
Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961,
Berlin 2003, S. 49.
27 Jedenfalls behaupten die
führenden DDR-Soziologen diesen enormen Aufschwung der als
"Zwischenschicht" verorteten Großgruppe der Intelligenz;
beispielhaft: Rudi Weidig u.a., Sozialstruktur der DDR, Berlin
1988, S. 125 - 159. Diese Einschätzung teilen auch
westdeutsche Soziologen, u.a. Erika Hoerning, Vertikale
Mobilität in der DDR: Der Typus des Aufsteigers, in: Bios, 7
(1994) 2, S. 255 - 269, S. 257.
28 Günter Wirth, Gegenkultur aus
bildungsbürgerlichem Geist. Auch jenseits der marxistischen
Dissidenten gab es staatsferne Intellektuelle Inseln in derDDR, in:
FAZ (Bilder und Zeiten) vom 1.4. 1995, S. B 3.
29 Vgl. Dietrich Mühlberg, Wann
war 68 im Osten? Oder: Wer waren die 68er im Osten?, in: Berliner
Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, o.A.
(1999) 18, S. 44 - 58.
30 Matthias Middell, 1968 in der DDR:
Das Beispiel der Hochschulreform, in: Etienne Francois/Matthias
Midell/Emmanuel Terray/Dorothee Wierling (Hrsg.), 1968 - ein
europäisches Jahr? (=Beiträge zur Universalgeschichte und
vergleichenden Gesellschaftsforschung; Bd. 6), Leipzig 1997, S. 125
- 146, hier: S. 125.
31 Vgl. Paul Kaiser, Boheme im
"Arbeiter-und-Bauern-Staat". Offizialkultur und künstlerische
Gegenkultur im DDR-Staatssozialismus, Diss.,
Humboldt-Universität, Berlin 2007.
32 Peter Hübner, Einleitung:
Antielitäre Eliten?, in: ders. (Hrsg.), Eliten im Sozialismus.
Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR (=Zeithistorische
Studien; Bd. 15), Köln-Weimar-Wien 1999, S. 9 - 35.
33 K.-S. Rehberg (Anm. 21), S.
12.
34 Das Zitat findet sich bei Thomas E.
Schmidt, Reden über die Unbenennbaren, in: Die Zeit, Nr. 43
vom 19.10. 2006, S. 4.
35 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Die
verschämte Klassengesellschaft. In: Die Zeit, Nr. 48 vom
23.11. 2006, S. 14; Karl-Siegbert Rehberg, Die unsichtbare
Klassengesellschaft. Eröffnungsvortrag zum 32. Kongress der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: ders. (Hrsg.),
Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des
32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in
München 2004, 2 Bde, Frankfurt/M.-New York 2006, S. 19 -
38.
36 Vgl. Holm Friebe/Sascha Lobo, Wir
nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes
Leben jenseits der Festanstellung, München 20063.