Gedenkstunde
Der Bundestag hat an die Entmachtung des Parlaments im Jahr 1933 erinnert
Dass die Republik von Weimar neben vielen anderen Problemen gewiss zu wenig überzeugte und engagierte Demokraten hatte - bis in die Spitze ihrer Verfassungsorgane hinein -, gehört zu ihren größten Belastungen, unter denen sie schließlich zusammengebrochen ist.
Die politische Kultur der Weimarer Republik litt von Beginn an unter dem weit verbreiteten Zweifel über die Vorzüge und die Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Diese Skepsis war genährt von Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der Repräsentation und vom Misstrauen in die pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesse. Das verbreitete Unverständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen stürzte 1930 die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Reichsregierung. In der Auseinandersetzung um eine Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge erwiesen sich in der damaligen großen Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei und Bayerischer Volkspartei die jeweiligen Parteiinteressen größer als die gemeinsame Verantwortung für stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse. Schließlich wurde das Scheitern der Regierung eher in Kauf genommen als der Konflikt mit der eigenen Klientel. Die Republik ist deshalb keineswegs nur an ihren vielen Gegnern, die es zweifellos gab, zugrunde gegangen, sondern auch durch das Versagen ihrer demokratischen Stützen. (...) Das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich", das als "Ermächtigungsgesetz" in die Geschichte einging, zementierte am 23. März 1933 die nationalsozialistische Diktatur. Es wurde in einem Parlament verabschiedet, in dem die Mandate der KPD in einem offenen Verfassungsverstoß als nicht- existent behandelt wurden, einem Parlament, in dem die neuen Machthaber die Geschäftsordnung handstreichartig geändert hatten, um der NSDAP die nötige Mehrheit zu sichern, die sie selbst unter den Bedingungen der Wahl vom März 1933, die weder frei noch fair war, alleine nicht erzielt hatte. Weder die breite Öffentlichkeit noch die meisten Vertreter der Parteien und Verbände hatten die ganze Dimension und die weitgehenden Folgen dieses Gesetzes erkannt, das an Tragweite alle Ermächtigungen übertraf, die das Parlament jemals einer Regierung bewilligt hatte. Ohne jede parlamentarische Kontrolle war den Befugnissen der Reichsregierung künftig keine rechtliche Schranke mehr gezogen. Die Regierung, nicht das Parlament, war künftig befugt, Gesetze zu "erlassen", die auch von der Verfassung abweichen konnten - und sollten. Dies bedeutete das Ende des Rechtsstaates mit Folgen nicht nur für die staatliche Ordnung, sondern auch für das Leben jedes einzelnen Bürgers. (...) Bei der Abstimmung fehlten 107 Reichstagsabgeordnete: Die 81 Fraktionsmitglieder der KPD und auch 26 Abgeordnete der SPD, die bereits in Haft saßen oder sich aus berechtigter Angst um ihr Leben auf der Flucht befanden. Es ist das historische Verdienst der 94 verbliebenen sozialdemokratischen Abgeordneten, mit großem persönlichem Mut der Repression widerstanden zu haben. Sie weigerten sich, dem gewalttätigen Umsturz hinter der Fassade einer scheinbaren parlamentarischen Normalität den Ausweis von Legalität zu geben. Sie sind damit - die meisten von ihnen damals wie heute der breiten Öffentlichkeit unbekannt - zu stillen Helden der Demokratie und des Parlamentarismus in Deutschland geworden. Einer von ihnen war Paul Löbe, langjähriger Präsident des Reichstages, später Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages; er wertete das Ermächtigungsgesetz 1949 als einen "illegalen Akt" und den Widerstand dagegen als "eine patriotische Tat". (...) Die Auflösung der Weimarer Demokratie hat nicht erst am 30. Januar begonnen. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war eben nicht der Anfang vom Ende, sondern der Abschluss einer langen politischen Agonie, die als "nationale Erhebung" gefeiert in den nationalen Untergang führte. Zu dieser fast unbegreiflichen Entwicklung beigetragen hat nicht zuletzt ein erschreckender Mangel an Einsicht und Zivilcourage bei prominenten Vertretern der Wirtschaft, der Medien, der Kirchen wie der Universitäten. Die Weimarer Zeit kennzeichnete in Politik, Verwaltung, Justiz und Kultur ein zwar facettenreiches, in seinem Kern aber oft antidemokratisches Denken. Das machte auch und gerade vor den Universitäten und der Wissenschaft nicht halt. (...) Dass Berlin nicht Weimar ist, so wie Bonn nie Weimar wurde, manifestiert sich nicht zuletzt in dem großen Konsens, mit dem wir heute im deutschen Parlament - und nicht nur hier - auf das Jahr 1933 und seine Lektionen zurückblicken. Der deutsche Parlamentarismus ist auch heute nicht unangefochten, aber er erweist sich auch am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts als robuster und vitaler als gemeinhin vermutet - vielleicht nicht ganz so stark wie er sein könnte und nicht immer so selbstbewusst wie er gelegentlich sein sollte. Doch wo hatten und haben im internationalen wie im historischen Vergleich Parlamente ähnlich viel oder gar mehr Einfluss auf die Bildung und die Kontrolle von Regierungen, auf Gesetzgebung und die öffentliche Meinung als in Deutschland heute? Aus der Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar und der nationalsozialistischen Diktatur begründete sich der den westlichen Werten verpflichtete Geist des Grundgesetzes: der Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die Mitwirkung des Bürgers in einer pluralistisch und repräsentativ verfassten parlamentarischen Demokratie und die Verhinderung einer verselbständigten Staatsgewalt. Vor 60 Jahren wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat als Lehre von Weimar nicht allein die Funktionsfähigkeit des Regierungssystems verbessern. Sie leitete in ihren Verfassungsberatungen vor allem das Ziel einer wehrhaften Demokratie, in der sich demokratische Freiheiten nicht für die Zerstörung der freiheitlichen Demokratie missbrauchen lassen sollten. Während in der Weimarer Reichsverfassung die Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze galten, sind sie im Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares Recht und damit verbindliche Orientierung für die Gesetzgebung. Die Weimarer Verfassung hatte bei ihrer durchaus ehrgeizigen Formulierung naturgemäß noch nicht die Erfahrung ihres späteren Scheiterns, die wiederum zur prägenden Orientierung der Schöpfer des Bonner Grundgesetzes führte, die neue politische Ordnung in ihrem rechtsstaatlichen Kern durch den berühmten Artikel 79 Abs. 3 mit den Grundrechten und den Strukturprinzipien der Republik, der Demokratie, des Rechtsstaates, des Sozialstaates und des Bundesstaates unter besonderen, verfassungsrechtlich irreversiblen Schutz zu stellen. Bis heute ist das gelungen. (...)
Im nächsten Jahr können wir das 60jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland feiern. Ihre politische Stabilität und ihr großes Ansehen in der Welt war wie das Scheitern der Weimarer Demokratie weder zufällig noch zwangsläufig. Zur demokratischen Erinnerungskultur gehört, das eine genauso wenig für selbstverständlich zu halten wie das andere. Für beides gibt es Ursachen und gibt es Verantwortliche, nicht nur in den Parlamenten, aber hier ganz besonders. (...)