SPORT
Christoph Dieckmanns begeistertes Plädoyer für die Begeisterung
Eine unvergessliche Sport-Episode erlebte ich im Jahre 2000 in Bonn. Es war Fußball-Europameisterschaft. Im Hotel-TV sah ich, wie die Türkei den Gastgeber Belgien aus dem Wettbewerb kickte. Auf der Straße formierte sich, wild hupend, ein türkischer Autokorso. Ich betrat einen Dönerladen und gratulierte dem Inhaber zum nationalen Triumph. Der Mann starrte mich wütend an, hob das Messer und metzelte erbittert am Fleischzylinder. Zum Döner empfing ich die Erklärung: "Ich bin Kurde."
Es hat mir immer widerstrebt, dass man sich angesichts von Fußballspielen als Volksgenosse aufzuführen habe. Ich scheue alle Formen kollektiver Identität. Das ist herkunftsbedingt. Mein Vater war Pfarrer in einem Dorf am Ostharz, also in der DDR. Symbolhandlungen, Liturgien, Gesänge und Bekenntnisse gemeinschaftlichen Fühlens sind mir seit Kindesbeinen vertraut. Anderseits galten Christen im atheistischen Staat als Außenseiter. Dabei inszenierte und imitierte das SED-Regime gleichsam religiöse Riten - auch im Sport, zwecks Produktion von internationalem Prestige.
Die Einzelgänger-Perspektive macht nicht dümmer. Das Abseits ist ein guter Ort, falls man dort keine Wurzeln schlägt. Auf dem Dingelstedter Dorfsportplatz hielt ich klammheimlich Daumen für die Auswärtsmannschaft, als stritten dort elf einsame Pastorensöhne heldenmütig wider die Hausmacht der feindlichen Majorität. Bei Länderspielen blieb ich vorerst Deutscher. Ich war für die DDR (im Fußball Außenseiter) und für die westdeutsche Nationalelf - bis zum Weltmeisterschafts-Finale gegen England 1966. Die herzaufregende Partie erlebte ich im Fernsehzimmer eines lutherischen Pfarrer-Erholungsheims, als einziges Kind zwischen zwei Dutzend Pastoren der Frontgeneration. Es fiel das Wembley-Tor…
Ins schockgefrorene Schweigen krähte mein Knabensopran: "Der Ball war drin!" Ein Wutsturm brach los. Die Frontgeneration brüllte mich nieder. Nur dank entschlossenen Losheulens durfte ich das Spiel zu Ende gucken.
Es ist doch nur ein Spiel, pflegte mein sportferner Vater zu sagen. Das stimmte nie. Eher gilt der Satz des Liverpooler Trainers Bill Shankly, Fußball sei kein Kampf auf Leben und Tod, sondern weit ernster. Fußball ist so sehr nur ein Spiel wie eine Hymne nur ein Lied ist, Heimat bloß ein Stück Erde, das eigene Leben ein beliebiges Stück Biologie. Vielen missfällt mit Recht die Gewalt, die der Fußball anzieht. Viel größer ist die Gewalt, die der Fußball sublimiert. Fußball funktioniert als Kriegsersatz. Er reglementiert kollektive Konkurrenz. Auch individuell bindet er Aggression. Er lenkt Lebenswut in Bahnen, macht Sieg und Verlust zu erträglichen Gefühlen. Jedes Wochenende beginnt alles wieder neu - in Jena, Reykjavik und Buenos Aires.
Fußball ist zur globalen Kulturtechnik geworden. Er erzeugt Geschichte - regional und national. Er stiftet Erfahrungen und Regeln. Er definiert den Jahreslauf wie einst das Kirchenjahr. Er beherbergt vagabundierende Religiosität. Er schreibt Biografien. Er ist Leben und Abbild zugleich. Er gewährt Erinnerung, über die man miteinander sprechen kann. In einer auseinanderstrebenden Gesellschaft organisiert der Fußball jene Simultanität, ohne die kein soziales Bewusstsein entsteht. Nichts ist so globalisiert wie Fußball, und nichts derart sesshaft. Die Spieler kommen und gehen durch die Welt, die Anhänger bleiben. Die Vereinstreue ist die Urform der Monogamie.
Es mag befremden, dass hier so auswüchsig vom Fußball geredet wird, zudem nur vom angeschauten, nicht vom selbst gespielten. Der Deutsche Fußballbund ist der größte Einzelsportverband der Welt, man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft hierzulande weitaus gespannter erwartet wird als Olympia. Was Peking bringt, beschäftigt derzeit nur das politische Interesse. Dass Politik vom Sport zu trennen sei, hört man schon lange nicht mehr. Ich bin mit diesem Satz aufgewachsen und fand ihn plausibel in der Zeit des Kalten Kriegs. Man empfand es als erlösend, wenn die propagandistischen Medien der DDR einen anderen Ton anschlugen und West-Sportler lobten.
So waren die neuzeitlichen Spiele auch gedacht: als Antipolitik, als Brücke über die Klüfte von Nationalbefangenheit, Kriegshader und Ideologie. Die Nazi-Olympiade von Berlin 1936 beendete vorerst alle Illusionen vom unpolitischen Sport. Dennoch hinterließen diese zwei Berliner Sommerwochen im Gedächtnis ungezählter Zeitgenossen einen festlichen Klang. Dem Hitler-Regime, so der Tenor der Geschichtsschreibung, sei damals noch einmal die Täuschung "der Welt" gelungen. Berlin 1936, das war jener Boykott, den "die Welt" irrig unterließ.
Die Täuschung "der Welt" wird den Herren von Peking nicht gelingen. Es geht nicht nur um Politik und Menschenrechte. Auch die Doping-Pest hat das Ansehen des Hochleistungssports verhunzt. Pharmazeutische Spiele zerstören jenes Quantum gläubiger Naivität, das der televisionäre Sportfreund zur Begeisterung braucht. Dem edlen Wettstreit sprintender, kraulender, kugelstoßender Apotheken beizuwohnen, ist ein fragliches Vergnügen.
Das Pathos der olympischen Idee - Fairplay, Chancengleichheit, Leistungssteigerung ad ultimo - scheint so endgültig korrumpiert wie jene Amateur-Moral, die einst den sagenhaften Langstreckler Paavo Nurmi von Olympia ausschloss; angeblich hatte der Finne erhöhte Reisespesen genommen. Aber warum machen die Doping-Debatte und das Hasswort "Managergehälter" vor dem Fußball halt? Weil dieser Sport statt Moral nur noch Entertainment bieten soll? Fußball serviert das beste Kino, mit weltweit bekannten Stars, maximaler Popularität ohne US-amerikanische Dauerdominanz.
Kürzlich sah ich noch einmal Sönke Wortmanns "Wunder von Bern". Der Film gefiel mir nun viel besser, auch der innig-ironische Märchenton, der jenes Spiel als Gründungsmythos der Bundesrepublik erzählt. Dabei weiß jeder, dass Papa Herberger ehedem ein den Nazis genehmer Reichstrainer war, Fritz Walter mitnichten aktiver Antifaschist, und die weltweite Freude über ihren Weltmeistertitel empfanden 1954 selbstverständlich nur die Deutschen. Es gibt von jenem Spiel nicht nur die berühmte Rundfunkreportage des Ex-Panzerkommandanten Herbert Zimmermann, sondern, kaum bekannt, eine wunderbare zweite, die ein 27-jähriger Thüringer im DDR-Rundfunk sprach. Wolfgang Hempel schuf sie: ein Lehrstück sportbegeisterter Neutralität. Hempel tanzte auf hohem Seil, er pries die ungarische Fußballkunst wie den ergreifenden Kampf der Deutschen. Als die Sensation perfekt war, rief er aus: "Das Unvorstellbare ist passiert!" Daheim in Erfurt erwarteten den Vaterlandsverräter Stapel von Lynchpost. Noch 50 Jahre später schwor DDR-Alttrainer Georg Buschner, Hempel habe gerufen: "Ein Unglück ist geschehen!"
So waren die Deutschen. So sind sie nicht mehr. Bei der letzten Weltmeisterschaft häuften sich Zeugnisse multinationaler Fußball-Toleranz, die schon deutsche Weltkriegsgegner bedroht. 2007 fuhr ich von London Richtung Norden. Der Zug passierte das Wembley-Stadion. Ich erzählte dem Pärchen gegenüber, ich sei der einzige deutsche Zeuge des Wembley-Tors. Das machte eilends die Runde. Im Zug brach Begeisterung aus. Man telefonierte mit Verwandten und meldete den historischen Vorgang: Deutschland erkennt Wembley-Tor an! In Banbury, meinem Ziel, wurde mir ein Abhol-Service organisiert, der mich gratis über die Dörfer von Oxfordshire chauffierte.
Sehr nett endete auch die Geschichte mit dem kurdischen Döner-Verkäufer. Der Mann erkannte, dass ich ihn nicht foppen wollte, senkte das Messer und fragte: "Wo kommen Sie her?" - "Aus Berlin". Er nickte ernst und verpackte mir einen Zuckerkuchen: "Bitte. Geschenk für Berlin. Weil Türkei gewonnen hat."
Christoph Dieckmann ist Autor der
Wochenzeitung "Die Zeit".