Das Dopingthema ist in den vergangenen Jahren zu einem festen Bestandteil der Kommunikation über den Sport geworden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen einzelne Athleten, aber auch Trainer, Sportfunktionäre, Manager, Ärzte oder Apotheker, denen der Vorwurf gemacht wird, hinter einer Fassade der Regeltreue perfide Täuschungsakte vollzogen, abverlangt, unterstützt oder geduldet zu haben, um sportliche Leistungen zu steigern und um tatsächliche oder nur befürchtete Nachteile gegenüber Konkurrenten aus der Welt zu schaffen. Als Antriebsfaktoren werden übersteigerte Erfolgsmotive, Ruhmsucht, Geldgier und insgesamt moralische Verkommenheit unterstellt. Entsprechend einfach fallen die Reaktionen aus. Das Motto lautet: "Haltet den Täter und bestraft ihn!" Nur mit Kontrolle, Strafe und einer begleitenden ethischen Aufrüstung könne der mittlerweise existierende "Dopingsumpf", so die Meinung, nachhaltig trockengelegt werden.
Wenn nicht nur die Sportverbände Doping als individuelles Fehlverhalten darstellen, sondern Medienvertreter, Juristen, Pädagogen und selbst viele Dopingkritiker ins gleiche Horn stoßen, ist es Aufgabe der Soziologie, dieses weitverbreitete Beobachtungsschema zu unterlaufen und durch eine komplexere Version der Realität zu ergänzen. Das Fehlverhalten einzelner Personen wird damit nicht etwa relativiert oder entschuldigt, sondern lediglich in einen größeren Zusammenhang gestellt. Vor allem kommen die bislang verdeckten Stellgrößen in den Blick, an denen man anzusetzen hätte, um Doping wirksam zu reduzieren.
In einer soziologischen Perspektive steht fest: Doping ist nicht das Resultat isolierter individueller Entscheidungen, die etwa auf Grundlage eines schlechten Charakters oder fehlgeleiteter Siegesambitionen getroffen würden. Doping ist vielmehr als ein "normaler Unfall" anzusehen, der sich im heutigen Spitzensport aufgrund genau benennbarer sozialer Bedingungen immer wieder neu ereignet. Die starke Dopingneigung, die in vielen Disziplinen zu beobachten ist, wird strukturell erzeugt. Sie ist das unbeabsichtigte Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlichster Interessen aus Leistungssport, Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum.
Der soziologische Beobachter stößt zunächst auf die Logik des Leistungssports, der sich die Athletinnen und Athleten ohne Wenn und Aber zu unterwerfen haben. Handlungsleitend für alle, die in Wettkämpfen gegeneinander antreten, ist das Dual von Sieg und Niederlage. Diese Leitorientierung hat unerbittliche Wettkämpfe institutionalisiert und weltweite Konkurrenzen auf Dauer gestellt. Gewinnen kann immer nur einer. Der Zweite ist bereits der erste Verlierer. Das olympische Motto drückt diese auf Steigerung und Überbietung ausgerichtete Logik unmissverständlich aus: Schneller, höher, stärker! (Citius, altius, fortius!) Jeder Rekord ist nur dazu da, möglichst bald eingestellt zu werden. Das paradoxe Ziel leistungssportlichen Handelns besteht darin, niemals ein Endziel der Leistungsentwicklung festzuschreiben. Die einzige Freiheit, die individuelle Akteure in einer derart rigide vordefinierten Situation haben, besteht darin, sich dem Code nicht zu unterwerfen, den Spitzensport zu meiden oder nach einschlägigen Erfahrungen schnell wieder zu verlassen. Wer hingegen an organisierten Wettkämpfen Spaß hat, weil er sich dort vor den Augen eines zuschauenden Publikums mit Konkurrenten messen möchte, hat sich mit der Sieg/Niederlage-Orientierung zu arrangieren.
Soweit die den Code programmatisch ummantelnden Regeln der formalen Gleichheit und des offenen Wettkampfausgangs eingehalten werden, weiß am Anfang niemand, wer am Ende das Spielfeld oder das Stadion als Gewinner verlassen wird. Die aus der Ungewissheit der Leistungskonkurrenz entspringende Spannung ist insofern das Erlebniskorrelat von Situationen, die der Sieg/ Niederlage-Logik unterliegen. Spannende Wettkämpfe faszinieren die Zuschauer. Damit ist das zweite Element der dopingerzeugenden Akteurkonstellation benannt: das Sportpublikum. Dank einer gestiegenen Nachfrage und verbesserter verkehrs- und kommunikationstechnischer Möglichkeiten ist der Spitzensport in den vergangenen Jahrzehnten zu einem festen und zentralen Bestandteil der modernen Freizeit- und Unterhaltungsindustrie geworden. Der Anteil der Gesellschaftsmitglieder, die sich zumindest für eine einzelne Sportart dauerhaft interessieren, ist dementsprechend immer größer geworden.
Die Motive des Sportpublikums sind vielgestaltig. Sportliche Wettkämpfe bilden, weil sie spannend bis hin zur Unerträglichkeit sind, eine Insel der Abwechslung und kurzweiligen Ungewissheit im modernen Meer der alltäglichen Routine und Langeweile. Menschen können als externe Beobachter an einem inszenierten sozialen Konflikt teilhaben, ohne hierbei selbst leistungsmäßig gefordert zu werden. Für sie steht nichts auf dem Spiel. Es sind die Athleten, die sich bis zur völligen Erschöpfung verausgaben und bisweilen auch Kopf und Kragen riskieren. Die Zuschauer können mitzittern, euphorisch den Sieg feiern oder zerknirscht die Niederlage kommentieren. Dennoch gibt es für sie ein unbelastetes Genießen, ein erfülltes Gegenwartserleben. In der Beobachtung der Krisenbewältigung der Anderen vergisst der Einzelne sich selbst und seine Nöte und erreicht so einen Zustand der Selbst- und Seinsvergessenheit. Sportliche Wettkämpfe sind für das Publikum weiterhin interessant, weil sie neben dem Spannungserleben körperorientierte ästhetische Erfahrungen ermöglichen und Gemeinschaftserlebnisse jenseits von Intimität und Nähe zulassen. In einer Welt auseinanderlaufender Zeithorizonte, biographischer Brüche und Diskontinuitäten erschließt der Zuschauersport außerdem eine Sphäre der längerfristigen Verlässlichkeit und Kontinuität. Die Rhythmik sportlicher Wettkämpfe kann Halt geben, den Alltag strukturieren helfen und eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen. Schließlich ermöglicht der Sport noch eine harmlose Art der Heldenverehrung. Die Zuschauer können an einer geschlossenen Welt partizipieren, in der einzelne Personen oder Gruppen noch den alles entscheidenden Ausschlag zu geben vermögen. Der Sportheld legitimiert sich durch Leistungen, und nicht etwa durch die Umsetzung vormoderner Mechanismen der Positionsverteilung wie Geburt, Alter, und Herkunft.
Das Sportpublikum taucht im Kontext der Dopingproblematik als eine unorganisierte "Masse" auf, die durch ihre Nachfrage nach sportlichen Höchstleistungen soziale Aufmerksamkeit selektiv verteilt: Verehrung für die Erfolgreichen und Aufmerksamkeitsentzug für die Verlierer. Damit bewirken die Zuschauer, dass mehrere andere Bezugsakteure ihre Interessen mit dem Spitzensport verbinden und diesen dadurch mit Möglichkeiten und Zwängen konfrontieren.
Das Publikumsinteresse an Rekorden und spannenden Wettkämpfen weckt zunächst die Aufmerksamkeit der Massenmedien. Damit betritt ein weiterer Akteur der Dopingkonstellation die Bühne. Fernsehen, Radio und Printmedien informieren ihre Zuschauer, Hörer und Leser gemäß eigener Selektionsregeln über Sportereignisse. Medien bevorzugen Informationen, die einen hohen Neuigkeitswert besitzen, konfliktträchtig sind, quantitative Verrechnungen ermöglichen, lokale, nationale und internationale Bezüge aufweisen und zudem personalisierbar und moralisierbar sind. Der Leistungssport bedient all diese Kriterien in besonderer Weise: Wettkämpfe bieten, erstens, eine Serienproduktion von Neuheit - man denke nur an die Berichterstattung über die Fußball-Bundesliga. Permanent passiert etwas Neues: Mannschaften steigen auf oder ab; Trainer werden eingestellt oder gefeuert; Spieler sind verletzt oder haben sich regeneriert; Torhüter überziehen einander wechselseitig mit Beleidigungen; Spieler der Reservebank äußern ihren Unmut oder die Ehefrauen der Spieler treten untereinander in einen Schönheitswettbewerb. Die Auseinandersetzungen, die der sportliche Wettkampf regelgeleitet in Szene setzt, sind, zweitens, konfliktträchtig. Mindestens zwei Parteien treten gegeneinander an, um ein knappes Gut, den sportlichen Sieg, zu erringen. Ego will haben, was Alter ebenfalls für sich verbuchen möchte. Damit ist eine Grundsituation definiert, die Drama-Qualitäten aufweist und für mediale Übertragungen und Kommentierungen par excellence geeignet ist. Der Sport erzeugt, drittens, durch seine Messrationalität ein Zahlen-, Tabellen- und Datenuniversum, über das sich trefflich kommunizieren lässt. Der Wettkampfsport produziert permanent Ergebnisse, wer wann, wo und zum wievielten Male eine bestimmte Leistung erbracht und sich gegen wen durchgesetzt hat. Hierbei wird die Komplexität des Wettkampfgeschehens auf dem Rasen oder in einer Sporthalle auf Zahlen reduziert, die dann wiederum als Aufhänger für das Erzählen von Anekdoten und Hintergrundgeschichten und das Zeigen alter Aufzeichnungen geeignet sind. Durch die Ausdehnung des Sports von der lokalen bis hin zur internationalen Ebene sind sportliche Ereignisse, viertens, geeignet, Emotionen über Identifikationsprozesse nahezu beliebig auszulösen, was für die Medien, die ihre Einschaltquoten erhöhen und Zeitungsauflagen verkaufen wollen, besonders interessant ist. Fünftens ist der sportliche Wettkampf leicht moralisierbar und personalisierbar: Die Differenz zwischen Fairplay und Foulplay kann man im Fernsehen eben nicht nur in Gestalt von Filmen, Bildern und O-Tönen zeigen oder zu Gehör bringen; man kann die Geschehnisse auch anhand des Moralschemas von Gut und Böse kommentieren und sich selbst als Sachwalter der Fairness installieren. Denn dort, wo Regeln existieren, werden diese bisweilen auch überschritten. Und der Personalisierungsbedarf der Medien - insbesondere der des bildorientierten Fernsehens - lässt sich durch die Sichtbarmachung individueller Leistung im Sport sowie die Verehrung von Sporthelden leicht befriedigen.
Radio, Fernsehen und Zeitung informieren ihre Hörer, Zuschauer und Leser nicht umfassend neutral über Sportereignisse, sondern bevorzugen die Erfolgreichen. Verlierer werden kritisch kommentiert oder gar nicht erwähnt. Durch ihre Fähigkeit, Informationen mit Hilfe technischer Errungenschaften zu vervielfältigen und zu verbreiten, sind die Medien zu wichtigen Bindegliedern in der Verwertungskette des Spitzensports geworden. Denn sie wecken die Interessen von zwei weiteren Arten von Akteuren, die durch ihre spezifischen Einflüsse dazu beitragen, dass im Spitzensport eine starke Dopingneigung entstehen konnte, nämlich von Wirtschaft und Politik.
Sponsoren geben Geld in den Sport, um das wirtschaftlich Wichtige mit Hilfe sportlicher Akteure und Situationen zu steigern. Der Sport ist nicht nur ein attraktives Werbemedium, sondern auch ein interessanter Absatzmarkt für Konsumgüter. Die Politik subventioniert den Spitzensport vor allem, um Begleitaufmerksamkeit für Politiker und deren Wiederwahlinteressen herzustellen. Was eignet sich besser für die harmlose Herstellung von Wir-Gefühlen und die Repräsentation der Nationalgesellschaft im Ausland, als sportliche Siege auf internationalem Parkett, die dank medialer Verbreitung ein Massenpublikum erreichen und begeistern können? So versuchen Politiker durch die Nähe zum Sport Eingang in die öffentliche Meinung zu erlangen und durch die Nähe zum Sportpublikum eine Gewogenheit bei zukünftigen Wahlentscheidungen zu gewinnen. Politik und Wirtschaft nutzen also die gesellschaftsweite Sichtbarkeit des Spitzensports, um sich selbst sichtbar zu machen und ins rechte Licht zu rücken.
Wirtschaft und Politik sind ebenso wie das Publikum und die Massenmedien uneinsichtig bezüglich ihrer Beteiligung und Rolle in der Dopingproblematik und konfrontieren Athleten und Sportverbände mit zahlreichen Beziehungsfallen: Politiker zeigen sich entrüstet, wenn Sportler des Dopings überführt werden, fordern ein härteres Durchgreifen der Verbände und beteiligen sich mit Steuergeldern an der Dopingbekämpfung - wobei sie diesbezüglich deutlich knauseriger als bei der Förderung und Belohnung von Spitzenleistungen sind. Bei ausbleibender Medaillenausbeute kürzen sie überdies die Fördergelder für die weniger erfolgreichen Sportarten. Sponsoren wissen, dass nur ein als "sauber" erscheinender Sport langfristig ihre Werbeinteressen bedient. Sie schreiben deshalb Anti-Doping-Klauseln in ihre Athletenverträge, aber wechseln beim Versagen der von ihnen geförderten Athleten ebenfalls schnell zu erfolgreichen Sportlern oder Mannschaften über, die (noch) nicht des Dopings überführt worden sind.
Die wichtigsten Konsequenzen aus dem Beziehungsgeflecht zwischen Spitzensport, Publikum, Massenmedien, Wirtschaft und Politik lassen sich wie folgt resümieren: Die sportliche Siegesorientierung ist durch die dem Sport von außen verfügbar gemachten Ressourcen geradezu entfesselt worden. Viele Gelder fließen in die Vereine und Verbände. Hauptamtliche Trainer finden eine Anstellung und werden vertraglich auf die Erfolge ihrer Schützlinge eingeschworen. Aus Amateuren sind längst Vollzeit-Athleten geworden, die sich selbst in jenen Disziplinen mit Haut und Haaren hinzugeben haben, in denen wenig Geld fließt. So geraten die Sportler durch den immer weiter eskalierenden Erfolgsdruck in eine Situation, in der sich die starke Nachfrage nach hochkarätigen Leistungen durch Publikum, Medien, Politik und Wirtschaft nicht mehr mit den begrenzten körperlichen und psychischen Möglichkeiten in Einklang bringen lässt. Durch die Entfesselung des Siegescodes kommt es zu einer Totalisierung des Leistungssports und zu einer Überforderung von Körper und Psyche.
Die inneren Kontrollmechanismen, die der Sport in Gestalt von Fairplay-Orientierungen traditionell ausgebildet hat, geraten immer mehr unter Druck. Die noch unter den Bedingungen einer geringen gesellschaftlichen Bedeutung des Leistungssports entstandene Sportmoral verflüchtigt sich in zunehmender Weise. Legale Innovationen wie Technik, Taktik und Training werden nicht länger als alleinige Fortschrittsmotoren für die Steigerung sportlicher Leistungen angesehen. Ungewollt, aber unvermeidlich wird ein heimliches Experimentieren in den Grau- und Verbotszonen der Leistungsförderung angeregt. Dopingmöglichkeiten werden von den Sportlern nicht mehr gemäß Fairness-Normen verworfen, sondern unter Kosten/Nutzen-Gesichtspunkten abgewogen und gegebenenfalls klammheimlich ergriffen. Doping ist somit eine strukturell vorgeprägte rationale Wahlhandlung: Sozial als legitim angesehene Ziele wie sportliche Erfolge und Siege werden mit illegitimen Mitteln verfolgt. Die oftmals enormen, aber zumeist mit zeitlicher Verzögerung eintretenden gesundheitlichen Risiken werden entweder verdrängt oder zähneknirschend in Kauf genommen.
Bis hierher sollte klar geworden sein, dass eine personenfixierte und lediglich auf Kontrolle, Bestrafung und ethische Aufrüstung setzende Auseinandersetzung mit der Dopingproblematik vollkommen an der Sache vorbeigeht. Die Ursachen und Dynamiken der Abweichung sind auf der überpersonellen Ebene komplexer gesellschaftlicher Konstellationen angesiedelt. Entscheidend ist, dass auch diejenigen Akteure, von denen der Erfolgsdruck ausgeht, diesen nicht einfach abstellen können. Auch sie handeln nicht aus freien Stücken und regen nicht mutwillig zu Normverstößen an, sondern unterliegen ihrerseits strukturellen Zwängen. Letztlich handelt jeder Akteur aus seiner Sicht völlig rational: Wirtschaftsunternehmen wollen mit dem Spitzensport werben und Produkte verkaufen; staatliche Instanzen wollen Nähe zum Sportpublikum herstellen, und Politiker sind darauf aus, die eigene Wählbarkeit zu steigern; Medien wollen ihre Einschaltquoten und Auflagen erhöhen und das Publikum will an spannenden Sportereignissen teilhaben. Ein Resultat des Zusammenwirkens all dieser nachvollziehbaren und legitimen Interessen ist Doping.
Die nationalen und internationalen Sportverbände werden angesichts dieser Situation aufgefordert, den Spitzensport vom Dopingproblem zu befreien. Ihre diesbezüglichen Maßnahmen stoßen jedoch auf sehr große Schwierigkeiten, denn auch die Sportverbände sind durch die massive Nachfrage nach sportlichen Höchstleistungen durch Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum in neuartige Handlungsdilemmata hineingeraten. Um es auf den Punkt zu bringen: Wer als Verband dauerhaft die offiziellen Anti-Doping-Regeln und die hiermit verbundenen Verhaltensstandards durchsetzt und die Dopingsünder unbarmherzig aus dem Verkehr zieht, um so die Regeltreuen vor einer Anpassung durch Abweichung zu bewahren, wird von außen durch Ressourcen- und Achtungsentzug bestraft. Geld, Publikums- und Medienaufmerksamkeit gibt es schließlich nicht für erfolgreich durchgesetzte Anti-Doping-Maßnahmen, sondern aufgrund von Medaillen bei internationalen Meisterschaften - und dies in einem global betriebenen Spitzensport, in dem Doping in vielen Disziplinen an der Tagesordnung ist.
Aus Sicht der Soziologie kann eine Dopingbekämpfung nicht ausschließlich und nicht einmal vorrangig auf personenorientierte Maßnahmen setzen. Kontrollen und Bestrafungen sowie Charakterstärkung durch Fairplay-Initiativen und Aufklärungsmaßnahmen haben ihren Sinn, bleiben aber bestenfalls Stückwerk, wenn sie nicht von wirksamen strukturellen Maßnahmen begleitet werden. Da Doping ein Konstellationsprodukt ist, muss letztlich die dopingerzeugende Konstellation geändert werden. Die Dopingbekämpfung ist daher zuallererst als "Konstellationsmanagement" zu konzipieren und zu realisieren. Das heißt: Maßnahmen der Dopingbekämpfung müssten unter all jenen Akteuren abgestimmt werden, die ihren Anteil an der Problemerzeugung beigesteuert haben. Kollektiv erzeugte Probleme lassen sich nur kollektiv lösen.
Auf dem Papier sieht alles recht einfach aus: Die Politik hätte ihre Interventionsmöglichkeiten gegenüber dem organisierten Sport selbstbewusst zu nutzen und müsste mehr als bisher die Vergabe der Fördermittel an faktisch geleistete Maßnahmen der Dopingbekämpfung koppeln oder die Anti-Doping-Bemühungen der Verbände durch weitere gesetzgeberische Maßnahmen unterstützen. Wirtschaftsunternehmen dürften ihre Sponsorengelder nur noch an diejenigen Verbände vergeben, die ihre Athleten intelligenten und engmaschigen Dopingkontrollen unterwerfen. Veranstalter dürften nur diejenigen Sportler zu Wettkämpfen einladen, die sich nachweislich den Kontrollverpflichtungen der Verbände gefügt haben. Die Wissenschaft hätte justitiable Nachweisverfahren für bislang noch nicht nachweisbare Dopingmittel zu entwickeln und - wie die Soziologie - ein Orientierungswissen über die soziale Komplexität des Dopingproblems zu produzieren. Die Medien hätten dies durch eine kritische Sportberichterstattung zu unterstützen und Anti-Doping-Klauseln in die Verträge mit Sportverbänden zu schreiben. Das Sportpublikum sollte all diese Maßnahmen durch beifälliges Interesse abstützen und diejenigen, die nicht mitmachen, durch Nichtbeachtung strafen.
Allerdings sind bei der Umsetzung eines solchen abgestimmten Bündels von Maßnahmen gewichtige Probleme zu erwarten und müssten durch einen "Runden Tisch" oder eine "konzertierte Aktion" bearbeitet werden: Erstens ist die Einsicht der Konstellationsakteure in die eigene Verstricktheit in das Dopingproblem noch nicht weit verbreitet. Der bisherige personenfixierte Umgang mit Doping, der sich seit Jahrzehnten "bewährt" hat, hilft dabei, das Problem auf den Sport und dessen Akteure abzuschieben und die eigenen Verstrickungen und Handlungsdilemmata unthematisiert zu lassen. Sowohl Sponsoren und politische Finanzgeber als auch Massenmedien und Publikum wehren sich energisch dagegen, beim Doping in irgendeiner Weise mitgemeint zu sein. Doping ist schließlich kein Thema, das mit der Leichtigkeit des Seins, mit Spaß, Lebensfreude, Gesundheit oder Fairness zu tun hat und mit dem man gerne Werbung in eigener Sache betreiben möchte. Es ist vielmehr extrem negativ besetzt, da es auf betrügerische Machenschaften, Lügen, Verheimlichen und das Hintergehen offizieller Verhaltensstandards hindeutet. Außerdem sind die physischen und psychischen Konsequenzen des Dopings alles andere als erfreulich. Athleten ruinieren ihre Gesundheit, tragen psychische Folgeschäden davon, nicht wenige sind daran bereits gestorben. Man denke nur an den frühen Tod der deutschen Siebenkämpferin Birgit Dressel im Jahre 1987. Und auch die Körpersäfte, mit denen Biochemiker und Pharmakologen zu tun haben, wenn sie Doping nachzuweisen versuchen, gehören eher in die Kategorie des Unappetitlichen.
Die Einnahme einer derartigen Pilatus-Haltung wird dadurch erleichtert, dass sich die Effekte von Handlungsverstrickungen nicht linear auf einzelne Verursacher zurückführen lassen, sondern wie erläutert erst durch das Zutun vieler Akteure zustande kommen. Doping ist das Resultat multipler, durchaus unübersichtlicher Verstrickungen und nicht das Ergebnis weniger Einzelentscheidungen, die untereinander intentional abgestimmt worden wären. Hinzu kommt, dass die technische Trennung zwischen Sender und Empfänger sowohl beim Publikum als auch bei den Medienanstalten leicht zu der Einschätzung führt, dass man mit dem, was im Spitzensport passiert, überhaupt nichts zu tun habe. Auch Wirtschaft und Politik (Ausnahme: totalitäre Regime) stiften nicht zum Doping an, sondern helfen "lediglich" dabei, den Siegescode des Spitzensports zu "entfesseln"; dies passiert nicht mittels Befehl und Gehorsam, sondern über die Zuweisung oder den Entzug von Geld oder geldwerten Vorteilen sowie öffentlicher Aufmerksamkeit.
Erschwerend für ein erfolgreiches Konstellationsmanagement ist, zweitens, dass diverse Teilgruppen von Akteuren - beispielsweise einzelne Medienanstalten oder Wirtschaftsunternehmen - untereinander in schärfsten Konkurrenzbeziehungen stehen und daher nicht alle gleichzeitig an einem Strang ziehen. Wenn die eine Firma sich stark in der Dopingbekämpfung engagiert und auf eine Förderung von Sportlern verzichtet, die sich mehrfach kontrollunwillig gezeigt haben, lacht sich die andere klammheimlich ins Fäustchen und profitiert von der Dopingpraxis der noch nicht erwischten Sportler.
Auch die Konkurrenz von Nationalstaaten untereinander führt dazu, dass nicht alle politischen Akteure einen strikten Anti-Doping-Kurs unterstützen - insbesondere wenn nationale Gesinnungen und Identitäten scheinbar auf dem Spiel stehen und durch sportliche Erfolge der eigenen Athletinnen und Athleten stark gemacht werden sollen. Die Auseinandersetzungen zwischen Ost und West führten oft dazu, dass Doping in den entwickelten Gesellschaften des Ostens heimlich im Kampf gegen die "Klassenfeinde" eingesetzt wurde. Demgegenüber wurde in den westlichen Sportverbänden über das Sich-dopen der eigenen Sportler hinweggesehen, weil es die Fahne der Freiheit und Demokratie gegenüber den "Staatsamateuren" des Ostens hochzuhalten und ungleiche Startbedingungen zu kompensieren galt.
Insofern ist nicht generell davon auszugehen, dass alle Konstellationsakteure gleichzeitig reflexions- und verhandlungswillig sind. Verhandlungsbereit sind Akteure in der Regel nur dann, wenn sie sich positive Ergebnisse ausrechnen. Wenn sie hingegen Nachteile erwarten, wird ihre Verhandlungswilligkeit eher niedrig ausfallen. Wer begibt sich schon gerne sehenden Auges in eine Verhandlungssituation hinein, in der keine Vorteile und Gewinne in eigener Sache zu erwarten sind? Wenn demzufolge nur ein Akteur der dopingerzeugenden Konstellation ohne die notwendigen Absprachen und Selbstverpflichtungen besser fährt als mit ihnen, man außerdem einen hohen kostenträchtigen Verhand-lungsaufwand betreiben müsste und sich zudem öffentlich und eventuell geschäftsschädigend als Teil einer problemerzeugenden Konstellation darzustellen hätte, fallen ernsthafte Bemühungen gegen Doping schwer.
Ein drittes Hemmnis liegt in der Schwierigkeit begründet, das Konstellationsmanagement im Weltmaßstab zu institutionalisieren und zu synchronisieren. Der Spitzensport hat sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem Global Player entwickelt und entsprechend ausgerichtete Organisationen ausgeprägt. Er konnte sich aus einzelnen Nationalgesellschaften herauslösen und in ein transnationales Gebilde transformieren - ebenso wie die modernen Finanzmärkte, die Massenkommunikation und die zeitgenössische Popkultur.
Ein Konstellationsmanagement hätte nicht nur die internationalen Sportorganisationen zu erfassen, sondern auch die globalen Spieler in Wirtschaft, Politik und Massenmedien an einem "Runden Tisch" zusammenzubringen. Auch wenn die Internationalisierung der Sportorganisationen bereits weit fortgeschritten ist und auf dieser Ebene erste Erfolge in der Handhabung des Dopingproblems erkennbar sind (Beispiel: die Standardisierungseffekte in der Dopingbekämpfung durch die Einrichtung der Welt-Anti-Doping-Agentur), haben sich die anderen Konstellationsakteure noch nicht in einer erkennbaren Weise zu verhandlungsfähigen supranationalen Einrichtungen zusammengefunden. Die Uneinsichtigkeit der außersportlichen Akteure im nationalen Kontext verdoppelt und verstärkt sich durch ihre Uneinsichtigkeit auf der internationalen Ebene.
Eskalatorische Spiralen und Aufschaukelungseffekte können prinzipiell in ihrer Dynamik begrenzt und zurückgefahren werden, wenn die an der Problemerzeugung beteiligten Bezugsgruppen zur Problemlösung mit herangezogen werden und verhandlungsbereit sind - siehe etwa die Abrüstungserfolge, die zwischen den damaligen "Supermächten" von den 1970er Jahren an ausgehandelt werden konnten.
Ob die Akteure des Spitzensports ein dauerhaftes Interesse daran haben, ein Konstellationsmanagement durchzuführen und hierbei die Einsichten der Soziologie zu nutzen, um die Dopingquote zu vermindern, bleibt abzuwarten. Bislang scheinen nicht wenige Akteure in Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum von der "brauchbaren Illegalität" des unentdeckten Dopings der Athleten noch so stark zu profitieren, dass ein dringlicher und pauschaler Veränderungswillen nicht unterstellt werden kann. Die Risikoabwälzung erfolgt bisher hauptsächlich einseitig zuungunsten der Sportler. Nicht nur, dass die Sportler die möglichen, teilweise äußerst gravierenden Gesundheitsgefährdungen des Dopings auf sich nehmen müssen, sie sind auch die Sündenböcke, die im Fall ihrer Entlarvung auf dem Altar hochgehaltener Werte geopfert und mit dem ganzen Inventar sozialer Degradierungszeremonien sanktioniert und diffamiert werden.
Wenn die illegitime Innovation durch Doping aufgedeckt und zu einem öffentlichen Skandal gemacht wird, gehören bislang die innere Logik des Leistungssports und die Erwartungsträger in Wirtschaft, Politik, Medien und Publikum nicht zu jenen, die an den Pranger gestellt werden. Indem die außersportlichen Konstellationsakteure auf den Sport und dessen Sozialfiguren verweisen, wenn über Doping kommuniziert wird, entlasten sie sich selbst von einer Mitschuld. Dies sollte die Veränderungswilligen aber nicht entmutigen - vielleicht lassen sich doch noch strategische Allianzen denken und realisieren, die als Avantgarde eines Konstellationsmanagements mögliche Mitzieheffekte und Vorbildwirkungen erzielen könnten. 1
1 Vgl.
weiterführend Karl-Heinrich Bette/Uwe Schimank, Die
Dopingfalle, Bielefeld 2006; dies. Doping im Hochleistungssport.
Anpassung durch Abweichung, Frankfurt/M. 20062.