Geschichte der Kindheit
Als das Kind als »Produkt« bürgerlicher Liebesvorstellungen angesehen wurde, änderte sich alles
Nie war so viel Kindheit wie heute. Wenn die Trendforscher Recht haben, dann ist Dreißig längst das neue Zwanzig und Vierzig das, was früher Dreißig war. Menschen, die einstmals als erwachsen galten, lesen heute Harry Potter oder schauen Zeichentrickfilme, gehen mit Walkman zur Arbeit und fahren mit Rollschuhen in den Feierabend. Die Kulturkritik hat seit geraumer Zeit ein Phänomen ausgemacht: Das so genannte Peter-Pan-Syndrom. Gemeint ist eine kulturelle Verjüngungskur, die zu Kleidung ohne Förmlichkeit, zu Sex ohne Fortpflanzung, zum Kauf ohne Zweck, zu einem Narzissmus bis ins hohe Alter führt. Der namhafte Politologe Benjamin Barber geht in einer aktuellen Publikation sogar von einem "infantilistischen Ethos" aus. Dieses habe nach seiner Meinung bereits die gesamte westliche Kultur ergriffen.
Dabei ist Kindheit seit jeher nicht mehr als eine kulturhistorisches Konstrukt gewesen. Der Kommunikationswissenschaftler Neil Postman sprach bereits 1982 in seiner vielbeachteten Publikation "Das Verschwinden der Kindheit" davon, dass Kindheit, im Gegensatz zum Säuglingsalter, nicht mehr als ein gesellschaftliches Kunstprodukt sei. Und der französische Mittelalter-Experte Philippe Ariès, der mit seinem Buch Geschichte der Kindheit einst eine ganze Disziplin der historischen Forschung begründete, hat in seiner Untersuchung festgestellt, dass die mittelalterliche Zivilisation nicht einmal eine Vorstellung von Erziehung gehabt habe. Das Wort Kind brachte bis in die Renaissance hinein vermutlich nicht mehr als eine Verwandtschaftsbeziehung zum Ausdruck. Erst das 18. Jahrhundert brachte einen Kindheitsbegriff hervor, der annähernd mit heutigen Vorstellungen vergleichbar ist.
Die Erfindung der Kindheit hängt dabei im Wesentlichen an der Nabelschnur des Wortes Mutterliebe. "Die Geschichte der Kindererziehung", schreibt der Historiker Edward Shorter, "ist die Geschichte, wie Ferne und Unbekümmertheit ihren Platz frei machen für intensive Fürsorge: die Geschichte der Kristallisation der Muttergefühle".
Nichts zeigt daher den Wandel des Kindheitsbegriffs nachdrücklicher als eine Untersuchung zum Phänomen der Kindstötung. Deren Auftreten und Häufung kann Indikator dafür sein, welche Rolle man Kindern einst zugemessen hat. Es ist erstaunlich: Erst im Jahr 374 nach Christus taucht ein Gesetz auf, das Kindstötung für das Römische Reich unter Strafe stellt. Dieses Dokument ist ein Fortschritt. Ein Blick in medizinhistorische Archive beweist indes, dass es noch gut 1.500 Jahre dauern sollte, bis sich diese Neuerung auch in den entlegensten Winkeln Europas rumgesprochen hatte. Gingen frühere Forschungen noch davon aus, dass die hohe Kindersterblichkeit - bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Europa nahezu jedes zweite Kind nicht einmal in Jahr alt - einzig Produkt von Unwissenheit oder schlechter Hygiene gewesen sei, so verweisen jüngere Untersuchungen darauf, dass hier oftmals nur die Unfähigkeit zur elterlichen Empathie am Werk gewesen sei. Mutterliebe ist nach dieser Interpretation demnach nicht das Produkt des "ewig Weiblichen", sondern Ergebnis eines "linearen Modernisierungstrends".
Neil Postman hat in diesem Zusammenhang auf ein interessantes Phänomen aufmerksam gemacht: Wann immer in den Märchen der Vormoderne Kinder auftauchten, bestand ihre Hauptrolle darin, zu sterben - "meist zu ertrinken, zu ersticken oder ausgesetzt zu werden". Die Fiktion ist in diesem Punkt scheinbar weniger symbolisch gewesen, als dies die Märchenforschung zuweilen angenommen hat.
Doch dann kam der Wandel. Unaufhaltsam und von Oben nach Unten. Er vollzog sich mit den großen Umwälzungen in den ökonomischen Lebensbedingungen - mit Industrialisierung und französischer Revolution. Stand bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die "Große Hausfamilie" im Zentrum sozialer Bindung - ein ökonomischer Zweckverbund, dessen Gemeinschaft allenfalls durch ein Ideal, aber nicht nur emotionale Neigung getragen wurde -, so führten neue Wirtschaftsformen zur Entdeckung von Kern- und Kleinfamilie. Besonders in den wachsenden Städten sorgte die Trennung von Arbeit und Wohnen zur Erfindung der Privatsphäre. Diese schottete sich zunehmend gegenüber dem öffentlichen Leben ab. Die Familie als Wirtschaftsgemeinschaft wurde durch die Familie der Liebesgemeinschaft ersetzt. In deren Folge wurde nicht nur die eheliche Beziehung intensiviert, auch dem Kind wurde zunehmend Individualität zugestanden. Denn wenn die Ehe auf der Verbindung zweier sich liebender Individuen beruhte, dann mussten auch die hieraus hervorgehenden Kinder als "Produkt" bürgerlicher Liebesvorstellungen angesehen werden. Von diesem Punkt an änderte sich alles: Die Art, wie Kinder gewickelt wurden und die Art, wie man Weihnachten verbrachte, das Selbstverständnis der Frau als fürsorgender Mutter und dass des Mannes als bevormundender aber meist abwesender Vater.
Damit einher ging eine wissenschaftliche Neuerungsbewegung: Die Pädagogik. Hervorgegangen aus dem Denken der Aufklärung war diese zunächst vornehmlich darauf bedacht, das Individuum aus den Zwängen von Standeszugehörigkeit und Unvernunft herauszuholen. Es verwundert daher nicht, dass die ersten pädagogischen Schriften der Moderne just von jenen Autoren stammten, die sich auch in politischen wie philosophischen Fragen um die Befähigung des Menschen zur Freiheit Gedanken gemacht hatten: Von John Locke etwa, Jean-Jacques Rousseau oder Johann-Heinrich Pestalozzi. Ihre Ideen zur Erziehung des kindlichen Individuums spiegelten im Kleinen wieder, was die Gesellschaften jener Jahre auch auf politischer Ebene durchliefen. So wies John Locke etwa in seinen Gedanken über Erziehung darauf hin, dass es eben die Erziehung sei, "welche die großen Unterschiede unter den Menschen schafft. Die kleinen oder nahezu unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und dauernde Folgen." Damit war nicht nur erstmals ausgesprochen, welch immensen Einfluss die frühkindliche Entwicklung auf den Werdegang eines Menschen hatte. Locke unterstrich zudem indirekt das Primat der Erziehung vor dem Recht der Geburt.
Jean-Jacques Rousseau, aber auch die bald aufkommende Bewegung der Philanthropen unterstützte Locke in dieser Auffassung. Erst, so Rousseau, müsse ein Kind zum Menschen erzogen werden, anschließend könne es Bürger werden. Das Ziel jeder Erziehung müsse daher in der Befähigung zum glücklichen und zum selbstbestimmten Leben liegen. Ein durch und durch aufklärerischer Gedanke, den viele später auf die Einübung zur bürgerlichen Tugendhaftigkeit verkürzt haben.
Bei allen Unterschieden - in einem ist sich die Pädagogik seither einig: Ein Kind wurde nicht mehr von sich aus zum Menschen. Es musste zum solchen gemacht werden. Familien und Schulen, Eltern, Erziehern und Lehrern fiel seither diese nicht immer ganz einfache Aufgabe zu. Der Philosoph Immanuel Kant geriet in Anbetracht dieses auf Erziehung fokussierten Kindheitsbegriff ins Jubeln: "Es ist entzückend, sich vorzustellen, dass die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden [...]: Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklicheren Menschengeschlecht". Ob Kant es ebenso "entzückend" gefunden hätte, dass dieses "künftig glücklichere Menschengeschlecht" seit geraumer Zeit kindlich ist bis ins hohe Alter hinein, darüber kann nur spekuliert werden. Kindheit indes, wie immer sie seit der Aufklärung auch mit Inhalt gefüllt worden sein mag, bleibt vermutlich die schönste Erfindung der Menschheit.
Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.