Pränataldiagnose
Chance und Risiko moderner Medizin
"Ich bin mitten im Studium - ich könnte einfach nicht mit einem schwerstbehinderten Kind leben. Allerdings merk' ich auch jeden Tag, wie die Kleine sich bemerkbar macht und könnte mir das, glaub' ich, nie verzeihen..." Das schreibt LaLeLu, so nennt sich eine 21-Jährige in dem Internetchat "Fraueninitiative - Selbsthilfe nach Abtreibung". Mit Barbara L. und Stella8 diskutiert sie ihre verzwickte Lage in der 22. Schwangerschaftswoche und die Möglichkeit einer Spätabtreibung.
Die junge Frau ist nicht allein in ihrer schwierigen Situation, seit sich mit den modernen Methoden der vorgeburtlichen Untersuchung hunderte Anomalien und Erkrankungen schon beim Ungeborenen feststellen lassen: Ein offener Rücken, Down- Syndrom, Herzfehler oder auch die Lungenkrankheit Mukoviszidose gehören dazu. Nach einem solchen Befund sehen sich viele Schwangere vor der Entscheidung, ein behindertes Kind abzutreiben oder auszutragen - eine Entscheidung, die ihr Leben nachhaltig verändern wird.
Die Vereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung spricht von einem "Abtreibungsautomatismus", der vermehrt auch Ungeborene mit Down-Syndrom betreffen würde. Tatsächlich belegen verschiedene Studien, aber auch die Erfahrungen vieler Fachärzte, dass circa 90 Prozent der Frauen, die per Pränataldiagnostik von der Trisomie 21 ihres Kindes erfahren, eine Abtreibung vornehmen lassen. "Wenn sich die Eltern jedoch bewusst für das behinderte Kind entscheiden, reagiert die Umgebung oft mit einem Kopfschütteln", sagt Peer Brocke, Sprecher der Lebenshilfe.
Dabei sollte die von teils erbitterten öffentlichen Debatten begleitete Änderung des Paragrafen 218 StGB im Jahr 1995 behindertes Leben eigentlich schützen. Die nach altem Recht geltende so genannte embryopathische Indikation wurde abgeschafft, sie gestattete eine Abtreibung bis zum fünften Monat, wenn eine Schädigung des Kindes vermutet wurde.
Tatsächlich ermöglicht die heutige Gesetzeslage eine solche Abtreibung aufgrund einer Behinderung quasi durch die Hintertür immer noch. Nur unter anderem Namen und, das ist das Entscheidende, paradoxerweise viel länger und mit geringeren gesetzlichen Hürden.
Denn nach der derzeit geltenden medizinischen Indikation ist ein Abbruch auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche bis kurz vor der Geburt erlaubt, wenn die körperliche oder seelische Unversehrtheit der Frau in Gefahr ist. Und während das Gesetz bei der Fristenregelung innerhalb der ersten zwölf Wochen eine Beratungspflicht und eine Bedenkzeit zwischen Beratung und Schwangerschaftsabbruch vorsieht, ist eine solche Regelung bei der medizinischen Indikation mit der Novellierung des Paragrafen entfallen. Die Folge: Seither kommt es auch zu Spätabtreibungen nach der 22. Schwangerschaftswoche, ein Zeitpunkt, in dem das Kind außerhalb des Mutterleibs lebensfähig sein könnte.
Eine Ausschabung oder Absaugung ist zu diesem Zeitpunkt meist nicht mehr möglich. Die Geburt wird künstlich eingeleitet, und die Frau muss das Kind, das durch eine Injektion noch im Mutterleib getötet wird, zur Welt bringen - für Schwangere ein traumatisches Erlebnis, für Ärzte, die eben noch im Nachbarzimmer um das Leben gleichaltriger Frühchen kämpften, eine moralische Zwangslage. "Viele der Spätabtreibungen müssten nicht sein, wenn die Ärzte mehr Erfahrung hätten und besser ausgebildet wären", sagt Bernhard-Joachim Hackelöer. Der Pränataldiagnostiker an einer Hamburger Klinik ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und fordert, dass die Feinultraschalluntersuchungen von spezialisierten Kliniken und Praxen durchgeführt werden. "Je genauer die Diagnose, je mehr wir auch über den Grad der Behinderung wissen, um so besser können wir schließlich die Frau beraten und darauf vorbereiten, was auf sie zukommt."
Zuletzt hatten die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie im Frühjahr eine gesetzliche Lösung verlangt, die "besser zur Vermeidung von sogenannten Spätabtreibungen" beiträgt. Dazu gehören aus Sicht beider Verbände sowohl eine Beratungspflicht als auch eine Bedenkzeit mit dem Ziel, die Frauen über die Hilfsangebote für ein Leben mit einem behinderten Kind ausreichend zu informieren. Den 1995 gefundenen Kompromiss stellen sie dabei ausdrücklich nicht grundsätzlich in Frage. Unterstützt sehen sich die Ärztevertreter darin von der Union, die zurzeit an einer Gesetzesinitiative arbeitet. Diese konzentriert sich vor allem auf das Schwangerschaftskonfliktgesetz, das die Beratung vor einer möglichen Abtreibung regelt.
Und da besteht vor allem angesichts der neuen vorgeburtlichen Untersuchungsmöglichkeiten erheblicher Nachholbedarf. So hat eine Studie aus dem Jahr 2005 ergeben, dass nur 13 Prozent der Frauen vorab qualifiziert über Sinn, Aussagekraft und mögliche Konsequenzen einer solchen Untersuchung beraten werden, und danach gerade einmal 18 Prozent. "Den Frauen wird suggeriert, dass sie das Beste für sich und ihr Kind tun, wenn sie alles untersuchen lassen", sagt Peer Brocke, "was aber im Fall des Falles passiert, darüber wird meist nicht aufgeklärt." Aus Angst vor Regressansprüchen würden viele Ärzte die Frauen zu einer Abtreibung drängen, so die Kritik von Behindertenverbänden und Beratungsstellen.
Gleichzeitig betonen Ärzte jedoch, dass die Pränataldiagnostik die Zahl der Abtreibungen aus medizinischen Gründen eher habe sinken lassen. Die Gesamtzahl der Abtreibungen in Deutschland ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes tatsächlich zurückgegangen - und das auch im Verhältnis zu den Lebendgeborenen. 1996 waren es knapp 131.000, im Jahr 2007 etwa 117.000. Die Schwangerschaftsabbrüche nach einer medizinischen Indikation sind sogar um ein Drittel gesunken - von mehr als 4.800 vor zwölf Jahren auf gut 3.000 im vergangenen Jahr. Wo ehemals nur bei dem Verdacht auf eine Behinderung die Schwangerschaft beendet wurde, könne die moderne Medizin jetzt mehr Sicherheit geben, sagen Ärzte. "Früher wurde bei jeder Rötelnerkrankung der Frau die Schwangerschaft abgebrochen, obwohl nur etwa 20 Prozent der Ungeborenen geschädigt sind", sagt Bernhard-Joachim Hackelöer. "Heute kann durch spezielle serologische Untersuchungen und Ultraschalldiagnostik so differenziert werden, dass tatsächlich nur noch Abbrüche bei Kindern mit schweren Schädigungen erfolgen."
Tiemo Grimm, Humangenetiker an der Universität Würzburg, bestätigt. "Ich habe es in meiner fast 30-jährigen Erfahrung noch nicht erlebt, dass eine Frau ihr Kind wegen geringer Auffälligkeiten einfach abgetrieben hätte. Das sind Wunschkinder, da fällt eine Abtreibung niemals leicht."
Die Autorin arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Berlin.