Gewalt An Kindern
Eine bessere Vernetzung der Institutionen kann helfen, Missbrauch früher zu erkennen
Theoretisch waren Dennis, Jessica und Lea-Sophie gut geschützt. Nicht weniger als das Grundgesetz, die UN-Kinderkonvention und das Bürgerliche Gesetzbuch garantierten ihnen die Unantastbarkeit ihrer Menschenwürde, ihr Lebensrecht und einen Anspruch auf gewaltfreie Erziehung. Doch Dennis, Jessica und Lea-Sophie sind tot: Sie sind verhungert oder verdurstet, nach einem zum Teil jahrelangen Martyrium aus Misshandlung und Vernachlässigung.
Etwa 3.000 Fälle von Kindesmisshandlung und knapp 14.000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik jährlich. Doch Eingang in diese Statistik finden nur Taten, die auch angezeigt werden - und das sind im Vergleich zu den tatsächlich begangenen nur wenige. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, das sich auf die so genannte Dunkelfeldanalyse spezialisiert hat, geht davon aus, dass rund 1,4 Millionen Kinder jedes Jahr in Deutschland Gewalterfahrungen machen. "Etwa zehn Prozent dieser Kinder erfährt schwerere Misshandlungen wie Fausthiebe, Verbrennungen oder Verletzungen mit Gegenständen", erklärt der Leiter des Instituts Christian Pfeiffer. Die Rate der Kinder, die sexuell missbraucht werden, liege bei Mädchen bei acht bis neun Prozent, bei Jungen bei drei. "Wir gehen aber davon aus, dass die Zahlen sowohl bei Missbrauch als auch Misshandlungen in den vergangenen Jahren relativ stabil geblieben sind."
Von ähnlichen Zahlen spricht auch Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe Direkt. "Etwa 100.000 Kinder werden pro Jahr schwer misshandelt, rund 170 sterben aufgrund von Misshandlung oder Vernachlässigung." Dass nur wenige der Taten angezeigt werden, liegt daran, dass sie in aller Regel in der Familie stattfinden - geprügelt wird hinter verschlossenen Türen, meist von den Eltern oder deren Lebenspartnern.
Immer wenn Fälle wie von Dennis oder Jessica bekannt und vor den Wohnungen, in denen die Kinder lebten, Blumen, Kerzen und Kuscheltiere abgelegt werden, dauert es nicht lange, bis der Ruf nach neuen Gesetzen zum besseren Schutz von Kindern laut wird. Erst im Dezember 2007 hat die Große Koalition ein 37-Punkte-Programm für besseren Kinderschutz verabschiedet ( 16/4604). Danach sollen die Früherkennungsuntersuchungen weiter entwickelt und die Kooperationen von Kinderärzten, Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, Polizei sowie Gesundheits- und Jugendämtern verbessert werden. Im Oktober 2007 hatte die Bundesregierung zudem einen Gesetzentwurf ( 16/6815) zur "Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls" vorgelegt, den der Bundestag im April 2008 verabschiedet hat. Er soll es erlauben, schneller und früher auf Eltern einzuwirken, die ihre "Elternkompetenz" nicht wahrnehmen.
Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat das "Nationale Zentrum frühe Hilfen" ins Leben gerufen, das Kinder durch eine bessere Vernetzung von Gesundheitswesen und Jugendhilfe schützen soll. Fast jedes Bundesland hat Netzwerke zum Kinderschutz gegründet, Sachsen hat gerade die Initiative "Stoppt Gewalt gegen Kinder!" gestartet. Nun hängen in Chemnitz, Dresden und Leipzig Plakate mit Aufschriften wie "Sie hören Mozart und Schubert. Und das Weinen von nebenan?"
Doch was bringen solche Maßnahmen in der Praxis? Viele der misshandelten Kinder, über die in den vergangenen Jahren berichtet wurde, waren den zuständigen Jugendämtern längst bekannt - etwa im Fall des zweijährigen Kevins. Seine Leiche war im Oktober 2006 im Kühlschrank seines Vaters gefunden worden. Das Kind drogensüchtiger Eltern hatte unter Amtsvormundschaft gestanden und wurde, obwohl es schon mit sechs Monaten wegen Knochenbrüchen behandelt worden und in Kinderheimen untergebracht war, immer wieder an die Eltern zurückgegeben.
Fälle wie dieser sind für Georg Ehrmann Ausdruck einer gravierenden "Strukturkrise in der Kinder- und Jugendhilfe". Das Hauptproblem sei nicht wie oft dargestellt finanzieller Art: Die Vernetzung der zuständigen Stellen sei in aller Regel mangelhaft. "Wir haben einfach viele Jugendämter, die immer noch sagen, sie würden ihre Klienten - also die Eltern - nicht an die Staatsgewalt ausliefern. Das Bewusstsein, dass sie eigentlich nach dem Grundgesetz ein staatliches Wächteramt ausüben, ist oft gar nicht vorhanden." Viele Jugendämter arbeiteten ohne Diagnosestandards für die Bestimmung der Kindeswohlgefährdung und verzichteten auch auf den Abschluss von Qualitätsvereinbarungen mit Jugendhilfeträgern, an die Aufgaben der Familienhilfe übertragen würden.
Tatsächlich sind die Jugendämter nicht dazu verpflichtet, Kindesmisshandlungen bei der Polizei anzuzeigen - sie können selbst entscheiden, ob sie dies tun oder stattdessen auf pädagogische Maßnahmen setzen. Für Bernd Carstensen, Sprecher des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, ein unhaltbarer Zustand. "Ich würde es für wesentlich besser halten, wenn die Jugendämter dazu verpflichtet wären, sich an eine Gerichtsstelle zu wenden, sobald der Verdacht auf Misshandlung vorliegt. Dann müsste ein Richter entscheiden, welche Maßnahmen folgen sollen." Die Polizei könne immer nur auf Anzeigen reagieren; das Berliner Kommissariat für Gewaltdelikte an Schutzbefohlenen und Kindern ist bundesweit trotz seiner hoch gelobten Arbeit noch immer das einzige seiner Art.
Nicht nur die Jugendämter sollen wachsam für die Anzeichen von Misshandlung und Vernachlässigung sein. Noch früher sollen Kinderärzte bei den regelmäßigen Frühuntersuchungen erkennen, wenn etwas in den Familien schief läuft und die Kinder gefährdet sind - jedenfalls theoretisch. Praktisch ist das schwierig: "So wie diese Vorsorgeuntersuchungen derzeit konzipiert sind, sind sie dazu gar nicht geeignet", erklärt der Präsident des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Wolfram Hartmann. "Dabei fallen zwar Verletzungen wie blaue Flecken und Narben auf, nicht aber subtilere Formen der Misshandlung." Sein Verband fordere seit Jahren die Entwicklung neuer Inhalte für die Untersuchungen, aber der dafür zuständige gemeinsame Bundesausschuss "kommt nicht voran". Denkbar seien Fragebögen für die Eltern, in denen diese den Eltern-Kind-Kontakt beschreiben müssten, und Tests zum Sprachvermögen und zur Motorik. Verändert werden müsse allerdings auch die Ausbildung der Kinderärzte: Bislang sei in deren Ausbildung nicht enthalten, wie Misshandlungen oder sexueller Missbrauch erkannt werden können. "Um dazu in der Lage zu sein, müssten die Mediziner in ihren Ausbildungsgängen erst gezielt geschult werden", erklärt Angelika Kempfert, Vorstandsvorsitzende der deutschen Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung und -vernachlässigung.
Wenn die Mediziner bei ihren Untersuchungen den Verdacht haben, ein Kind könnte misshandelt werden, stehen sie vor zwei Problemen: Zum einen sind sie nach dem Strafrecht und den Berufsordnungen der Landesärztekammern an die ärztliche Schweigepflicht gebunden, die zum Schutz des Kindes gebrochen werden kann, aber nicht muss. Zum anderen wissen viele Ärzte nicht, an wen sie sich wenden können: "Es gibt keine Stelle, an die wir uns 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr wenden können. Versuchen Sie mal, ein Kind am Freitagnachmittag kurzfristig unterzubringen, weil der Verdacht auf sexuellen Missbrauch besteht - das ist unheimlich schwierig", erklärt Kinderarzt Hartmann frustriert.
Dass Ärzte einen Missbrauch so eindeutig erkennen, ist ohnehin selten. Eltern, die ihre Kinder so stark misshandeln, dass die Verletzungen behandelt werden müssen, neigen dazu, verschiedene Ärzte aufzusuchen - beim ersten Mal wird der Behauptung, das Kind sei die Treppe hinuntergefallen, meist geglaubt, während Misstrauen entsteht, wenn die gleiche Geschichte zum dritten Mal erzählt wird. Eine Gruppe Duisburger Kinderärzte hat deshalb das Frühwarnsystem Riskid entwickelt: In die "Risikokinder Informationsdatei" tragen die Ärzte seit Sommer 2007 Fälle ein, bei denen sie Symptome schwerer Misshandlung oder Vernachlässigung gesehen haben. Weil darauf alle beteiligten Ärzte Zugriff haben, erhöht sich die Chance, dass Misshandlungen trotz elterlichen "Ärzte-Hoppings" schneller erkannt werden können.
Bislang überhaupt nicht geschult werden allerdings diejenigen, die die größte Verantwortung tragen: die Eltern. Hier sehen diejenigen, die sich mit dem Problem der Kindesmisshandlung beschäftigen, das eigentliche Dilemma. "Wir haben es mit immer mehr Eltern zu tun, die nicht in der Lage sind, ihre Elternpflichten auszuüben", so Ehrmann. "In vielen Fällen spielen dabei Süchte - Alkohol, Drogen oder auch Internetsucht - eine Rolle." Auch Angelika Kempfert beobachtet das. Misshandlungen und Kindstötungen habe es zwar immer schon gegeben, dazu komme aber in jüngster Zeit verstärkt, "dass viele Eltern nicht einmal die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen können, geschweige denn für ein Kind". Kinderarzt Hartmann macht dafür auch gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich: Früher habe es Korrektive in den Großfamilien gegeben, heute seien junge Eltern auf sich allein gestellt. "Wir haben jetzt auch erstmals eine Elterngeneration, die im Grunde selbst vor dem Fernseher oder Internet aufgewachsen ist - die kann das ihren Kindern gar nicht anders vorleben." In vielen Familien werde kaum gesprochen, man spiele nicht und bewege sich auch nicht im Freien.
Die politische Diskussion, ob Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden sollten, betrachten Praktiker skeptisch. Während die SPD dafür plädiert, weil sich damit, so Familienexpertin Caren Marks, "das Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft ändert" und "den besonderen Bedürfnissen von Kindern in Gesetzgebung und Rechtsprechung" besser Rechnung getragen würde, hält die Union eine solche Grundrechtsänderung für überflüssig. Georg Ehrmann wünscht sich, dass die Politik die Strukturkrise der Jugendhilfe praktisch löst. "Die Hartz-IV-Gesetzgebung wurde einmal gegen alle Widerstände durchgedrückt - da sollte das beim Kinderschutz doch auch endlich gelingen."