Das erste Mal begegnete mir Europa als Synonym, als ich mit meinem Onkel auf einer Wolldecke in einem anatolischen Tal lag. Mit einem Grashalm im Mundwinkel murmelte er:
- Europa ist eine Villa mit fünf Sternen. Und was bringt Dein Vater Jahr für Jahr mit? Parfümierte Seife! Ich brauche modernes Werkzeug, von mir aus kann er die Geräte vorher auch eincremen.
- Aber Onkel, Papa wohnt nicht in Europa, sondern in Deutschland. Vielleicht ist das der Grund.
- Deutschland, Europa, wo ist da der Unterschied?
Mein Onkel verstand Europa immer geografisch. Demzufolge wären die 3 Prozent der Türkei, die sich auf der europäischen Kontinentalplatte befanden, ebenfalls Europa. Der europäische Teil von Istanbul wäre genauso Europa wie Schweden. Im europäischen Istanbul lebten und leben Menschen aus besseren sozioökonomischen Schichten, in Schweden sowieso. Und was diesen Kontinent charakterisierte, diese Villa mit fünf Sternen war für meinen Onkel das entscheidende Merkmal wohl Wohlstand. Europa ist von Anatolien aus betrachtet ein Synonym für finanzielle Sorglosigkeit.
Der in der Türkei lebende Teil der Verwandtschaft hat nie wirklich glauben können, dass mein Vater in Deutschland nie um die Mittagszeit auf einer Wolldecke lag und über die Welt nachdachte. Er arbeitete in der Fabrik und sparte Geld. Der Großteil eines Jahreseinkommens wurde für den jährlichen Aufenthalt in der Türkei verbraucht; in den siebziger und achtziger Jahren für die langen Autofahrten quer durch Europa und für Mitbringsel in Form von Cremes, Kaffee und Seife; ab den neunziger Jahren für Flüge und Geschenke, für die man Strom brauchte: Bohr- und Kaffeemaschinen, Weckradios und Epiliergeräte. Mit besonderem "Wohlwollen" wurden Geräte der Marken Grundig, Krupp, Braun und Bosch quittiert. Als es in der Türkei schließlich in jedem Haushalt ein Fernsehgerät mit Sattelitenschüssel und damit Empfang in die ganze Welt gab, kam mein Vater in Bedrängnis. In einer deutschen Spielshow bestand das Highlight darin, dass die Kandidaten am Ende ihre Gewinne aus einem Regal voller Waren auswählen konnten: von Schmuck, Besteckkästen und feinstem Porzellan bis hin zu Videokameras, Rasenmähern und Waschmaschinen. Die Verwandtschaft sah auf verwackelten Fernsehbildern, was das Warenlager Europa im Angebot hatte. Endgültige Ruhe kehrte erst ein, als mein Vater gesundheitlich angeschlagen in Frührente ging - seitdem lebt er wieder für einen großen Teil des Jahres in bescheidenen Verhältnissen in seiner Heimat. Europa ist für ihn nun ein Reiseziel, das er andersherum bereist: als Besucher, wieder mit Seife im Gepäck, dieses Mal unparfümierte und naturreine, weil sich die Art zu pflegen in Europa geändert hat.
Man kann die Villa Europa "buchen", entweder als einfaches Einzelzimmer, oder als großzügige Superior Suite. Die Währung heißt Duldung, Aufenthaltsgenehmigung oder Pass. Das Luxusdomizil hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren zwar nicht geografisch, wohl aber politisch vergrößert. Die Ausstattung ist seitdem immer prächtiger geworden. Mit Wohlstand hat es begonnen. Hinzugekommen sind Frieden, Freiheit und Stabilität. Diese Termini sind auf den Werbeseiten der Europäischen Union nachzulesen. Die EU ist eine der angesehensten Societies der Welt, der Lions-Club unter den feinen organisierten Gesellschaften. Doch Europa ist noch viel mehr. Es ist eine konfuse Sehnsucht, die kopflos, abenteuerlustig und mutig macht. Oder ein Weg, den man verzweifelt zugehen bereit ist; auch unter dem Risiko, zusterben. Wie sonst ist zu erklären, dassTausende Menschen jährlich in kleinenüberfüllten Booten, in Lastwagen versteckt, oder im Lagerraum von Flugzeugen ihr Leben aufs Spiel setzen und ihre Heimat verlassen? Was ist Europa für diese Menschen?
Es mutet merkwürdig an, dass die Generation meines Vaters die gleichen Absichten hegte, wie die Einwanderer heute aus Krisengebieten und der "Dritten Welt". Erst einmal ankommen, Arbeit finden, Geld sparen, Familien in der Heimat unterstützen und wenn sich die Lebenssituation dort verändert hat oder eine finanzielle Basis für einen Neuanfang geschaffen ist, wieder zurückkehren. So sehen die Pläne von Wirtschaftsflüchtlingen aus. Gastarbeiter waren auch nichts anderes als Wirtschaftflüchtlinge. Doch für die, die den Weg nach Europa gefunden haben, muss es ein Schock gewesen sein, zu erfahren, dass dieses Europa ganz anders ist, als sie es sich ausgemalt hatten. Ganz gleich, ob man zuvor auf einer Wolldecke im anatolischen Tal gelegen hat, in einem Reisfeld stand oder auf einem verminten Stück Land in der afrikanischen Steppe von diesem Europa träumte.
Der Einwanderer aus einem Land außerhalb der europäischen Grenze wird Europa immer anders beschreiben, als der Spanier sein Spanien beschreiben würde. Und es macht auch einen Unterschied, ob der Europäer Europa bereist oder innerhalb von Europa immigriert. Der italienische Tourist wird Deutschland immer anders schildern als der italienische Immigrant. Die Grenzen der Europa-Erfahrungen verlaufen nicht nur zwischen den Nationalitäten, sondern richten sich auch nach dem Status, mit dem sich jemand in Europa aufhält.
Auf europäischem Boden wurden immer schon unterschiedliche Sprachen mit regionalen Dialekten gesprochen. Allein der deutsche Sprachraum wurde erst hunderte Jahre nach offizieller Einführung der deutschen Sprache in drei unterschiedliche Länder aufgeteilt. Die nationalstaatlichen Grenzen decken sich nicht mit den sprachlichen, kulturellen oder wirtschaftlichen. Innerhalb dieses Europas sind nicht nur Menschen über Grenzen gezogen, sondern, wie es der Migrationsforscher Klaus J. Bade einmal formulierte, Grenzen wurden auch über Menschen gezogen.
Wenn heute in Europa von Europa gesprochen wird, dann ist damit die Union gemeint. Sie ist ein fragiles Konstrukt. Auf diesem Kontinent hat es im Laufe seiner Geschichte unterschiedliche Gesellschaftsordnungen gegeben. Aus Königreichen und Fürstentümern wurden Nationalstaaten. Nur so kann man verstehen, dass es in einigen europäischen Staaten noch Könige, Kronprinzen und Prinzessinnen gibt - Europa ist auch ein Märchenland. Manche Staaten verwalten Länder, die sich auf anderen Kontinenten befinden, wie Martinique, Réunion, die Azoren und viele andere Inseln, die auf allen Weltmeeren verstreut sind. Auch das ist Europa, ein Staatenverbund, der sich seiner Demokratien rühmt und die Paläste und ehemaligen Kolonien dabei vergisst.
Die Mehrheit der Europäer ist christlich, die zweitgrößte Religionsgruppe ist die der Muslime. Wer nach Europa will, dem ist das erst einmal egal. Wer jedoch als Muslim in Europa lebt, der bemerkt, dass es einige sichtbare und einige weniger sichtbare Grenzen gibt. Eine gemeinsame europäische Identität ist dort am besten zu erkennen, wo es eine größtmögliche Übereinstimmung von Abgrenzung gegenüber Anderem gibt. Zu Zeiten des Kalten Krieges verlief die Abgrenzungslinie zwischen den Staaten, oder besser den politischen Machthabern dies- und jenseits des Eisernen Vorhanges. Heute verlaufen die kollektiven Abgrenzungen zwischen den religiösen Gemeinschaften. Der common way of life beinhaltet in erster Linie die freiheitlichen Werte. Und sie werden kollektiv-europäisch als bedroht betrachtet. Jedes Land, das eine beachtliche Anzahl von muslimischen Bürgerinnen und Bürgern hat, führt den Diskurs um den Kampf zur Erhaltung der europäischen Werte auf ähnliche Weise. Die europäischen Werte, Gleichheit, Demokratie, Aufklärung, Religionsfreiheit, Gleichstellung zwischen Mann und Frau usw. werden als Superlativ des christlich abendländischen Lifestyle gesehen. Das Andere, Fremde muss kontrolliert, beäugt, in Schach gehalten werden. Dass jedoch der Andere mit seinem Glauben zu einer modernen, europäischen und damit heterogenen Identität beitragen könnte, so weit ist Europa noch lange nicht. Im Moment sind viele noch hysterisch damit beschäftigt, die Grenzen zwischen den Religionen zu ziehen, weil sie meinen, dass Europas schwer erkämpfte Werte von Freiheit und Demokratie durch die Anerkennung anderer Glaubensgemeinschaften ins Wanken geraten könnten.
Die EU ist eine strenge Erziehungsberechtigte, deren Erziehungsauftrag weit über die europäischen Grenzen hinausgeht. Das, was Europa als Erfolgsrezept für sich selbst in Anspruch nimmt und als Demokratie nach westlichem Vorbild bezeichnet, wird, wenn nötig, durch die Beteiligung an militärischen Einsätzen auch exportiert. Der Frieden auswärts, so die These, garantiert Frieden und Stabilität zu Hause. Das gilt auch für Wohlstand. Die Kehrseite der Medaille ist, dass der Zuzug von Immigrationswilligen Menschen nach Europa auch mit der Lebensweise der Europäer zu tun hat. Wirtschaftliche und ökologische Kreisläufe ziehen sich quer über die Landkarte; begriffen hat man das in Europa schon längst, aber zu einer europäischen Identität gehört unbedingt, dass man das Problem zwar diskutiert, aber keinesfalls lösen möchte - jedenfalls ungern für den Preis, dass man Lebensweise und Komfort aufgeben muss.
Was wäre mit den Tausenden von Menschen, die nach Europa wollen, wenn sie alles über diesen Kontinent wüssten, wenn man sie über das Gute und das Schlechte aufklären würde, über das Liebenswerte und Paradoxe, das Schäbige und das Ungerechte, würden sie es sich noch einmal überlegen? Wenn man sie beispielsweise in deutsche Asylbewerberheime genauso wie in deutsche Supermärkte blicken ließe? Wenn sie Zugang zu allen Informationen in ihrer Sprache bekommen könnten, würden sie dennoch ihr Land verlassen? Wenn sie verstehen würden, dass Armut relativ ist? Dass Neid und Missgunst Eigenschaften sind, die auch dort existieren, wo es Menschen materiell gut geht? Und dass Solidarität nicht automatisch dort beginnt, wo jemand genug zu essen hat und krankenversichert ist? Dass es in Europa Europäer erster, zweiter, dritter und soundsovielter Klasse gibt?
So wie es zwischen Menschen Beziehungen gibt, die auf Vorurteilen basieren, so gibt es sie auch zwischen europäischen Nationen. Aus unerklärlichen Gründen gibt es in Europa Nationen, auf die man herabschaut. Bulgarien und Rumänien sind zum Beispiel Länder, denen man nicht so viel zutraut wie Frankreich. Es gibt aber auch Staaten, von denen man so gut wie nichts weiß, und deshalb werden sie nie als Vorbilder genannt. Estland ist so ein junger Staat, über den viele in Deutschland nur wenig wissen. Dass Estland vor allem durch Modernität, Jugend und Innovation geprägt ist, kann sich im alten Kerneuropa kaum einer vorstellen. Das sind Attribute, die man eher skandinavischen Ländern zuordnet. Deutschland gilt als ein wohlhabendes Land, in dem niemand verhungern muss. Dass zwischen deutscher Nachkriegszeit und neuerlichen Suppenküchen nur ungefähr fünfzig Jahre liegen, hat sich noch nicht in allen Ländern herumgesprochen. Oder dass man in Süditalien zwar "lustiger" leben kann, es Norditalienern wirtschaftlich aber besser geht.
Wissen das afrikanische Flüchtlinge, wenn sie in Lampedusa ankommen? Was erzählt man sich unter Immigrationswilligen darüber, was passieren wird, wenn sie Europa erreichen. Über Italien, die Kanaren oder den Ural? Und was wissen sie über die legalen Arbeitsimmigranten? Kennen sie deren Klagen darüber, dass sie Europa als Club empfinden, in den sie nie als ebenbürtige Mitglieder aufgenommen worden sind? Und wenn sie es wüssten, würden sie nicht dennoch kommen, all die Menschen, für die Europa am Ende doch ein Synonym für Sorglosigkeit ist?
Europa ist nicht die Festung, als die es gerne gesehen wird. In Europa gibt es Hunger, Armut, Rechtsunsicherheit und Korruption. Die Villa mit fünf Sternen bedarf einer ständigen Renovierung. Sie hat herrschaftliche Aufgänge, aber auch Dienstboteneingänge. Manche Zimmer haben einen herrlichen Blick, andere sind dunkel, muffig und nass. Es gibt armes Personal und parfümierte Bewohner. Der Garten hat verwilderte Ecken, aber auch solche, die picobello in Schuss sind. Europa sieht aus jeder der vier Himmelsrichtungen anders aus; je nach Lichtverhältnissen erstrahlt es oder liegt im Schatten. Und es wird vor allem immer eine Villa sein, in die es Einzüge und Auszüge geben wird. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Grundstücksmarkierungen sich immer wieder geändert haben. Was gestern noch der entfernte Osten war, kann morgen schon ins Zentrum gerückt sein. Am Ende kann man nur mit Bestimmtheit sagen, dass Europa immer ein Kontinent war und ein Kontinent bleiben wird. Das Andere, das Hinzukonstruierte, das mal Reich oder Fürstentum genannt wurde und nun Union genannt wird, zieht seine Grenzen, wie es seine stärksten Mächte gerade brauchen.
Die Europäische Union wächst, ihre Grenzen verändern sich, genauso wie ihre Population. Integration unter Wahrung der kulturellen Identitäten scheint hierbei die größte Herausforderung zu sein. Menschen, die nie ihre Heimat verlassen haben, schieben diese Aufgabe von sich und verstehen sie als Bringschuld des Hinzugezogenen. Der Lauf der Migrationsgeschichte hat gezeigt, dass die Hausherren gerne unter sich bleiben und den Status quo beibehalten wollen. Wären die Hausherren im Laufe der Jahrhunderte mit dieser Haltung immer erfolgreich gewesen, es gäbe dieses heutige Europa mit all seiner Vielfalt an Sprachen, lokalen Eigenheiten, Kulturen und Religionen nicht. Europa war zu keiner Zeit homogen, es hat letztendlich davon profitiert, dass seine Grenzen durchlässig waren. Es war stets Nutznießer der Immigration, und auch davon, dass alle existierenden Kulturen und Sprachen Resultat einer gemeinsamen Entwicklungsgeschichte gegenseitiger Beeinflussung sind. Es ist so banal wie wahr: Menschen verlassen ihre Heimat und suchen sich eine neue; manchmal finden sie ein neues Zuhause, manchmal kehren sie an ihre Herkunftsorte zurück. Manche finden ihr Glück, manche suchen noch danach, manche kehren um.
Mein Onkel jedenfalls liegt heute noch gerne auf seiner Decke in Anatolien, kaut an einem Grashalm und kann sich an seine Sätze vor zwanzig Jahren nicht erinnern.
- Dein Vater hat einen großen Fehler gemacht, als er die Türkei damals verlassen hat. Kein Stückchen Seife, kein Geld dieser Welt ist es wert, seine Heimat zu verlassen. Das habe ich immer gesagt, Du kannst Dich sicher erinnern.
- Ja sicher, Onkel, das hast Du immer schon so gedacht.