Migration und Integration bedürfen als Thema heute keiner Promotoren mehr. Wirtschaft und Politik, Öffentlichkeit und die Massenmedien sind sich einig, dass es sich um ein bedeutsames Thema handelt und Migrationsforscher, die sich lange Zeit darüber beklagten, dass das Thema keine hinreichende politische und öffentliche Beachtung finde, sehen sich mittlerweile von einem fast s c hw i n d e l e r r e gen den Aktivismus in Bezug auf Migration und Integration umgeben. Seit Gerhard Schröders Green Card-Initiative und der 2001 eingesetzten Zuwand e r u n g s k o m m i s s i o n hat eine Art Dauermobilisierung der politischen Verwaltungen auf allen föderalen Ebenen eingesetzt. Migration und Integration sind in Deutschland zu einem politischen Thema avanciert, das die Aufmerksamkeit der zentralen politischen Entscheidungsinstanzen gefunden hat. Ähnliches gilt in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU); und zwar nicht nur so weit diese selbst Zuwanderungsländer sind, sondern ebenso auch in den Ländern, die eher zu den Auswanderungsländern zählen wie etwa Polen oder Rumänien, sich jedoch als neue Mitglieder der EU absehbar ihrerseits zu Zuwanderungsländern entwickeln werden bzw. gegenwärtig schon zugleich Aus- und Einwanderungsländer sind.
Der EU selbst sind seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) immer mehr Zuständigkeiten in Fragen der Migration zugefallen. Dabei ist die Politik der europäischen Staaten und der EU geprägt durch eine Spannung zwischen der Mobilisierung und Anwerbung von qualifizierten und hochqualifizierten Menschen, die man nicht zuletzt aufgrund der in den meisten Staaten schrumpfenden Bevölkerungen absehbar zu brauchen glaubt, und einer Politik der Abwehr von Menschen insbesondere aus Afrika, die nicht erwünscht sind. Letztere wird verfolgt durch eine schärfere Gangart gegenüber illegalen Migrantinnen und Migranten, durch Grenzsicherung und -ausbau sowie durch die Vorverlagerung der Grenze im Rahmen einer zunehmend auch an Migrationskontrolle ausgerichteten Mittelmeer- und Außenpolitik. Zudem setzt man in der EU wie in den einzelnen Staaten neue Hoffnungen in einen mehr beschworenen als nachgewiesenen Zusammenhang von Migration und Entwicklung. 1
Die unterschiedliche Art und Weise der Thematisierung von Migration und Integration, gleichgültig ob es die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft betrifft, sind durch einen auffälligen Normativismus gekennzeichnet. Es geht stets um die Erfüllung jeweils unterstellter Erwartungen: je nach Blickwinkel also zum Beispiel darum, ob sich Migranten integriert und Wirtschaft und Staat von Migration profitiert haben oder ob Migranten Integrationschancen eröffnet bzw. verwehrt worden sind. Demgegenüber wird selten in eher deskriptiver und bestandsaufnehmender Absicht die Frage gestellt, wie sich Gesellschaft insbesondere in den Zuwanderungsregionen durch Migrationen verändert. Migrationen und Migranten sind auf verblüffende Weise Phänomene geblieben, welche die Gesellschaft wie von außen zu betreffen scheinen. Der Geschichte der Migranten wird bis in die dritten Generationen nachgespürt, und es wird gefragt, was aus ihnen unter dem Gesichtspunkt der Integration geworden ist, um daraus Schlüsse zu ziehen für eine Politik der "nachholenden Integration" oder für eine zukünftige Migrationspolitik, um auf diese Weise nicht zu wiederholen, was aus heutiger Sicht als Fehler erscheint.
Dabei bedürfte die Frage, ob und wie sich Gesellschaften durch Migrationen und Niederlassungsprozesse von Zugewanderten selbst verändern, auch deshalb einer ausgearbeiteten Antwort, weil sich nur so einschätzen lässt, wie bedeutsam solche Prozesse für die Entwicklung von Gesellschaften jenseits der Konjunkturen öffentlicher Aufmerksamkeit und Befürchtungen überhaupt sind. Zudem findet alle zukünftige Migration und Integration vor dem Hintergrund einer bereits abgelaufenen mehr als fünfzigjährigen Geschichte der Migration und Integration statt, durch die sich die Gesellschaft bereits verändert hat. In dem vorliegenden Text soll ein solcher Blickwinkel an einigen Beispielen der Veränderung der Gesellschaft in Europa durch Migration verdeutlicht werden. Man kann internationale Migration als Ursache, Teil und Folge der Weltgesellschaft verstehen. Dabei ist weder die Weltgesellschaft, noch ihre regionale Ausprägung in Europa in sich homogen verfasst. Nur zu deutlich unterscheiden sich die ökonomischen, politisch rechtlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse und entsprechend auch die Migrations- und Integrationsverhältnisse in Europa und seinen einzelnen Mitgliedsländern.
Die Frage nach der Veränderung der Gesellschaft durch Migration lässt sich nicht auf die Integrationsfrage verengen. Letztlich stehen die sozialstrukturelle Platzierung von Migranten, erfasst als Abweichung von den Durchschnittsverteilungen, ihre sozialen Beziehungen und ihre sozialen und kulturellen Loyalitäten im Zentrum. Daraus ergeben sich Antworten auf die Frage, wie sich durch Migrations- und Integrationsprozesse soziale Ungleichheitsbeziehungen und die sozialen Schichtstrukturen verändern und daraus gegebenenfalls veränderte, nicht zuletzt ethnische Konfliktkonstellationen resultieren. 2 Es ist aber eigentlich nicht viel darüber zu erfahren, ob und in welcher Weise Migrationen und die anschließenden Niederlassungsprozesse die Gesellschaft in ihren verschiedenen Bereichen der Ökonomie, der Politik, des Rechts, der Erziehung, der Gesundheit, des Sports, den Massenmedien, der Religion oder der Familie verändern, welche strukturellen Folgen daraus für sie resultieren und in welchem Ausmaß Gesellschaft daher durch Migration geprägt ist.
Einerseits sind die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche in Europa nach wie vor nationalstaatlich. Andererseits unterliegen sie einem Homogenisierungsdruck, der aus Prozessen der europäischen Integration und der Globalisierung resultiert. Die Migrations- und Integrationsverhältnisse sind in allen Staaten Europas durch Dynamiken geprägt, die insbesondere in der Nachfragestruktur ihrer Arbeitsmärkte sowie der Geschichte der einzelnen Nationalstaaten als Aus- und Einwanderungsländer, ihrer Staatsbildungsgeschichte, ihrer kolonialen Vergangenheit und ihren Politiken der Initiierung oder Abwehr von Migration sowie einer mehr oder weniger weit reichenden Integration begründet liegen. Auf dieser Grundlage und im Prozess seiner politischen Integration hat sich Europa insgesamt zu einem bedeutenden Einwanderungskontinent entwickelt. Entsprechend stellen sich seine Migrations- und Integrationsverhältnisse auf der einen Seite regional- und nationalspezifisch differenziert dar: Während sich ein Land wie Spanien neben Italien und Griechenland seit den 1990er Jahren zunehmend für Migranten geöffnet und sich so zu einem der Hauptzuwanderungsländer Europas entwickelt hat, haben die nordwesteuropäischen Staaten insbesondere rechtliche und administrative Strukturen der Abwehr und Kontrolle von Migration aufgebaut und diese auf EU-Ebene gehoben. Auf der anderen Seite sind die Zuwanderer jedes einzelnen Staates im Rahmen der europäischen Freizügigkeit und mit der Aufhebung der Binnengrenzen potentiell die Zuwanderer ganz Europas geworden.
Aber hat sich die Gesellschaft in Europa durch Migrations- und Integrationsprozesse verändert bzw. worin besteht strukturell gesehen ihre Bedeutung? Es liegt auf der Hand, dass sich Europa in der Zusammensetzung seiner Bevölkerung ethnisch erheblich verändert hat und damit kulturelle Pluralisierungsprozesse einhergegangen sind. Nachfolgend wird auf drei Zusammenhänge - Wirtschaft, Erziehung, Religion - eingegangen, an denen verdeutlicht werden soll, dass strukturelle Veränderungen, wie sie von Migrationen ausgehen, der Vergewisserung bedürfen, denn sie bezeichnen auch Bedingungen jeder künftigen Migrations- und Integrationspolitik in Europa und seinen Nationalstaaten.
Die Bedeutung von Migration für Wirtschaft und Arbeitsmärkte ist, national und international wiederkehrend, Thema unter dem Gesichtspunkt ihres ökonomischen Nutzens. Ganz unbestritten ist dabei, dass in allen europäischen Zuwanderungsländern in zahlreichen Beschäftigungsbereichen Migranten, seien sie Ausländer oder eingebürgert, zu einem stabilen Bestandteil der Erwerbstätigenbevölkerung geworden sind, seien dies mehr als 40 Prozent wie in Luxemburg, mehr als 20 Prozent wie in der Schweiz oder in Deutschland. Insbesondere Ökonomen haben dabei die Struktureffekte der Migration auf die Arbeitsmärkte Europas analysiert und auf ihre längerfristigen Effekte hingewiesen. 3 Dazu gehörten in der Vergangenheit im Gefolge der Anwerbung von Arbeitsmigranten bzw. der postkolonialen Zuwanderung strukturkonservative Effekte in dem Sinne, dass aufgrund der Kostenvorteile durch ihre Beschäftigung in vielen Produktionsbereichen die erforderlichen Rationalisierungen und Modernisierungen der Produktionsstrukturen aufgeschoben wurden. 4 Einhergehend mit gescheiterten Bildungskarrieren von Migrantenkindern wurde dadurch zugleich das durchschnittliche Qualifikationsniveau der verfügbaren Arbeitskräfte insgesamt gesenkt. Dem wird gegenübergestellt, dass Arbeitsmigranten meist härter arbeiten, höhere Sparleistungen erzielen, oftmals risikobereiter sind und als Unternehmensgründer auftreten sowie zudem erheblich zur Finanzierung der Sozialsysteme beitragen. 5
Über solche eher makroökonomischen Effekte hinaus spielen Migranten für die Strukturentwicklungen unterschiedlicher Sektoren eine bedeutende Rolle: So haben in der Umstrukturierung und Europäisierung des Bausektors und seines Arbeitsmarktes die Rekrutierung sogenannter Werkvertragsarbeitnehmer in den frühen 1990er Jahren und die Nutzung des europäischen Rechts der Dienstleistungsfreiheit eine erhebliche Rolle insbesondere bei der Reduzierung der Lohnkosten gespielt. Damit ging in zahlreichen europäischen Ländern eine Illegalisierung der Beschäftigungsverhältnisse in diesem Sektor einher. Folge dieser Migration auf der Basis der Werkvertragsarbeit und der europäischen Dienstleistungsfreiheit war in Deutschland eine Deregulierung institutioneller, branchenspezifischer Arrangements. Diese wiederum betrafen das Arbeits- und Sozialrecht, die Lohnhöhe und die reduzierten Beschäftigungschancen inländischer Arbeitskräfte gleichermaßen. 6 Folge dieser Aushöhlung der Tarifstruktur war unter anderem die Einführung eines strukturfremden Elements - des Mindestlohns -, über dessen Einführung auch in anderen Sektoren mittlerweile öffentlich gestritten wird.
Auf verschiedene Weise spielen Migranten auch eine strukturell tragende Rolle in den Institutionen der Gesundheit, Betreuung und Pflege, abhängig von der Struktur ihrer wohlfahrtsstaatlichen Verfassung und der demographischen Struktur ihrer Bevölkerungen: So stützt sich der steuerfinanzierte National Health Service in Großbritannien angesichts eines notorischen Mangels an qualifiziertem Personal im Ärzte- und Pflegebereich strukrurell auf die weltweite Rekrutierung entsprechend qualifizierter Arbeitsmigranten. 7 In Ländern wie Deutschland, Österreich, Spanien oder Italien ruht die Finanzierung und die Organisation der Pflege einer wachsenden Zahl alter und pflegebedürftiger Menschen stillschweigend strukturell auf einer in ihrer Größenordnung schwer einzuschätzenden Zahl von informell bzw. illegal beschäftigten Migranten.
Für den landwirtschaftlichen Sektor in Europa gilt, dass dieser zu weiten Teilen von regulierter saisonaler oder illegaler Migration abhängt. Die niedrigen Entlohnungsverhältnisse auf den von den Saisonarbeitern aufgesuchten Arbeitsmärkten, die von den - zum Teil hochqualifizierten - Migranten aus vorallem osteuropäischen, nordafrikanischen oder lateinamerikanischen Ländern akzeptiert werden, haben vor allem einen strukturkonservierenden Effekt: die Aufrechterhaltung von Strukturen, die Unternehmen mithilfe niedriger Produktionskosten am Markt halten, die sonst kaum mehr bestehen könnten. Umgekehrt gelten regulierte saisonale Arbeitswanderungen integrationspolitisch als unbedenklich, da aufgrund ihres befristeten Charakters nicht mit Integrationsproblemen bzw. deren sozialen Folgekosten gerechnet wird. Die neuen Zuwanderungsländer wie Spanien und Italien haben es aber im Gefolge ihrer groß angelegten Legalisierungen noch vor sich, Antworten auf die Frage der dauerhaften Integration dieser Zuwanderungsbevölkerungen und ihrer Kinder zu finden.
Eine zentrale Rolle kommt daher dem Erziehungssystem zu. Dabei stellt Europa sich die Frage der Integration der Migranten und ihrer Familien in einem anspruchsvollen Rahmen, den es sich mit der Lissabon-Strategie selbst gesetzt hat: Die "Knowledge Based Society" ("Wissensgesellschaft") soll sich wesentlich auf Innovation stützen. Erziehung und Ausbildung sollen dabei kulturell diversifizierte Populationen im Rahmen von lebenslangen Lernprozessen mit den erforderlichen Kompetenzen für kompetitive Arbeitsmärkte und den erforderlichen sozialen Kompetenzen ausstatten. Um die damit verbundene strukturelle Herausforderung des Erziehungssystems durch Migration angemessen zu erfassen, erfasst jedoch ein integrationspolitischer Blick auf die Migranten den Sachverhalt nur unzureichend.
Gegenwärtig bestimmen sowohl die weltweite Institutionalisierung der Erziehung als auch die Unwahrscheinlichkeit ihrer Realisierung die Problemlagen internationaler Ausbildungs- und Erziehungssysteme: Dem menschenrechtlich festgeschriebenen Anspruch auf Erziehung steht gegenüber, dass die dafür erforderlichen Ressourcen in vielen Ländern aufgrund der mangelnden Leistungsfähigkeit ihrer Staaten und regionalen Ökonomien kaum aufgebracht werden können. In Europa ist demgegenüber der Versuch, mit dem Ausbau der Bildungssysteme den Abbau von Bildungsbenachteiligungen und die Mitnahme der Unterschichten, die sich mittlerweile in wachsendem Maße aus Migranten zusammensetzen, zu befördern, insgesamt betrachtet weitgehend misslungen. Wo auf der einen Seite die organisierte Vermittlung von Kompetenz steht, steht auf der anderen Seite die Hervorbringung hoher Zahlen von niedrig Qualifizierten und funktionalen Analphabeten. In dieser Lage setzen die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die EU auf die Mobilisierung für Bildung durch Organisationslernen und neue Steuerungsmodelle. Diese sind angelegt im Modus des Dauerexperiments, in dem den Erziehungs- und Bildungsträgern gleichzeitig Anpassung oder Auswechslung ihrer Strukturen auf allen Ebenen abverlangt wird, um so eine in wachsendem Maße kulturell diversifizierte Klientel erfolgreich an Bildung heranzuführen.
Aber können die dafür erforderlichen sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen geschaffen und die damit verbundenen Unsicherheiten bewältigt werden? Es ist in vielerlei Hinsicht ganz unsicher, wie Schulen als Organisationen und ihr Personal, ihre Schülerinnen und Schüler und deren Familien mit den Erwartungen einer verbesserten kognitiven (definiert als literacy) und sozialen Kompetenzvermittlung (verstanden als Fähigkeit des Umgangs mit kultureller Vielfalt) zurecht kommen: Dauerhaft evaluierte Organisationen lernen zwar, sich im geforderten Output-design aufzustellen. Den Umgang mit der konstitutiven Unsicherheit der Erziehung nimmt ihnen aber keine Evaluation ab: Trägt geforderte oder durchgesetzte Einsprachigkeit zur sozialen Bindekraft der Schule bei oder bedeutet sie die Abwertung der Herkunftssprache der Schüler und ihrer Kultur? Wie viel und welche Art von inter-, pluri- oder fremdkulturellem Wissen soll zum Gegenstand des Unterrichts und der Wissensvermittlung gemacht werden? Unterstützt dies das interkulturelle Reflexionsvermögen oder steigert es möglicherweise das Stereotypenrepertoire? 8 Befördert die Orientierung an der Zielsetzung der Schriftsprachvermittlung eine unverzichtbare soziale Verkehrskompetenz und damit die Integration von Migrantenkindern 9 oder ist dies Ausdruck von nationalstaatlich vermitteltem Dominanzhabitus und von Homogenisierungszwängen? Wie geht das Personal in Schulen mit der Erfahrung von Unsicherheit und Inkompetenz in mehrsprachig und plurikulturell zusammengesetzten Klassen um? Kann man Toleranz und Offenheit für Diversität als normatives Programm der Erziehung in der Schule auflegen und damit moralisch zur Geltung bringen? Oder basiert moralische Kommunikation unvermeidlich auf der Mitteilung von Achtung oder Missachtung und tendiert damit zur Zerstörung der Grundlage von Erziehung? Gegenwärtig steht in zahlreichen europäischen Ländern die Mobilisierung der Familien von Migrantenkindern für Bildung im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Aber wie verhält sich dies zu den Übergriffen der Schule auf Familien, die mit dieser Rücksichtslosigkeit ihre eigenen Probleme löst, wie dies vor mehr als zwanzig Jahren schon Rita Süßmuth festgestellt hat? 10 Und was ist, wenn sich dies insbesondere nachteilig auf die sogenannten bildungsferneren Schichten und damit auch auf die Migranten auswirkt?
Der Umgang mit Differenz in den Schulen und Hochschulen erzeugt unvermeidlich strukturelle Unsicherheit. Sie haben ihre Ausgangsgrundlage in dem historisch durchgesetzten Anspruch des Einbezugs aller. Scheitern und relative Misserfolge, die strukturell und wohl unaufhebbar zur Geschichte des modernen Bildungssystems gehören, gewinnen angesichts der gewachsenen Bedeutung von Bildung und Ausbildung für die Chancen auf Arbeitsmärkten an sozialer Brisanz. Sie begründen angesichts der Diskrepanz zwischen erzeugten Hoffnungen und Erwartungen durch eine aktivistische Mobilisierung für Bildung bei struktureller Unwahrscheinlichkeit ihrer Realisierung potentielle Anomiekonflikte, 11 die in Europa in Gestalt der Bildungs- und Arbeitsmarktmarginalisierung der Zuwandererbevölkerungen sichtbar werden. Solche Konflikte machen sich bemerkbar an den Banlieue-Rebellionen von französischen Einwandererjugendlichen, aber auch an den Gewaltpraktiken von Jugendlichen aus einzelnen Zuwanderergruppen in Deutschland und anderen europäischen Einwanderungsländern. Strukturelle Unwahrscheinlichkeit heißt nicht Unmöglichkeit. Aber das Wissen darum verlangt eine tiefergehende Klärung der Art und Weise, in der die strukturellen Grundlagen des Bildungssystems, seine Programme, die Kompetenz seines Personals und seine Binnengliederung durch die Internationalisierung und kulturelle Pluralisierung seines Publikums herausgefordert sind.
Der Wandel der religiösen Verhältnisse in Europa durch Migration schlägt sich wiederkehrend in öffentlicher Beunruhigung nieder. Der Islam in Europa wurde und wird jedoch bis in die Gegenwart auch in der Forschung funktionalistisch auf die Frage nach der Bedeutung für die soziale Integration von Migranten verkürzt. Dieser Kurzschluss von Religion und Integration in Europa lag auch deshalb nahe, weil in Ländern wie Frankreich und Deutschland die größten Einwanderergruppen Muslime, und umgekehrt die meisten Muslime Einwanderer sind: Ihre Fremden sind Muslime und ihre Muslime sind die Fremden. In dem Maße, in dem die Integration der nachwachsenden Generationen misslingt, wird islamische Religionszugehörigkeit damit zum Synonym für misslingende Integration.
Durch die Fokussierung auf Integration wurde lange Zeit versäumt, einen strukturell langfristig bedeutsamen Sachverhalt angemessen zu erfassen, nämlich die Herausbildung des Islam in Europa zur wichtigsten Religion nach dem Christentum. Die in den verschiedenen Staaten unterschiedlich weit fortgeschrittene, oftmals zerbrechliche und öffentlich nur widerstrebend anerkannte Institutionalisierung des Islam in Europa ruft den europäischen Nationalstaaten ihre Geschichte der Differenzierung von Politik, Recht und Religion in Erinnerung. 12 Die Beziehungen zwischen Religionen und Nationalstaaten in Europa sind verankert in historischen Kompromissen: Die Geschichte des Verlaufs der Differenzierung zwischen Politik/Staat, Recht und Religion und die daraus resultierenden Strukturbildungen - zum Beispiel in Großbritannien (anglikanische Staatskirche), Frankreich (laicité), den Niederlanden (Versäulung) und in Deutschland (Konkordat, Kirchen als öffentlich-rechtliche Körperschaften) - bilden die jeweiligen Kontexte, in die hinein die Entwicklung des Islams platziert worden ist und aus dem heraus seine jeweiligen Ausprägungen zu erklären sind. Dabei stellt die Ankunft des Islam in Europa diese Kompromisse zugleich auf den Prüfstand.
Geleitet durch eine einseitige integrationspolitische Perspektive ist den strukturellen Effekten der unübersichtlichen Institutionalisierungsprozesse einer Weltreligion durch Migration in Europa sowohl für die Gesellschaft als auch für künftige Migrations- und Niederlassungsprozesse lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Aber auch bei mittlerweile gestiegener Aufmerksamkeit werden in Wissenschaft und Politik sehr europäisch geprägte Annahmen mitgeschleppt: 13 Die muslimische Religiosität der Migranten gilt tendenziell als Zeichen unvollständiger Integration, denn für die einen steht sie im Widerspruch zu einem christlich interpretierten Europa, für die anderen aber zu einem liberal säkularen Selbstverständnis, das die öffentliche Artikulation eines religiösen Selbstverständnisses ausschließt. In seiner Einigkeit im ständig erneuerten Fundamentalismusverdacht gegenüber dem Islam, getragen von Christen ebenso wie von liberalen Säkularisten, verbirgt Europa dabei seine eigene Zerrissenheit zwischen einer christlichen und liberal säkularen Selbstinterpretation, wie sie im Streit über die Präambel des mittlerweile gescheiteren europäischen Verfassungsvertrags nur zu deutlich wurde.
Ein wirkliches Interesse für die Auswirkungen des Islam auf die gesellschaftlichen Strukturen in Europa erfordert eine doppelte Blickrichtung: Einerseits geht es um ein Verständnis der Herausforderungen des Islam selbst durch die gesellschaftlichen Strukturen in den europäischen Staaten und die Bestimmung der Potentiale, die es ihm erlauben, in Europa als Weltreligion einen Platz neben anderen zu finden und die Position einer marginalisierten Minderheitenreligion zu verlassen. 14 Andererseits geht es gleichzeitig um eine Vergegenwärtigung der Herausforderung des Islam für die etablierten gesellschaftlichen Strukturen in Europa. Ein selbstgenügsames europäisches Verschanzen hinter sei es christlichen, sei es säkularen Werten ist eher Ausdruck der Verweigerung einer Reflexion der blinden Flecken der eigenen Tradition. Im Kern konfrontiert dies die Europäer mit der Frage, wie liberal sie im Umgang mit einer Pluralität von Religionen sind - wohlfeile Unvereinbarkeitsvermutungen des Islam mit "der europäischen Kultur" ebenso wie einseitige Fundamentalismuszuschreibungen 15 sind Hinweise darauf, dass eine solche Liberalität keineswegs zwangsläufig ist.
Abschließend bleibt festzuhalten: Internationale Migrations- und Niederlassungsprozesse verändern die Gesellschaft in Europa selbst, ihre Folgen sind nicht auf die Frage der gelingenden und misslingenden Integration beschränkt. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, die Erziehung und die Religion, sondern betrifft ebenfalls Politik, Recht, Gesundheit, die Massenmedien oder den Sport. Sich ihrer zu vergewissern, ist auch erforderlich, weil sie Bedingung zukünftiger Migrations- und Integrationsprozesse sind.
1 Vgl. dazu Hein
de Haas, Migration and Development. A Theoretical Perspective,
International Migration Institute, Oxford 2008.
2 Das steht im Zentrum der zahlreichen
Arbeiten von Hartmut Esser seit seinem Buch "Aspekte der
Migrationssoziologie", Neuwied 1980.
3 Vgl. Thomas Bauer/Klaus F. Zimmermann,
The Economics of Migration, Cheltenham 2002.
4 So schon Hans-Joachim
Hoffmann-Nowotny, Soziologie des Fremdarbeiterproblems. Eine
theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz,
Stuttgart 1973.
5 Vgl. Michael Bommes/Holger Kolb,
Migrants' Work, Entrepreneurship and Economic Integration, in:
Rinus Penninx u.a. (eds.), The Dynamics of International Migration
and Settlement in Europe, Amsterdam 2006, S. 99-131; Thomas Bauer
u.a., International Labor Migration, Economic Growth and Labor
Markets. The Current State of Affairs, RWI Discussion Paper, (2004)
20.
6 Vgl. dazu Michael Bommes u.a.,
Organisational Recruitment and Patterns of Migration.
Interdependencies in an Integrating Europe, IMIS-Beiträge,
(2004) 25; Uwe Hunger, Der "Rheinische Kapitalismus" in der
Defensive, Baden-Baden 2000.
7 Vgl. Madelon den Adel u.a.,
Recruitment and the Migration of Foreign Workers in Health and
Social Care, in: M. Bommes u.a. (Anm. 6), S. 201-230.
8 Vgl. Isabell Diehm/Frank-Olaf Radtke,
Erziehung und Migration: Eine Einführung, Stuttgart
1999.
9 Vgl. Utz Maas, Sprache und Migration,
IMIS-Schriften, Göttingen 2008 (im Erscheinen); Hartmut Esser,
Sprache und Integration, Frankfurt/M.-New York 2006.
10 In: Ministerium für Arbeit,
Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen,
Landes-Kinderbericht: Bericht der Landesregierung über die
Situation des Kindes in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1981;
vgl. zudem Hartmann Tyrell, Die Anpassung der Familie an die
Schule, in: Jürgen Oelkers/Heinz Elmar Tenorth (Hrsg.),
Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie, Weinheim
1987, S. 102-124.
11 Vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion und
Exklusion in der Weltgesellschaft - Am Beispiel der Schule und des
Erziehungssystems, in: Antje Gunsenheimer (Hrsg.), Grenzen,
Differenzen, Übergänge: Spannungsfelder inter- und
transkultureller Kommunikation, Bielefeld 2007, S. 231-240. Anm. d.
Red.: Anomie bezeichnet den Mangel an sozialen Normen und
Regeln.
12 Vgl. Jocelyne Cesari, When Islam and
Democracy Meet: Mulims in Europe and in the United States, New York
2004; Brigitte Maréchal u.a. (Hrsg.), Muslims in the
Enlarged Europe, Leiden 2003; Joel S. Fetzer/J. Christopher Soper,
Muslims and the State in Britain, France and Germany, Cambridge
2005; Jytte Klausen, The Islamic Challenge Politics and Religion in
Western Europe, Oxford 2005.
13 Für einen Vergleich mit den USA
siehe José Casanova, Einwanderung und der neue
religiöse Pluralismus. Ein Vergleich zwischen der EU und den
USA, in: Leviathan, (2006) 3, S. 182-207.
14 Das ist das Motiv der Arbeiten von
Werner Schiffauer; vgl. ders., Die Gottesmänner, Frankfurt/M.
2000.
15 Der Islam hat hier bekanntlich kein
Monopol; "der heutige Diskurs über den Islam (...), in dem
alles in einen Topf geworfen wird, (wirkt) wie ein Echo des
Diskurses" des antikatholischen Nativismus republikanisch gesinnter
Protestanten in Amerika über den Katholizismus im 19.
Jahrhundert; José Casanova, Aggiornamenti? Katholische und
muslimische Politik im Vergleich, in: Leviathan, (2006) 3, S.
305-320.