"Nichts ist seltener, als einen hervorragenden Deutschen in seinem Lande zu sehen; alle gehen fort, um sich im Auslande auszuzeichnen, die Mittelmäßigen bleiben zurück, vom Schuster bis zum Philosophen." Johann Wolfgang von Goethe, 1830 1
Goethes Beobachtungen muten seltsam aktuell an; die Wanderung qualifizierter Menschen scheint kein Phänomen der Neuzeit zu sein. Offenbar hat es sie zu allen Zeiten gegeben. Und dennoch: als jüngst die offiziellen Zahlen zur Auswanderung Deutscher aus Deutschland erschienen - 155 290 hatten ihrer Heimat 2006 den Rücken gekehrt -, war der Aufschrei von Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Wirtschaft groß. Wie im Vorjahr war der Saldo deutscher Migranten negativ; 2005 hatte das Land überhaupt zum ersten Mal seit 1968 einen Wanderungsverlust unter seinen Staatsbürgern zu verzeichnen. 2
In den Jahren dazwischen hatte es stets mehr Zuzüge als Wegzüge gegeben, was unter anderem auf die Zuwanderung so genannter Aussiedler aus der Sowjetunion, ihren Nachfolgestaaten und Ländern wie Polen oder Rumänien zurückzuführen war. Betrug ihre Zahl in den Jahren 1989/90 377 055 bzw. 397 073, so kamen 2005 noch 35 522 so dass die Auswanderung Deutscher aus Deutschland durch diese Gruppe nicht mehr wie in den Vorjahren kompensiert werden konnte. 3 Und nicht selten waren diejenigen, die kamen, geringer qualifiziert, als jene, die gingen.
So mancher Politiker war über die Zahl 155 290 erschrocken und forderte in reflexartiger Empörung sogleich Gegenmaßnahmen. Dabei wurde gern ausgeblendet, dass es auch eine beträchtliche Rückwanderung deutscher Staatsbürger gab, dass sehr viele der jetzt Abwandernden eines Tages zurückkehren werden, dass Migration nicht zwangsläufig Verlust bedeuten muss, da der im Ausland erworbene Erfahrungsschatz deutscher Rückkehrer häufig gewinnbringend in die heimische Wirtschaft reinvestiert werden kann, und dass es sich bei dem zu beobachtenden Wanderungsstrom um eine im allgemeinen äußerst heterogene Grundgesamtheit verschiedener Alters-, Berufs- und Qualifikationsgruppen handelte. Von den in der Summe enthaltenen Ruhestandsmigranten oder den in ihre Heimat zurückkehrenden, vom Leben in Deutschland enttäuschten Spätaussiedlern war keine Rede. Denn interessant sind in dieser Rechnung vor allem die Hochqualifizierten und die ausgebildeten Facharbeiter.
Was einige verkürzt und vereinfacht als Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland ausgemacht haben, erweist sich für die Wissenschaft als gigantischer und doch zugleich wenig beachteter Forschungskomplex. Die "Differenzierung von Migranten hinsichtlich ihrer Qualifikation ist (...) ein vergleichsweise unbearbeitetes Feld". 4 Und so schwer es aufgrund der Erhebungsmethoden fällt, Auswanderungsgründe, Qualifikationsniveau und die dahinter stehenden exakten Zahlen zu erfassen, so schwer wird es denn auch sein, einen fest zur Auswanderung Entschlossenen von seiner Absicht abzubringen. Denn zu den neoklassischen Migrationsgründen, wie der Erhöhung des Einkommens, kann durchaus auch bloße Neugier auf fremde Länder und Kulturen oder einfach Abenteuerlust treten. 5 Letzteres darf wohl insbesondere vielen Studierenden unterstellt werden, doch selbst für diese der Forschung so nahe Bildungsklientel gibt es zum Teil große Wissenslücken. Gerade hier handelt es sich jedoch um Menschen, die auch später, als Absolventen, sehr viel mobiler sind und häufiger den Weg ins Ausland (zurück)finden als geringerqualifizierte Gleichaltrige.
Der Anteil der deutschen Emigranten mit einem Hochschulabschluss liegt auf der Grundlage der Zahlen der Zielländer bei ca. 28 Prozent. Damit waren die Auswanderer im Mittel höher qualifiziert als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung, von der heute rund 20 Prozent als hochqualifiziert gelten. Gut 42 Prozent der Auswanderer verfügten über die Hochschulreife - in Deutschland haben diese insgesamt 57 Prozent. 6 Auch waren deutsche Auswanderer im Schnitt jünger als die Gesamtbevölkerung; die Ruhestandswanderung war mit einem Anteil von rund 14 Prozent von geringerer Bedeutung, wenngleich es in den vergangenen Jahren auch hier einen kontinuierlichen Anstieg gegeben hat. Das für die Wirtschaft interessante Kontingent ist jedoch insbesondere die Gruppe der 25 bis 40 Jahre alten Menschen. Ihr Anteil an den Fortziehenden lag bei rund 40 Prozent, womit sie im Verhältnis zu ihrem viel geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert war. 7 Bevorzugte Ziele waren die Schweiz, die 2006 die Liste der beliebtesten Auswanderungsländer anführte, die USA, Österreich, Polen, Großbritannien, Spanien und Frankreich, wobei davon auszugehen ist, dass alle diese Länder vom Beitrag deutscher Gastarbeiter profitiert haben. Wie für die Auswanderer aus Deutschland gilt jedoch auch hier die Erkenntnis, dass "zur Einwanderung von Migranten aus hochentwickelten Industriestaaten (...) nur spärliche Forschungsergebnisse vor[liegen]". 8
Es soll an dieser Stelle nicht weiter auf Details eingegangen werden, aber es gilt einige Grundtendenzen der Migrationsbewegung festzuhalten. Da ist die Tatsache, dass es Auswanderung auch aus einem hochindustrialisierten und wohlhabenden Land wie Deutschland gibt, dass es sie in der Vergangenheit gab und dass es sie auch in Zukunft geben wird. Die absoluten Auswanderungszahlen sind dabei heute noch nicht einmal höher als beispielsweise in den 1950er Jahren. Nun kann man diese Entwicklung und den vordergründigen Verlust von "Humankapital" für den deutschen Arbeitsmarkt, dessen Flexibilisierung womöglich der gleiche Politiker in einer anderen Sonntagsrede gefordert hat, beklagen - man könnte aber auch in Erwägung ziehen, dass sich die Migrationsströme im Zeitalter der Globalisierung quantitativ und qualitativ verändern, da sich für den Einzelnen auch Chancen und Möglichkeiten auftun. Wenn dies der Fall ist, stellt sich die Frage, ob Deutschland nicht längst von einer derartigen Zirkulation (hoch)qualifizierter Kräfte profitiert, denn die Gesetzgebung erlaubt es zum Beispiel den Ausländern der alten EU-14 schon heute, sich im Lande niederzulassen, sich Arbeit zu suchen und es wieder zu verlassen. Könnte Deutschland aus diesem Austausch dann nicht vielleicht sogar noch größeren Profit ziehen, wenn es die Grenzhürden für qualifizierte Auswanderer aus den neuen EU-Staaten Ost- und Ostmitteleuropas schneller abbaute als geplant?
Der Blick auf Osteuropa verrät einiges über die dort vorhandenen Potentiale, die Deutschland produktiv nutzen könnte. Zwar existieren für Hochqualifizierte, für Forscher, Selbstständige und Studierende aus den neuen EU-Staaten längst Sonderregelungen, aber noch immer hält Deutschland über weite Strecken an der Regulierung seines Arbeitsmarktes für EU-Neubürger fest. 9 In jüngster Vergangenheit ist viel über die Begrenzung der Zuwanderung und die Zurückweisung von Neuankömmlingen, mittlerweile aber auch über die Integration von Ausländern in die Mehrheitsgesellschaft diskutiert worden. Mirjana Morokvasic hatte in diesem Zusammenhang bereits 1994 darauf hingewiesen, dass sich die Politik aus verschiedensten Gründen der Steuerung und Kanalisierung der Mobilitäten zuwenden müsse. "Andernfalls läuft sie Gefahr, eine Erscheinung außer acht zu lassen, die zunehmend an Umfang gewinnt und die dynamischsten Schichten und womöglich die bestqualifizierten aller Migranten umfaßt", 10schrieb sie damals, und vermutlich hatte sie damit recht.
Im Vorfeld der EU-Erweiterungsrunde vom Mai 2004 und danach ist häufig nur von den Risiken für den deutschen Arbeitsmarkt gesprochen worden, die eine Öffnung für osteuropäisches Personal zur Folge hätte. Von einem Anstieg der Kriminalität war die Rede, von dem zum Sturm auf die deutschen Sozialsysteme bereitstehenden Millionenheer, von hunderttausenden potentieller Billiglohnarbeiter, die den einheimischen Beschäftigten die Arbeitsplätze streitig machen könnten und von zahlreichen Unternehmern, die ihre Produktionskapazitäten nach Osteuropa verlagern würden. So wie etwa in der Landwirtschaft die Spargelfelder, würden bald auch andere Wirtschaftsbereiche von der materiell genügsameren Konkurrenz aus dem Osten dominiert werden, hieß es. Derartigen Ängsten wurde damals mit einer weitgehenden Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Angehörige aus den neuen EU-Staaten begegnet. Der auf maßgebliches Betreiben von Deutschland und Österreich zustande gekommenen Vereinbarung schlossen sich die meisten der damals noch 15 Mitgliedsländer an. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland, der schwachen Inlandskonjunktur und der durch die angekündigten Arbeitsmarktreformen verunsicherten Bevölkerung ist diese Regelung nicht nur nachvollziehbar, sondern sie schien auch dem Wunsch der Mehrheit im Lande zu entsprechen.
Heute stellt sich die Situation anders dar; die in den dunkelsten Farben gezeichneten Szenarien sind nicht eingetreten. Weder hat es einen wirtschaftlichen Exodus noch einen unkontrollierbaren Ansturm osteuropäischer Menschenmassen auf Deutschland gegeben. Dabei ist anzunehmen, dass diejenigen, die unbedingt hätten einreisen wollen, dies trotz bestehender Restriktionen versucht hätten, zumal sich ja jetzt auch die Grenzen durchlässiger gestalteten. Den meisten Menschen in Ostmittel- und Osteuropa darf wohl unterstellt werden, dass sie nicht bereit sind, die sozialen Strukturen, in denen sie leben, dauerhaft hinter sich zu lassen. Die - wenn man es so nennen mag - "seelische Verwurzelung" der Menschen mit dem Raum und der eigenen Kultur darf auch hier nicht unterschätzt werden. Dieser Punkt vermag sogar die Rückkehr deutscher Auswanderer nach Deutschland ein Stück weit zu erklären. Was in der Vergangenheit jedoch beobachtet werden konnte, war eine ausgeprägte Pendelmigration, bei der es sich um zeitlich begrenzte, nicht selten aber um wiederholte Wanderbewegungen von Menschen aus dem Osten handelte. 11 Wenngleich es hier durchaus endgültige Migrationen von Ost nach West gegeben hat, so spricht doch einiges dafür, dass sehr viele der im Westen Europas arbeitenden Osteuropäer, von deren Arbeit derzeit besonders die irische und die britische Wirtschaft profitieren, eines Tages in ihre Heimat zurückkehren werden.
Inzwischen zeigt sich auch die deutsche Wirtschaft in vielen Bereichen ausgesprochen dynamisch. Die Arbeitslosigkeit sinkt, und einige Wirtschaftszweige melden einen Fachkräftemangel. Stimmen derer, die eine Lockerung der Regelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit fordern, werden lauter und erzeugen doch zugleich einen Kanon skeptischer Widersprüche aus verschiedenen Partei-, Gewerkschafts- und Funktionärskreisen. Gebetsmühlenartig werden immer wieder Warnungen vor der Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten wiederholt - die Chancen, welche die Mobilität dieser Menschen für deutsche Unternehmen mit sich bringen könnten, werden dabei allzu häufig außer acht gelassen. Womöglich spielt aber gerade hier mangelnde Erfahrung mit dem materiell schwer quantifizierbaren Gewinn einer "Zirkulation des Humankapitals" - des eigenen wie des fremden - eine Rolle im Meinungsfindungsprozess. Dass Deutschland in der Vergangenheit von Pendelbeziehungen mit den ostmitteleuropäischen Staaten profitiert hat, steht außer Frage. Man denke nur an die vielen Saisonerntehelfer, die Arbeiten verrichteten, für die sich kaum ein Deutscher bereit gefunden hätte. Dabei handelt es sich auch hier nicht um ein Phänomen der Neuzeit. Als in den Jahren nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 Millionen Deutsche auf der Suche nach einem besseren (und leichteren) Leben von Ost nach West unterwegs waren, rissen sie Lücken in die Arbeitskräfteversorgung, die schon damals "(...) spürbar genug [waren], um die Gutsbesitzer zur Anwerbung von Saisonarbeitern zu zwingen". Und diese kamen "aus Polen, Masuren, Litauen, Böhmen und wurden nur für die Zeit der Ernten verpflichtet; unter Bedingungen, die, was ihre Löhne und ihre Unterkunft betraf, jeder Beschreibung spotteten, ihnen aber immer noch ein besseres Auskommen gewährten als in ihrer Heimat". 12 Wenngleich sich das Bild Deutschlands und Europas seitdem gründlich gewandelt hat, so mag uns dies seltsam vertraut anmuten. Neben armen Bauern kamen damals aber auch osteuropäische Eliten ins Land - so gehörte zum Beispiel Karlsruhe zu den Lieblingsaufenthaltsorten westlich orientierter Russen.
Von dieser Elitenzirkulation sollte das heutige Deutschland noch stärker profitieren. Auf ihrer Klausurtagung in Meseberg im August 2007 hat die Bundesregierung aufgrund der günstigen ökonomischen Entwicklung den Beschluss gefasst, osteuropäischen Ingenieuren den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Seit November vergangenen Jahres entfällt für sie die individuelle Vorrangprüfung, die deutschen Bewerbern bis dahin einen Einstellungsvorteil verschaffte. Ausländischen, in Deutschland ausgebildeten Studenten sollte zudem die Chance eingeräumt werden, mindestens ein Jahr lang nach einer Arbeitsstelle in hiesigen Unternehmen zu suchen, in denen sie dann für drei Jahre arbeiten dürfen. 13 Dass trotz der vorläufig bis 2009 weiter bestehenden Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit Konzessionen an bestimmte Berufsgruppen gemacht wurden, wirft natürlich die Frage auf, wie der "Humankapitalmarkt" im Osten Europas eigentlich aussieht.
Es gibt Indikatoren, die einen Vorgeschmack auf das Qualifizierungsniveau der Menschen aus Ost- und Ostmitteleuropa geben. Deutsche Auswanderer zog es, wie oben erwähnt, besonders häufig in die deutsch- und englischsprachigen Länder. Insofern ist davon auszugehen, dass entsprechende Sprachkenntnisse bzw. die sprachlich vertraute Umgebung bei der Wahl des Wanderungsziels eine gewisse Rolle spielen. Hieraus mag sich auch erklären, warum es - von Polen abgesehen - keine größeren Migrationsströme von Deutschen nach Osteuropa gegeben hat, denn die Zahl derer, die Polnisch, Tschechisch oder vielleicht sogar eine der baltischen Sprachen sprechen, ist hierzulande eher gering. Dass aber die Menschen im Osten zu einem hohen Anteil die Sprachen des Westens erlernen und häufig fließend sprechen, macht diese Länder als potentielles Rekrutierungsfeld interessant. Bereits die Sprachkenntnisse vieler Jugendlicher sind bemerkenswert, wobei zu beachten ist, dass auch die großen russischen Minderheiten im Baltikum zur Multilingualität der dortigen Bevölkerungen beitragen.
Fast alle Schüler in den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern erlernen die englische Sprache (Tabelle 1). In Estland, Lettland und Rumänien werden wie in Deutschland Werte von mehr als 90 Prozent erreicht, während Französisch in fast allen neuen EU-Staaten ein Schattendasein fristet. Das trifft jedoch nicht für die deutsche Sprache zu, sieht man einmal von Rumänien ab, dessen ehemals große deutsche Gemeinde in Auflösung begriffen ist. Beinahe jeder zweite ungarische, polnische oder slowakische Pennäler lernte im Jahre 2004 Deutsch in der Schule. Die Anzahl der Schüler, die in ihrer Schulkarriere mit Deutsch in Berührung kommen, liegt prozentual sogar noch über diesen Werten, wenngleich Deutsch gegenüber Englisch in den vergangenen Jahren auch an Bedeutung verloren hat. Fremdsprachenkompetenz allein sagt freilich noch nichts über den tatsächlichen Zustand der Bildungssysteme in diesen Ländern aus. Auch ist sie nur ein Baustein in der Bildung der Menschen. Allerdings vermögen Sprachqualifikationen - zunächst einmal theoretisch - den Handlungs- und Aktionsraum all jener zu erweitern, die über sie verfügen. Dass es deutsche Auswanderer neben dem deutschsprachigen besonders häufig ins englischsprachige Ausland zieht, mag unter anderem daran liegen, dass hierzulande nahezu alle Schüler frühzeitig mit Englisch in Berührung kommen.
Insofern muss Deutschland ein Interesse daran haben, dass Deutsch seine Stellung im Osten behauptet und wieder ausbaut, denn im Kampf um die besten Köpfe konkurriert das Land mit der Englisch sprechenden Welt. Dass das osteuropäische Qualifikationspotential dabei auch über die Sprachqualifikationen hinaus für die Wirtschaft interessant ist, zeigen die Ausbildungs- und Studentenzahlen.
Da der Bildungsgrad des Einzelnen und der Bildungstand der Gesellschaft Einfluss auf die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft haben, ist der Faktor Bildung auch für ausländische Investoren relevant. Ein Mangel an qualifiziertem Personal kann sich da sehr schnell negativ auf die Standortwahl auswirken. 14 Insofern muss Deutschland ein Interesse an gut ausgebildetem Personal haben, und in Zeiten des Mangels ist der Blick auf den Osten Europas nur legitim. Die Vermutung, dass sich eine stärkere transnationale Personalzirkularität positiv auf den Wirtschaftsstandort auswirken kann, liegt nahe.
Dies gilt insbesondere für die "angehenden" Hochqualifizierten: die Studierenden. Staaten wie Estland oder Tschechien weisen hier beispielsweise einen hohen Anteil an Studentinnen und Studenten der Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik auf. Hierzulande erreichte dieser Wert mit 14,6 Prozent aller Studierenden kaum mehr. Ähnlich hoch war er in den für das verarbeitende Gewerbe interessanten Bereichen Ingenieurwesen, Fertigung und Bauwesen, wohingegen Länder wie Bulgarien oder Litauen auf prozentual weitaus höhere Anteile verweisen können. Diese Zahlen lassen zwar noch keine Wertung über die Motivation der Studierenden und die Qualität ihrer Ausbildung zu. Sie vermitteln jedoch den Eindruck, dass im Bewusstsein der Menschen der Lösung technischer und ingenieurwissenschaftlicher Probleme ein hoher, möglicherweise höherer Stellenwert zukommt als bei uns. Auffallend hoch ist auch der Anteil der Studierenden in den Erziehungswissenschaften, was sich unter anderem damit erklären lässt, dass in vielen Ländern ein entsprechendes Studium Voraussetzung für die Aufnahme des Erzieherberufes ist.
Der Anteil der 25- bis 29-Jährigen mit einem Hochschulabschluss war im Jahre 2004 höher als der unter den 30- bis 34-Jährigen. Das heißt, dass sich in jüngster Vergangenheit prozentual mehr junge Menschen eines Altersjahrgangs für die Aufnahme eines Studiums entschieden und dieses auch erfolgreich beendet haben, als noch vor einigen Jahren. Dies gilt insbesondere für Länder wie Litauen, Polen oder Rumänien. Im Vergleich zum Jahre 1998 ist der Anteil der Absolventen einer tertiären Bildungseinrichtung in vielen der neuen EU-Staaten um mehr als die Hälfte gestiegen. Ein Grund dafür mag die steigende Zahl mehrfacher Studienabschlüsse sein, aber auch die Zahl der Promotionen hat in den vergangenen Jahren zugenommen. 15 Offenbar sehen auch junge Osteuropäer durch ein abgeschlossenes Studium bessere Chancen auf den - trotz des rasanten Wirtschaftswachstums teilweise noch immer angespannten - Arbeitsmärkten ihrer Länder. Während ihrer Ausbildung bleiben sie jedoch häufig unter sich, denn der Anteil ausländischer Kommilitonen ist in den neuen Mitgliedsländern ausgesprochen gering. Ost- und ostmitteleuropäische Hochschulen scheinen für ausländische Studierende wenig attraktiv zu sein. 16 Offensichtlich hat nicht nur die Politik gewisse Berührungsängste mit einem der übrigen EU gleichgestellten Osten. Beim Thema Gleichberechtigung sollte auch den Absolventinnen Aufmerksamkeit zuteil werden, denn in allen ost- und ostmitteleuropäischen EU-Staaten beendeten mehr Frauen als Männer ihr Studium erfolgreich (Tabelle 2). In Deutschland betrug ihr Anteil 53 Prozent im Jahr 2003; in allen anderen Ländern des Untersuchungsraumes lag die Quote zum Teil weit darüber, und das auch in den so häufig als männerlastig definierten Studiengängen wie den Ingenieurwissenschaften.
Die hohe Zahl tertiärer Bildungsabschlüsse in Polen kann nicht erstaunen, da es derzeit noch eine günstigere demographische Struktur aufweist als Deutschland. 17 In den vergangenen Jahren konnten hier nicht alle jungen Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden - die Quote der Jugendarbeitslosigkeit blieb überproportional hoch, sodass nicht wenige ihr Glück im Ausland suchten. Viele gingen nach Großbritannien, das seinen Arbeitsmarkt nach der EU-Osterweiterung nicht abschottete. Zwischen 500 000 und einer Million Polen sollen bis heute den Weg über den Kanal gefunden haben; vermutlich weitere 200 000 halten sich derzeit in Irland auf. Genaue Zahlen gibt es nicht, da die Erfassungsmethoden aufgrund der Meldeformalitäten an Grenzen stoßen. Es lassen sich dabei aber durchaus Parallelen zum deutschen Auswanderungsstrom erkennen, denn die meisten wollen nicht dauerhaft im Gastland bleiben, sondern nach ein paar Jahren in ihre Heimat zurückkehren. Dabei ist die Mehrheit der nach Großbritannien gewanderten Polen sowohl sehr jung als auch sehr gut ausgebildet. 18 Dass viele von ihnen nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten können - dafür befinden sich einfach zu viele in Großbritannien - heißt, dass die hier am Beispiel der Polen beschriebene Dynamik womöglich sehr viel produktiver gestaltet werden könnte, wenn das Stellenangebot auf Ebene der gesamten EU nur entsprechend groß wäre. Ein riesiges Potential bleibt so für Deutschland ungenutzt, denn die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat dazu beigetragen, dass die mobilsten Arbeitskräfte aus Ostmitteleuropa heute in andere Länder gehen. 19 Und unter den Mobilsten befinden sich - wie bereits an den deutschen Auswanderern ersichtlich - besonders viele junge und hochqualifizierte Menschen, die sich zu behaupten wissen und ihren Gastländern in den allermeisten Fällen nicht auf der Tasche liegen werden.
Die Zahl der aus Deutschland auswandernden Deutschen hat in den vergangenen Jahren zwar zugenommen. In den meisten Fällen handelte es sich aber nicht um eine dauerhafte, sondern um eine temporäre Auswanderung, denn die Mehrheit kehrt in aller Regel nach einer gewissen Zeit zurück. Insofern erscheint es angemessener, von Zirkularität denn von Wanderungsverlusten zu sprechen. Überdurchschnittlich häufig wird der Migrationsstrom dabei von jungen, gut ausgebildeten und sprachbegabten Menschen dominiert, die durch ihren Auslandsaufenthalt ihren Erfahrungshorizont erweitern und positiv zur ökonomischen Entwicklung ihres Gastlandes beitragen. Es stellt sich also die Frage, ob nicht auch Deutschland als Zielgebiet noch sehr viel stärker von dieser Entwicklung profitieren könnte. Dass "eine Politik des Protektionismus und der Abkopplung (...) die Gefahr in sich [birgt], dass die heimische Wirtschaft nicht nur vom Kapital- und Wissensstrom abgeschnitten wird, sondern auch mobile Produktionsfaktoren (Kapital, qualifizierte Arbeitskräfte) durch Abwanderung verliert", 20 ist in nahezu allen politischen Kreisen zwar Konsens. Gleichzeitig sind sich die meisten Entscheidungsträger aber darin einig, dass der deutsche Arbeitsmarkt auch weiterhin des Schutzes bedarf. Dem mögen die Erfahrungen mit der Einwanderung aus dem Süden in die alte Bundesrepublik zugrunde liegen. Dabei wird jedoch übersehen, dass sich diese Zuwanderung erheblich von der zu erwartenden aus Ostmitteleuropa unterscheidet, denn nie zuvor gab es dort so viele so gut ausgebildete Menschen wie derzeit.
In jüngster Vergangenheit fanden sie in Deutschland noch häufig ein Auskommen im Kraftfahrzeugbereich, im Baugewerbe oder in der Landwirtschaft - dabei könnten viele sehr viel mehr als das. Zumeist handelte es sich um eine kurzfristige Arbeitsaufnahme, mit der nicht unbedingt der Wunsch nach einer dauerhaften Existenz in Deutschland einherging. 21 So verhält es sich auch mit den in Großbritannien und Irland tätigen Gastarbeitern, insbesondere den Polen. Ein Großteil von ihnen will nach ein paar Jahren Arbeit im Gastland in die Heimat zurückkehren; viele pendeln zwischen Polen und ihrem Arbeitsort und denken nicht daran - wohl auch aus Raum- und Kulturverbundenheit -, ihre Familien nachzuholen. Dauerhafte Zuwanderung wird es zwar auch hier geben, aber die in den politischen Debatten so häufig geschürten Ängste vor einer Einwanderungsflut aus Osteuropa waren wohl überzogen und erweisen sich heute als eher unbegründet. Dass derzeit ein polnischer Strom an Arbeitskräften insbesondere nach Großbritannien tendiert, mag der Tatsache geschuldet sein, dass die meisten der alten EU-Staaten an der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit festhalten und die räumlich-transnationale Bevölkerungsbewegung so auf wenige Ziele beschränkt bleibt. Bei diesen Migranten handelt es sich um die mobilsten, die nicht selten die am besten qualifizierten sind und die Goethe'schen Bildungsideale vom lebenslangen Lernen, vom Perspektiv- und Berufswechsel in sich tragen. Angesichts dessen sollte gründlich und vor allem unaufgeregt geprüft werden, ob Deutschland durch seine Abschottungspolitik nicht die besten Arbeitskräfte verloren gehen. Wir haben jedoch gesehen, dass der Osten Europas ein Potential bereit hält, für das Deutschland ein besonderes Interesse entwickeln sollte, damit flexible, gut ausgebildete, intelligente und lernbereite (junge) Menschen künftig nach Deutschland kommen. Einige Berufs- und Qualifikationsgruppen sind uns, wie der Meseberg-Beschluss gezeigt hat, bereits jetzt sehr willkommen. Anderen, nicht minder qualifizierten Kräften werden bislang noch derartige Erleichterungen verwehrt. Dabei gälte es, den Blick auf das Qualifikationspotential des europäischen Ostens zu richten, denn das scheint hierzulande nach wie vor eine große Unbekannte zu sein - unbekannt wie so viele Aspekte der europäischen Migrationsdynamik. Dies gilt ganz besonders für die in der Forschung noch immer so stiefmütterlich behandelte Bildungsmigration, die zugleich stetigen Veränderungen unterliegt.
Wir haben uns in unserer Darstellung vorwiegend auf den Bereich der universitären Bildung beschränken müssen; die Zahlen für die ausgebildeten Facharbeiter sind hier noch gänzlich unberücksichtigt, aber es sollte deutlich geworden sein, vor wem uns die derzeitige Arbeitsmarktregelung zu "schützen" versucht. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die derzeitigen Restriktionen nicht nur die besten Arbeitskräfte von Deutschland fernhalten, sondern dass auch diejenigen, die mittels Sonderregelungen bereits heute kommen dürfen, unnötig von einem Arbeitsaufenthalt im Land abgeschreckt werden. Insofern gilt es, das statische Denken - das heißt die Annahme, dass per se jeder, der nach Deutschland kommt, dauerhaft bleiben will - zu revidieren und zu akzeptieren, dass es Arbeitswanderungen immer gegeben hat und dass es sie immer geben wird. Aus dieser Perspektive scheint die geltende Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit überholt zu sein. Es ist anzunehmen, dass ihre Nichtverlängerung über das Jahr 2009 hinaus einer ähnlichen Zirkularität Vorschub leisten könnte, wie sie bereits zwischen Deutschland und den zumeist westlichen Zielländern deutscher Auswanderer besteht - damit eben nicht mehr nur die Besten gehen, sondern auch kommen.
1 Zit. nach:
Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich, Erftstadt 2005,
S. 5.
2 Vgl. Andreas Ette/Leonore Sauer,
Auswanderung aus Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 30.
3 Quelle: Bundesverwaltungsamt.
4 A. Ette/L. Sauer (Anm. 2), S.
11.
5 Vgl. ebd., S. 11 - 15.
6 Vgl. ebd., S. 52.
7 Vgl. ebd., S. 37.
8 Ebd., S. 5.
9 Vgl. Nico Fickinger, Die "Blue Card"
würde in Deutschland wenig ändern, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 12. 9. 2007.
10 Mirjana Morokvasic, Pendeln statt
auswandern. Das Beispiel der Polen, in: Mirjana Morokvasic/Hedwig
Rudolph (Hrsg.), Wanderungsraum Europa. Menschen und Grenzen in
Bewegung, Berlin 1994, S. 166 - 187, S. 185.
11 Vgl. Catherine Wihtol de Wenden,
Europa als Schnittpunkt von Migrationsströmen aus dem Osten
und dem Süden, in: M. Morokvasic/H. Rudolph (Anm. 10), S. 62 -
73.
12 Siegfried Fischer-Fabian, Herrliche
Zeiten. Die Deutschen und ihr Kaiserreich, Wien 2006, S. 305.
13 Vgl. Osteuropäische Ingenieure
dürfen früher ins Land, in: FAZ vom 24. 8. 2007, S.
9.
14 Vgl. Christina Anger/Axel
Plünnecke/Susanne Seyda, Bildungsarmut - Auswirkungen,
Ursachen, Maßnahmen, in: APuZ, (2007) 28, S. 39 - 45.
15 Vgl. Birgitta Andren, Bildung und
Weiterbildung, Luxemburg 2005, S. 6 - 7.
16 Vgl. Peter Jurczek,
Hochschulkooperationen im deutsch-tschechischen Grenzgebiet -
Vorläufer zur Entwicklung eines europäischen
Wirtschaftsraumes auf regionaler Ebene, in: Europäisches
Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.),
Jahrbuch des Föderalismus 2007, Baden-Baden 2008, S. 549 -
564.
17 Quelle: Statistisches
Bundesamt.
18 Vgl. Olaf Sundermeyer, Heimkehr der
Generation Europa, in: www.spiegel.de (20. 10. 2007).
19 Vgl. Thilo Großer, Aus Ost
wird West, in: Capital (2007) 15, S. 46 - 49.
20 Ludwig Schätzl, Steuerbarkeit
globaler wirtschaftlicher Prozesse durch räumliche Planung?,
in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.),
Kooperation im Prozess des räumlichen Strukturwandels.
Wissenschaftliche Plenarsitzung 1999, Hannover 2000, S. 31 -
39.
21 Vgl. M. Morokvasic (Anm. 10), S. 166
- 187.