Wie der Raum medial überwunden wird, das konnten wir kürzlich erfahren, als unser Sohn für ein halbes Jahr in Neuseeland zur Schule ging. Sonntags frühstückten wir immer zusammen: Wir stellten das Notebook auf den Frühstückstisch und damit war die Familie wieder komplett. Woche für Woche konnten wir über Skype und eine Webcam beobachten, wie die Haare des Sohnes länger wurden. Wir bekamen die Kniewunde nach einem Sturz gezeigt und haben uns auf diese Weise so intensiv mit unserem 17-jährigen Jungen unterhalten, wie lange nicht, als er noch zu Hause war.
Wir meinten es zu erleben, wir konnten Raum und Zeit für den Moment vergessen, aber waren sie wirklich nicht mehr da? Während wir in den Tag starteten, war es in Neuseeland durch die Zeitverschiebung bereits später Abend. Das einzige Zeitfenster in der Woche, an dem wir auf diese Weise mit unserem Sohn zusammen sein konnten, war der Sonntagmorgen. Insofern blieben wir zumindest von der Zeit abhängig.
Phantasien darüber, dass mit der Zugänglichkeit von Daten und durch interpersonale Kommunikation über das Internet Raum und Zeit verschwinden würden, gab oder gibt es zuhauf. Das verwundert auch gar nicht, denn technisch scheint dies ja auch beinahe möglich zu sein. Wir können Informationen vom Ende der Welt abrufen. So lasen wir die Evaluationsberichte über die Schule, die unser Sohn in Neuseeland besuchen sollte. Wir fanden die Listen mit den Lehrerinnen und Lehrern und deren Fotos. Wir haben uns die Schule im Satellitenbild angesehen und auch das Haus der Gasteltern. Aus dem Weltall konnten wir den Schulweg unseres Sohnes betrachten und den Badestrand, an dem er sich verletzte. Man kann schon sagen, dass durch das Internet die Informationsdichte und die Verbreitungsmöglichkeiten auf eine neue Stufe gestellt werden. Es hat tatsächlich den Anschein, als wären alle Informationen zu jeder Zeit und von jedem Ort aus zugänglich.
Dass europäische oder amerikanische Unternehmen in Indien Belege erfassen lassen oder dorthin ihre Softwareproduktion ausgelagert haben, ist mittlerweile weithin bekannt. Es ist aber auch möglich, mit Hilfe von persönlichen Online-Assistenten tägliche Besorgungen von Indien aus erledigen zu lassen. 1 Der Assistent sitzt in einem Büro in Bangalore und erledigt Dinge, zu denen gestresste Menschen in den USA oder Europa nicht kommen. Von Indien aus organisieren diese neuen outgesourcten Mitarbeiter Partys in New York, verschicken Blumen an die Gattin, besorgen Schuhe, die sie im Internet bestellen, oder lesen den Kindern Gute-Nacht Geschichten vor.
Dieser kleine Ausschnitt an Möglichkeiten macht deutlich, dass es sich nicht nur um Phantasien handelt; es wird aber auch plastisch, dass ein anderer Prozess damit verwoben ist: die Globalisierung. Dieser Prozess läuft sicherlich bereits seit dem Zeitalter vor dem Internet. Eigentlich ist er wegen seiner weltweit verteilten Produktion das Projekt der Moderne.
In den vergangenen zwei Dekaden hat sich dieser Prozess beschleunigt. Ein Indikator dafür sind die "verlängerten Werkbänke" in Ländern mit niedrigerem Lohnniveau. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe das Internet dem bereits laufenden Trend einen wesentlichen Schub verliehen. Zu einfach wäre es, diesen auf die Technologie zurückzuführen. Mindestens ebenso wichtig oder wichtiger ist der politische Umbruch, der in der Zeit stattgefunden hat, wodurch diese Regionen erst voll in das Weltwirtschaftssystem integriert wurden.
Durch das Internet wird aber nicht nur der wirtschaftlichen Entwicklung, der Erleichterung von Warenströmen, der Dienstleistungen und einer Vermehrung der familiären Kontakte auch ins Ausland Vorschub geleistet. Es heißt, dass auch der Kontakt zwischen einander fremden Menschen unterschiedlicher Länder und Kulturen auf ein neues Niveau gehoben werde. Virtuelle Gemeinschaften überlagerten geographische und politische Grenzziehungen, argumentiert einer der publizistischen Vorreiter. 2 Auf diese Weise seien politische Aktionen unabhängig vom Ort möglich. Tatsächlich wird immer wieder auf die Bedeutung des Internet zur Organisation von politischer Einmischung hingewiesen.
Auch in der Soziologie finden sich zahlreiche Autoren, die dieser Rhetorik folgen. So schreibt Rudolf Stichweh von der "Ortsunabhängigkeit von Adressen". 3 Die Situation sei durch Gleichzeitigkeit und Globalität geprägt. Die Bewegung, das Surfen im Internet sei vom Ort, an dem die Daten aufbewahrt werden, vollkommen unabhängig. Das Gleiten im technischen Netzwerk folge eher Assoziationen und angebotenen Links, als dass es etwas mit Geographie zu tun habe. Die Information aus Asien, Amerika oder Europa lägen alle auf derselben Ebene, es gebe keine physische Verortung bzw. diese sei völlig unerheblich, heißt es. 4 Stimmt diese Einschätzung tatsächlich über die Beobachtung des technischen Ablaufs hinaus? Dieser Frage soll im Verlauf des Textes nachgegangen werden. Zunächst folgen aber ein paar Betrachtungen zur Bedeutung von Raum und Zeit für die Erstellung von sozialen Beziehungen.
Diese Überlegungen legen die Vermutung nahe, dass Raum und Zeit im Internetzeitalter tatsächlich keine Rolle mehr spielen. In diesem Zusammenhang können wir uns fragen, was am Raum und der damit verbundenen zeitlichen Relationen so bedeutsam ist. Wir leben an einem Ort, arbeiten dort, haben unsere sozialen Beziehungen, erledigen hier unsere Einkäufe und treffen uns mit Freunden. Dieser Raum ist physisch vorhanden, wir erleben ihn, wenn wir unsere Besorgungen machen, wenn wir ihn überwinden, um zur Arbeit zu gelangen. Georg Simmel sprach vom "einzigen allgemeinen Raum, von dem alle einzelnen Räume nur Stücke sind". 5 Dieser ausschließliche Raum ist politisch, also sozial strukturiert: Er ist in Stücke aufgeteilt, die als Einheiten gelten und von Grenzen umrahmt werden. Räumliche Grenzen sind zu dieser Zeit zu weiten Teilen auch soziale Grenzen. Diese Unterscheidung zwischen Raum und Sozialität nimmt Leopold von Wiese explizit in seinen Hauptkategorien der Soziologie (neben sozialem Prozess und Abstand) auf. 6 Er nennt dies den sozialen Raum (oder - im gleichen Sinne - die soziale Sphäre). Dort spielen sich die sozialen Prozesse ab, die für die Konstitution von Beziehungen und im Sinne des Autors der Abstandsverhältnisse entscheidend sind. Von Wiese schreibt, der soziale Raum sei vom "physischen Raume zu unterscheiden". Zwar sei auch der physische Raum für das gesellschaftliche Leben von Bedeutung, aber dies sei kein Gegenstand der soziologischen Forschung. Die sozialen Prozesse spielen sich demnach im sozialen Raum ab, explizit nennt von Wiese "Verbindungen, Trennungen, Bindungen, Lösungen, Brechungen, Verteilungen, Gesellungen". 7 Diese seien in sozialräumlicher Hinsicht von Bedeutung, wobei der Sozialraum, so seine Idee, durch die Entfernungen zwischen den Personen, beispielsweise nahestehenden und entfernten Bekannten in ähnlicher Weise wie der physische Raum konstituiert würde. Allerdings sei das "Metermaß" dabei nicht anwendbar.
Fassen wir, was von Wiese als Sozialraum ansieht, weit, dann zählen die im Internet verfügbaren Informationen dazu, ebenso die Anwendungen, die explizit dazu konstruiert wurden, um einen Austausch, mithin Beziehungen darin entstehen zu lassen. Man kann in einem gewissen Sinne auch schematisierte bzw. automatisierte Verbindungen dazu rechnen: Um diese handelt es sich, wenn beispielsweise Bestellungen abgearbeitet werden oder Bankgeschäfte getätigt werden. Informationen werden für Adressaten nach außen und innen ins Internet gestellt. Versand und Handel sind auf rechtliche Rahmenbedingungen angewiesen, deren Entstehung und Durchsetzung als soziale Prozesse begriffen werden können. Auch sie kommen nicht ohne Menschen aus, welche die Bestellungen bearbeiten und an den Pforten und Haustüren abliefern. Freilich geschieht das In-Kontakt-Treten in einigen der geschilderten Fälle auf einer solchen Vermittlungsstufe, dass man nur mit Mühe von "sozialen Beziehungen" sprechen kann. Gleichwohl unterliegen diesen auch soziale Prozesse, nämlich bei der Herstellung der Infrastruktur für solchen Handel oder solche Produktionsprozesse. In anderen Fällen tritt klarer zutage, dass soziale Beziehungen aufgebaut werden.
Das Internet lässt sich also als sozialer Raum verstehen, in dem auf ganz unterschiedlichen Ebenen soziale Prozesse ablaufen. Aber bleiben wir noch ein wenig bei der Bedeutung des Raumes. Der britische Soziologe Anthony Giddens hat eine Strukturierungstheorie vorgelegt. 8 Darin wird der Zeit und dem Raum eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Insbesondere geht es um die Kopräsenz als Voraussetzung für die Herausbildung sozialer Beziehungen. Die gleichzeitige Anwesenheit an einem Ort ist nicht zufällig und genau darum kann man sie als Möglichkeitsrahmen für die Herausbildung von Beziehungsstrukturen ansehen.
Das begegnet uns überall in der Gesellschaft: Arbeitende in der Produktion beginnen ihren Arbeitstag meist recht früh oder arbeiten sogar in Schichten. Die Bankangestellten dagegen betreten erst viel später das Büro. Diese Kategorie von Beschäftigten ist allerdings immer noch im Büro, wenn sich die Arbeiter bereits auf dem Nachhauseweg befinden, und manche Studierende sind zu Veranstaltungsbeginn um 10 Uhr noch nicht ausgeschlafen. Alle drei der hier genannten Gruppen haben nur wenige Möglichkeiten im normalen Tagesablauf miteinander in Kontakt zu kommen. Die öffentlichen Verkehrsmittel transportieren an einem Morgen zwischen Betriebsbeginn und Mittag je nach Uhrzeit ganz unterschiedliche Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten. Die Strukturierung der Gesellschaft nach der Zeit setzt sich aber auch in der Freizeit fort: Die Aktivitäten unterscheiden sich nach Bevölkerungsgruppen gewaltig. In einem etwas außerhalb von Frankfurt am Main liegenden Park, in dem Grillen erlaubt ist, wird man am Wochenende fast nur türkische Familien finden; in der Mitte des Pferderennplatzes wurde ein Übungsgelände für Golfer eingerichtet. Man kann sich vorstellen, dass es nur wenige Schnittflächen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen gibt, die beide ihre Freizeit an der frischen Luft verbringen. Da Begegnungen zwischen den geschilderten Gruppen kaum stattfinden, kommt es nur sehr selten zu Freundschaften, werden keine Ehen untereinander geschlossen. Man lebt nebeneinander her, durchquert zwar denselben physischen Raum, kommt aber nicht in Kontakt, da man es nicht zur selben Zeit tut.
Die geschilderten Beispiele zeigen, dass sich eine Struktur von außen aufdrängt. Es gibt aber auch eine "innere Struktur", die ebenfalls im Zusammenhang mit Zeit und Ort steht. Raumzeitliche Verortungen spielen eine Rolle als Strukturierungselemente auch in einer lebensgeschichtlichen Dimension eines jeden Einzelnen. Der Discobesuch beispielsweise ist weitgehend auf die Phase der Partnerfindung begrenzt. Ältere sind auf "Ü-Partys" angewiesen, die den Tanztee der Vergangenheit weitgehend abgelöst haben. Die "Seniorenwohnanlage" mag für die gebrechlich Werdenden eine Wohnalternative sein; junge Menschen hingegen wird man dort nur als Pfleger oder Besucher finden.
Bis hierhin wurde die Kopräsenz, also die Möglichkeit zu gleicher Zeit am gleichen Ort zu sein, als begrenzendes Strukturierungsmerkmal, Beziehungen einzugehen, eingeführt. Der physische Raum ist von Bedeutung, weil an ihn die "Begegnungsorte" geknüpft sind. Dabei wurde aber auch deutlich, dass der physische Raum durch die zeitliche Strukturierung bereits gebrochen wird und kaum als eine für alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen zugängliche Einheit angesehen werden kann.
Der physische Raum gerät, wenn wir gedanklich bei der Notwendigkeit von Kopräsenz bleiben, durch die Verkehrsmittel noch weiter durcheinander. Kann man sagen, dass sich die Entfernungen beim Durchschreiten eines Raumes zu Fuß (abgesehen von natürlichen Hindernissen) in einer einigermaßen gleichen Zeit abbilden lassen, wird dies durch die moderne Verkehrsinfrastruktur neu geordnet: Autobahnen lassen Regionen "näher zusammenrücken", Schnellbahntrassen ermöglichen es, täglich zwischen Orten zu pendeln, die in früheren Zeiten mehrere Tagesreisen auseinander lagen. Die Verschiebungen der "Geographie" durch die Schnelligkeit der Verbindung zeigen sich im Verhältnis der Fernverbindung zum Nahbereich. Plastisch gemacht bedeutet das, dass für die 23 Kilometer zwischen den Stadtteilen von Frankfurt-Fechenheim und Frankfurt-Zeilsheim eine Stunde und zwanzig Minuten im städtischen Nahverkehr einzukalkulieren sind. Von Köln-Deutz zum Frankfurter Hauptbahnhof benötigt man zwanzig Minuten weniger. Eine Betrachtung der Wegezeit zeigt, dass die Relation der Städte Köln und Frankfurt am Main vergleichbar ist mit den Verbindungen zwischen den beiden genannten Stadtteilen. Mit der Art des Verkehrsweges ändern sich auch die Bedingungen der Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu kommen.
Wozu diese Überlegungen zu Raum und Zeit? Nun, wir sehen, dass es durch den Einsatz moderner Verkehrsmittel zu Raumverschiebungen kommt; damit zeigt sich, dass der physische Raum durch Verkehrstechnologien gebrochen wird und dass sich dies auf den Sozialraum auswirkt. Der soziale Raum wird in sehr viele kleine, sich überlagernde Cluster zerlegt, die nur an manchen Stellen miteinander in Verbindung stehen. Nehmen wir dieses Bild mit in den nächsten Abschnitt. Dort geht es um die Repräsentation der Raumzeit im Internet.
Im Internet stellen Zeit und Raum praktisch keine Barrieren dar. Orte, die schwerer erreichbar wären, wie periphere Stadtviertel, oder gut erreichbar, wie die Zentren der Großstädte, liegen technisch auf einer Ebene. Ohne die Betrachtung von sozialen Beziehungsregeln könnte man annehmen, dass diese Unterscheidung keinerlei Bedeutung mehr besitzt. Das Internet stellt sich zwar stellenweise als eine eigene Welt dar, in der es möglich ist, sich zu verlieren, sei es als Spieler oder Teilnehmer in einer Netzwerkcommunity. Man ist aber trotzdem nicht völlig losgelöst vom "normalen" Leben. Gerade die Verbindung mit den Strukturen außerhalb des Internet machen die meisten Anwendungen so wertvoll.
An welchen Stellen wird der Raum bedeutsam? Geographen entwickeln Karten des Internets, in denen Routerverbindungen aufgezeigt werden. Solche Karten (s. Abbildung) können als Indikatoren für die Beteiligungsmöglichkeiten angesehen werden. Sie sind keineswegs unabhängig vom Raum, was auf den ersten Blick erkennbar ist. Die Erste, Zweite und Dritte Welt werden deutlich sichtbar und mit ihnen die Partizipationschancen der Bevölkerung. Diese sind nicht unabhängig vom Raum und den damit zusammenhängenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie sind sogar sehr abhängig davon. Die Dritte Welt ist nach wie vor abgehängt; die Beteiligungsmöglichkeiten sind einer kleinen Elite vorbehalten. Nur wenige haben Zugang zur Technik, und kaum jemand besitzt einen Computer mit Internetanschluss. 9 Ferner stellen Sprach- und Bildungsdefizite in den Ländern eine Beteiligungsbarriere dar.
Die Elite der Drittweltländer mit Zugang zum Internet hat dagegen häufig Kontakte in die Erstweltländer, sei es, dass Familienangehörige dort studieren oder arbeiten, sie selbst für ausländische Unternehmen arbeiten oder über Handelskontakte verfügen. Was aber, wenn die Sprach- und Bildungsdefizite überwunden wären? Das würde noch nicht viel bringen, denn es kommt noch schlimmer: Diejenigen, die ins Internet können, haben den Nachteil, dass dortige Angebote kaum an ihre Bedürfnisse angepasst sind.
Warum? Weil das WeltWeiteWeb einen Großteil seines Nutzens in Verbindung mit dem sozial definierten Raum außerhalb und der dort vorhandenen Infrastruktur entfaltet. Warum sollte man das Kino-Programm nachschauen, wenn es kein Kino gibt? Auch Onlinebankgeschäfte sind ohne Bankkonto sinnlos. Navigationsdienste im Internet bringen nichts, wenn man kein Auto besitzt und die Informationen über das Hotelangebot sind unbrauchbar, wenn man nicht verreist oder es keine Hotels gibt, die über eine Repräsentanz im Internet verfügen. Abbildung: Internetgeographie: Routerverbindungen in der Welt Quelle: Die Daten stammen von 2007: www.chrisharrison.net/projects/InternetMap/medium/ worldWhite.jpg (11.7. 2008).
Allerdings ist es keineswegs so, dass in den Ländern, die eine Vielzahl von Verbindungen aufweisen, die Beteiligung gleichverteilt wäre. Und so, wie der geographische Raum in soziale Cluster zerfällt, fehlen auch hier wesentliche Teile, deren Vorhandensein das Internet noch wertvoller machen würde. Zu einem solchen sozialen Cluster zu gehören, das über wenige Zugänge verfügt, etwa das der älteren Frauen, ist in der Ersten Welt schlimmer als in der Dritten Welt, denn der Nutzen in der Ersten Welt ist weit größer. Da bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen im Konsumentenalter ein Computer mit Internetanschluss zu Hause oder am Arbeitsplatz steht, 10 und vieles sich durch eine Schnittstelle zum Computer produktiver gestalten lässt, wird es zunehmend schwieriger, ohne Internet auszukommen. 11
Die Nichtnutzung des Internet steht in einem Verhältnis zum sozialen Raum, in dem sich die Nichtbeteiligten bewegen. Dies sind eher Frauen, Ältere und Bildungsferne. Ein Großteil der populären Anwendungen, seien es interaktive Spiele oder die bekannten Vernetzungssites, zielt auf ein wesentlich jüngeres Publikum. 12 Die Verteilbörsen für das Herunterladen von Musik und Videos, welche bei Jugendlichen so beliebt sind, dürften kaum ein Angebot haben, welches auf den Geschmack der Älteren trifft. Allerdings gibt es auch Anwendungen, die sich stärker an diese sozialstrukturelle Gruppe richten, beispielsweise im Gesundheitsbereich. Dort sind es aber auch eher die Gebildeten, welche die Möglichkeiten nutzen können. Sprachbarrieren sind ebenfalls vorhanden, da der Großteil des Internet auf dem Englischen beruht. Die Zugänglichkeit des Internet als Raum ist also keineswegs gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt, und Ausschlüsse entstehen an ähnlichen Grenzen wie im Raum außerhalb des technischen Netzes auch. Das bedeutet, dass diese sich anhand der bekannten sozialstrukturellen Kategorien rekonstruieren lassen. Nicht alle Räume können von der Bevölkerung gleichermaßen genutzt werden, und so verhält es sich auch mit dem Internet.
Betrachten wir interpersonale Kontakte im Internet, so zeigt sich, dass ein Großteil der Kommunikation den vorgängig konstituierten Anschlüssen folgt bzw. diese den Anlass dazu liefern, bestimmte Anwendungen zu installieren und zu benutzen. Dies gilt für die Messaging-Dienste (Skype, MSN oder ICQ) ebenso wie für E-Mail und die Netzwerkcommunities. Diese werden in der Regel in soziale Beziehungen integriert. 13 Es sind Vereinbarungen notwendig, bei denen ausgehandelt oder mitgeteilt wird, welcher Dienst bei wem installiert ist, welche Erfahrungen damit gemacht wurden, wer im Bekanntenkreis außerdem noch darüber verfügt etc. Auf diese Weise werden Kommunikationswege festgelegt, die in einem Zusammenhang zur raumzeitlich verankerten Beziehungsstruktur außerhalb des Netzes stehen. Die relativ neuen Netzwerk-Communities setzen genau an bereits vorhandenen Beziehungen an. Meldet man sich beispielsweise bei dem Dienst Facebook an, so wird man gefragt, ob man sein E-Mail-Adressbuch nach ebenfalls teilnehmenden Bekannten abgleichen lassen möchte. Um Kommilitonen oder Ehemalige zu finden, wird man nach der Schule oder Universität sowie dem Abschlussjahrgang gefragt. Hierdurch wird an das Beziehungs- und Freundschaftsnetz angeknüpft, welches sich an einem speziellen Ort konstituierte.
Das heißt keineswegs, dass im Internet nicht auch Beziehungen entstehen würden. Dies findet sogar häufig statt. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen darüber. So werden Hinweise darauf gefunden, dass die äußere Möglichkeitsstruktur durch die notwendige Raum- und Zeitgleichzeitigkeit, wenn nicht außer Kraft gesetzt, so doch zumindest ein Stück weit verschoben wird. Gustavo S. Mesch und Ilan Talmud haben beispielsweise herausgefunden, dass über das Internet gewonnene Freunde in Israel hinsichtlich ihres Alters, des Geschlechts und der Herkunft etwas inhomogener sind, als die im Jugendalter üblichen Peer-to-Peer Freundschaften. 14 Dies spricht dafür, dass sich die durch die gleichzeitige Anwesenheit an einem Ort relativ starren Beziehungsvoraussetzungen lockern. Allerdings bleibt die dort festgestellte Variation in einem geringen Rahmen. Je näher die online gewonnenen Freunde räumlich und sozialstrukturell (Alter, Geschlecht) waren, umso enger war die Beziehung. Aufgehoben ist die Homogenität, die in der klassischen Soziologie als konstitutiv für Freundschaften gilt, also keinesfalls. 15 Dies kann als Zeichen dafür gedeutet werden, dass die meisten Anwendungen sich ihr Publikum suchen und dieses Publikum dann in verschiedenerlei Hinsicht homogen sein wird. Die Studie zeigt auch, dass räumliche Bezüge nicht unwichtig sind.
Durch die Begrenzungen des Raums werden politische, kulturelle und soziale Klammern erzeugt. Was im Stadtgebiet passiert, wird in der Lokalpresse aufgegriffen und von den Bürgern diskutiert. Die Fußballmannschaften treffen in den lokalen Ligen aufeinander, alle Stadtteile umfassende Feste, der Karneval, Tage der offenen Tür der Stadt, das kulturelle Angebot, die Schwimmbäder, regionale Essensspezialitäten etc. - all dies trägt dazu bei, dass der Raum als eine Identifikationseinheit ihrer Bewohner aufgefasst wird. Die Ereignisse liefern Gesprächsthemen, und durch die lokalen Bezüge wird ein Stück des Bewusstseins der Menschen geformt. Eine grenzenlose Kommunikation enthebt die dort verwurzelten Akteure ihres Kontextes und damit auch eines größeren Teils der Themen, über die kommuniziert werden kann. Diese Art der Verwurzelung erinnert an unmoderne Gesellschaftsformen mit segmentierter Differenzierung. 16 Segmentäre Gesellschaften sind an die Lokalität gebunden, also die Infrastruktur, auf die "Vor-Ort" zurückgegriffen wird. Dort sind die sozialen Gebilde, in die man hineinwächst und in denen sich der Symbolvorrat, also die Möglichkeiten für Interpretation herausbilden. Diesen wird von Alois Hahn und Herbert Willems die funktionale Differenzierung gegenüber gestellt. Sie ermöglichten Wahlverbindungen. Man muss sich nicht mit den lokal vorhandenen Beziehungen begnügen, sondern kann, gerade dann, wenn man in hoch qualifizierten Berufen tätig ist, Kontakte rund um die Welt aufbauen. Allerdings sind diese ebenfalls nicht beliebig, sondern sehr stark von der Position der Menschen abhängig.
Für die meisten Menschen spielen die lokalen Zusammenhänge eine Rolle, auch wenn in Modernisierungstheorien 17 immer wieder von "Entbettung" die Rede ist und hierfür Argumente angeführt werden können, etwa immer stärker werdende berufliche Mobilitätserwartungen und eine Ausdifferenzierung der Berufe. Man könnte auch sagen, dass gerade mobile Menschen auf das Internet angewiesen sind, um ihre Herkunftszusammenhänge nicht zu verlieren. Hinweise darauf finden sich in Untersuchungen zur Aufrechterhaltung der Kontakte zum Herkunftsort per Internet bei Migranten. 18
Es sind nicht nur die sozialen Beziehungen zum Herkunftsland, die für eine Begrenzung der Fiktion einer Auflösung von raumzeitlichen Zusammenhängen entgegenstehen: Die Interpretation medial vermittelter Inhalte ist abhängig vom Wissen, den vorgängig vermittelten Normen und Werten und den Erfahrungen, die die Menschen gemacht haben. Am Export von Fernsehsendungen konnte gezeigt werden, dass diese lokal vermittelten Bezüge die Interpretation von Inhalten wesentlich beeinflussen. 19 Auch hier sind Verbindungen in den Raum vorhanden, die nicht hintergangen werden können.
Man könnte jetzt auf die Idee kommen, dass sich das Internet in der eher rationalen Geschäftswelt von räumlichen Bezügen unabhängig machen kann. Untersuchungen zeigen jedoch, dass auch virtuelle Unternehmen nicht ohne konkrete Treffen auskommen und damit im Raum gefangen sind. 20 Durch den persönlichen Kontakt wird Vertrauen geschaffen, ist doch der Umgang mit komplexen Anforderungen nur schwer durch Medien vermittelbar. Erst wenn man gelegentlich einen Wein zusammen trinkt, lässt es sich auch per E-Mail gut miteinander kommunizieren. Das Vertrauensproblem ist bedeutend, es behindert die Geschäfte über das Internet. Dessen ungeachtet sind erhebliche Wachstumsraten zu verzeichnen. Vor Bestellungen im Internet, so wird geraten, schaue man sich die Webpräsenz des Versenders an. Findet sich eine Abbildung eines physisch vorhandenen Ladens, eines Lagers oder der verantwortlichen Personen, so ist man eher geneigt, auf das Angebot einzugehen.
Die Zahl der Beispiele, auf die dies zutrifft, ist Legion: So zeichnet sich die Online-Enzyklopädie Wikipedia dadurch aus, dass unterschiedliche Autoren ganz unabhängig vom Ort, an dem sie sich befinden, an Artikeln arbeiten können. In einem Forschungsprojekt zur Kooperation in Wikipedia konnten wir jedoch zeigen, dass der Besuch von Stammtischen und anderen Treffen ganz wesentlich dazu beiträgt, in eine Führungsrolle in der Organisation Wikipedia zu gelangen. Ohne dass die Kandidaten einmal gesehen wurden, ist es fast nicht möglich, dort Administrator zu werden. "Prominent" werden auch nur solche Teilnehmer, die nicht nur einmal auf einem lokalen Treffen waren. Dies setzt eine ausgiebige Reisetätigkeit voraus. Ein Leben im Internet, welches unabhängig von Raum und Zeit wäre, ist weder empirisch auffind- noch vorstellbar. Wir bleiben also, trotz stark gewachsener Möglichkeiten des Datenzugriffs und der weltweiten Arbeitsteilung, an Orte gebunden. Diese Orte, ebenso wie das Internet selbst, müssen heute freilich als stärker differenziert und fragmentiert angesehen werden, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Unsere raumzeitliche Verortung bleibt eine wesentliche Konstante, die uns, auch ohne dass wir es unbedingt wollen, Orientierung bietet und aus der unser Handlungsrahmen und unsere Beziehungen auch weiterhin im Wesentlichen erwachsen werden. &linie78;
1 Vgl.
www.getfriday.com (24.6. 2008).
2 Vgl. Howard Rheingold, Virtuelle
Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers
(amerik.1993), Bonn u.a. 1994.
3 Vgl. Rudolf Stichweh, Adresse und
Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem, in: ders.
(Hrsg.), Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/M.
2000, S.220-244.
4 Vgl. Daniela Ahrens, Internet,
Nicht-Orte und die Mikrophysik des Ortes, in: Alexandra
Budke/Detlef Kanwischer/Andreas Pott (Hrsg.), Internetgeographien.
Beobachtungen zum Verhältnis von Internet, Raum und
Gesellschaft, Stuttgart 2004, S. 163-177, hier: S. 163.
5 Georg Simmel, Soziologie.
Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung.
Gesamtausgabe Band 11, Frankfurt/M. 1992 (zuerst 1908), S.
690.
6 Leopold von Wiese, System der
Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Gebilden der
Menschen (Beziehungslehre), Berlin 19684, (Original von 1924), S.
110.
7 Ebd., S. 111.
8 Vgl. Anthony Giddens, Die Konsequenzen
der Moderne, Frankfurt/M. 1995. (zuerst: The Consequences of
Modernity, Cambridge 1990).
9 Vgl. Uwe Afemann, Die Dritte Welt und
das Internet (Beitrag für e.velop) 2004.
http://www.home.uni-osnabrueck.de/uafemann/Internet_Und_Dritte_Welt/Bundespresseamt.pdf
(25.6. 2008)
10 Vgl. (N)onliner-Atlas, Eine
Topographie des digitalen Grabens durch Deutschland, 2008,
http://www.initiatived21. de/fileadmin/files/08_
NOA/NONLINER2008.pdf (25.06. 2008).
11 Ein kürzlich erlebtes Beispiel:
Möchte man eine Prepaidkarte für ein Mobiltelefon
aktivieren, so ist das übers Internet, Fax oder per Brief
möglich. Verfügt man über die erste
Möglichkeit, kann das Telefon in wenigen Stunden genutzt
werden; steht nur der Postweg zur Verfügung, dauert dies
mehrere Tage, und an einem Wochenende ist die Aktivierung
überhaupt nicht möglich.
12 Vgl. Gerd Paul/Christian Stegbauer,
Is the digital divide between young and elderly people increasing?
First Monday, Oktober 2005.
www.uic.edu/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index. php/fm/article/view/1286
(26.6. 2008).
13 Vgl. Christian Stegbauer, E-Mail und
Organisation: Partizipation, Mikropolitik und soziale Integration
von Kommunikationsmedien, Göttingen 1995.
14 Vgl. Gustavo S. Mesch/Ilan Talmud,
Similarity and the Quality of Online and Offline Social
Relationships Among Adolescents in Israel, in: Journal of Research
on Adolescence, 17 (2007) 4, S. 813-817.
15 Vgl. Robert K. Merton, Patterns of
Influence: Local and Cosmopolitan Influentials, in: ders., Social
Theory and Social Structure, New York 1968, S. 441 - 474; Paul F.
Lazarsfeld/Robert K. Merton, Friendship as Social Process: A
Substantive and Methodological Analyis, reprinted in: P. L.
Kendall, The varied Sociology of Paul F. Lazarsfeld, New York
1954/1982; S. 298-348.
16 Vgl. Alois Hahn/Herbert Willems,
Modernität und Identität, in: Sociologia Internationalis,
34 (1996) 2, S. 199-226.
17 Vgl. A. Giddens (Anm. 8).
18 Vgl. Harry Hiller/Tara M. Franz, New
ties, old ties and lost ties: the use of the internet in diaspora,
in: New Media & Society, 6 (2004) 6, S. 731 - 752; Christopher
Helland, Diaspora on the Electronic Frontier: Developing Virtual
Connections with Sacred Homelands, in: Journal of Computer-Mediated
Communication, 12 (2007) 3, S. 956-976.
19 Vgl. Tamara Liebes/Elihu Katz, The
Export of Meaning. Cross-Cultural Readings of Dallas, New York
1990.
20 Vgl. Gerhard Fuchs, Die Steuerung
virtueller Projektnetzwerke: e-mail und schlözen, in:
Christian Stegbauer (Hrsg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie,
Wiesbaden 2008, S. 541-554. &linie78;