NATUR-HEILKUNDE
Die Wirkung alternativer Methoden wird intensiv untersucht. Noch sind viele Fragen offen
Sagt Ihnen der Titel "Ben Cao Gang Mu" etwas? Unter Kennern gilt das Buch als eines der bedeutendsten Werke der chinesischen Heilkunst. 1.900 Arzneidrogen und mehr als 11.000 medizinische Rezepte sind darin beschrieben. Nun plant der Charité-Professor Paul Unschuld, das chinesische Mammutwerk ins Englische zu übersetzen. Er will das Meisterwerk auch westlichen Medizinern zugänglich machen. Bis zu 17 Jahre könnte das jedoch noch dauern.
Klar ist schon jetzt: Das Werk wird weit über den Expertenkreis hinaus Aufmerksamkeit erregen. Denn die traditionelle chinesische Medizin stößt im Westen seit Jahren auf großes Interesse.
Und nicht nur sie. Natürliche Heilmethoden liegen im Trend. Zwar sind die Zahlen in den vergangenen fünf Jahren leicht rückläufig. Dennoch setzen rund zwei Drittel aller Erwachsenen hierzulande auf die sanfte Medizin. Europaweit schwören mehr als 150 Millionen Menschen auf Akupunktur, Pflanzenheilkunde oder Chiropraktik. Das belegen Erhebungen des Berliner Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitswirtschaft.
Viele Leiden der heutigen Zeit sind ausschließlich mit Naturwissenschaft und schulmedizinischem Verständnis nicht mehr therapierbar. Die konventionelle Medizin allein befriedigt immer seltener die Bedürfnisse der Menschen. Anstatt nur Beschwerden wie Migräne, Herzrasen oder Allergien zu behandeln, fordern sie, dass ihr Arzt sie ganzheitlich wahrnimmt und die persönliche Situation mitberücksichtigt. Statt der chemischen Keule wünschen sie sich immer häufiger chinesische Kräuter.
Auch der rasante medizinische Fortschritt in den konventionellen Fachbereichen kann daran nichts ändern. Im Gegenteil: Einer Analyse der Universität Southampton in England zufolge suchen die meisten Menschen nach neuen Wegen, gerade weil ihnen die Hightech-Medizin nicht helfen kann. Etwa jeder Dritte fühlt sich von seinem Arzt unverstanden oder eilig abgefertigt.
Noch in den 1980er-Jahren ließ man sich entweder nur alternativ oder nur konventionell behandeln. Heute kombinieren Heil- suchende die Methoden. "Patienten setzen alternativ-medizinische Verfahren oft komplementär ein, also ergänzend zur Schulmedizin", sagt Claudia Witt. Die Fachärztin ist die erste Stiftungsprofessorin an der Berliner Charité, die Komplementärmedizin erforscht. Sie untersucht Methoden, die auf anderen Theorien basieren als die der Schulmedizin. Beispiel Akupunktur: Die Verfechter gehen davon aus, dass sich der Körper selbst heilen kann, wenn Nadelstiche in die Haut seine Energie stimulieren. Die Homöopathie basiert auf der Annahme, dass Ähnliches mit Ähnlichem geheilt wird.
Es gibt unzählige alternative Methoden. Häufig sind etwa 50 Diagnose- und Therapieverfahren; dazu zählen die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Pflanzenheilkunde, Homöopathie, Osteopathie, Feng Shui, Irisdiagnostik oder Bach-Blüten- therapie.
Wissenschaftlerin Witt an der Charité koordiniert momentan sechs Studien, unter anderem zur Wirksamkeit der chinesischen Bewegungstherapie Qigong. Die Auswahl der teils ungewöhnlichen Heilmethoden ist der Berlinerin zufolge aber schon der einzige Unterschied zur konventionellen Forschung. "Wenn wir prüfen, wie wirksam oder kosteneffektiv eine komplementäre Methode ist, benutzen wir die gleichen wissenschaftlichen Kriterien wie in der Schulmedizin", sagt Witt. Üblicherweise werden klinische Studien mindestens randomisiert und kontrolliert durchgeführt. Das heißt, dass es eine Vergleichsgruppe gibt und die Patienten zufällig zugeteilt werden.
Ein Beispiel für solche wissenschaftlich genauen Studien in der komplementären Medizin war das Modellprojekt Akupunktur der Techniker Krankenkasse. Mehr als 10.000 Ärzte behandelten über fünf Jahre rund 300.000 Patienten mit chronischen Leiden mit Nadeln. Die positiven Ergebnisse dieser und anderer Akupunkturstudien überzeugten selbst die gesetzlichen Krankenkassen; sie zahlen seitdem die Kosten für die Nadelstiche bei chronischen Rückenschmerzen und Kniearthrose.
Edzard Ernst kann das nur wenig beeindrucken. Der deutsche Professor besetzte 1993 weltweit den ersten Lehrstuhl für alternative Methoden in Exeter, Großbritannien. Seitdem hat sein Team etwa 50 klinische Studien durchgeführt und mehr als 150 systematische Reviews und Metaanalysen veröffentlicht. Das sind Übersichtsarbeiten, die zu einer klar formulierten Frage alle verfügbaren Erstveröffentlichungen systematisch identifizieren, auswählen und kritisch bewerten.
Ernst gilt als einer der führenden Experten der Komplementärmedizin. Sein Fazit nach 15 Jahren Forschung ist ernüchternd. "Bei sehr vielen alternativen Methoden ist die Beweislage dürftig", sagt Ernst. Das jedoch hält die Menschen in der Szene nicht davon ab, sie anzuwenden. Exemplarisch nennt er die Nikotinentwöhnung durch Akupunktur. "Die Wissenschaft sagt eindeutig, dass Akupunktur nicht hilft, wenn man mit dem Rauchen aufhören will." In England sei die Nadeltechnik dennoch weit verbreitet im Kampf gegen den Glimmstengel. "Klinische Erfahrungen Einzelner zählen in der alternativen Szene mehr als wissenschaftliche Belege", sagt Ernst. Auch die Homöopathie schneidet bei dem Mediziner nicht besser ab. Einst selbst ein Fan der Hahnemann-Lehre, ist Ernst heute einer ihrer schärfsten Kritiker. "Homöopathie ist keine Heilmethode, sondern eine Religion", sagt Ernst. "Die Wirksamkeit der homöopathischen Mittel ist gleich null, das haben mehr als 150 kontrollierte Studien gezeigt." Dennoch streitet er nicht ab, dass Patienten davon profitieren. "Wie auch bei anderen alternativen Verfahren nimmt sich der Homöopath mehr Zeit für den Patienten, jede Sitzung ist eine Art Mini-Psychotherapie", sagt Ernst. Mit einer spezifischen Wirkung der Globuli, kleinen kugelförmigen Arzneimitteln, die etwa in der Homöopathie oder der Bach-Blütentherapie angewendet werden, habe das jedoch nichts zu tun.
Sind die Effekte der Alternativmethoden also doch nichts anderes als Placebo, Scheinmedikamente ohne spezifische Wirkung, dafür aber ungefährlich für den Patienten und lukrativ für den Arzt, Heilpraktiker oder Scharlatan, der sie einsetzt?
Längst hat sich die softe Branche zum starken Wirtschaftsfaktor gemausert. So gingen dem Marktforschunsginstitut IMS Health zufolge rund 1 Million Euro im vergangenen Jahr allein für homöopathische Globuli und pflanzliche Präparate über den Apothekertisch. Insgesamt geben die Deutschen rund 9 Milliarden Euro pro Jahr für nicht schulmedizinsche Verfahren aus. 5 Milliarden Euro davon aus der eigenen Tasche, 4 Milliarden erstatten die Krankenkassen. 40.000 Ärzte bieten entsprechende Therapien an.
Die Wissenschaftler der Szene sind sich uneins. Zu viele Fragen sind noch offen, zu groß ist noch der Bedarf an Forschung. Insgesamt gibt es in Deutschland fünf Universitäten, die Stiftungslehrstühle für komplementäre Methoden bereits eingerichtet oder ausgeschrieben haben: die Berliner Charité, die Universität Duisburg-Essen, die Technische Universität München, die Privatuniversität Witten-Herdecke und die Universität Rostock.
An dem Zentrum für naturheilkundliche Forschung (ZnF) der Technischen Universität München arbeiten Wissenschaftler seit zehn Jahren mit der Alternativmedizin. Die Bilanz des stellvertretenden Leiters Klaus Linde: Bei einigen Verfahren sind die positiven Effekte vermutlich nicht auf die Therapie im engeren Sinne zurückzuführen, sondern auf deren ganz ganz spezifische Placebowirkung. "Bei der Akupunktur beispielsweise kommt es offensichtlich nur teilweise darauf an, wo die Nadeln genau gesetzt werden", sagt Linde. Bei Rückenschmerzen oder Migräne wirke Akupunktur aber deutlich besser als die medikamentöse Standardtherapie. Lindes Schlussfolgerung: Es muss spezifische Effekte geben, die diesen signifikante Unterschied erklären.
Bewahrheitet sich, was der Forscher vermutet, hätte das auch grundlegende Auswirkungen auf die Forschung der Schulmedizin. "Ist der Placeboeffekt tatsächlich bei jeder Therapie ein anderer, lassen sich auch komplexe, nicht medikamentöse Verfahren zukünftig viel schwieriger bewerten als bisher angenommen", sagt Linde.
Bringt die Erforschung der Alternativmedizin also auch positive Impulse für die Schulmedizin? Die Experten der beiden Lager werden Fragen wie diese irgendwann klären müssen. Die ersten Antworten finden sie vielleicht bereits Anfang November in Berlin: Dort beraten Wissenschaftler, Ärzte, Gesundheitspolitiker und Patienten auf dem 1. Europäischen Kongress für Integrative Medizin, ob und wie sich eine Brücke über den tiefen Graben der schul- und komplementärmedizinischen Theorie schlagen lässt.
Bis das chinesische Nachschlagewerk "Ben Cao Gang Mu" aber für alle Schulmediziner zum gängigen Nachschlagewerk avanciert, dürften noch einige Jahre ins Land gehen.
Die Autorin ist studierte Medizinerin. Sie arbeitet als freie Journalistin in Berlin.