Paris, Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Pocken gehen um. Eins zu sieben stehen die Chancen, sich anzustecken und an der Krankheit zu sterben. Abhilfe verspricht eine Impfung. Die allerdings hat Nebenwirkungen: Einer von zweihundert Menschen, die sich impfen lassen, erkrankt zwei Monate nach der Behandlung an den Pocken und stirbt. Was also tun?
"Impfen", empfahl der Mathematiker Daniel Bernoulli. Denn nach seiner Kalkulation betrug der durch eine Impfung zu erzielende Zugewinn an Lebenszeit vier Jahre. Bernoullis lebenslanger Rivale, der Philosoph Jean Baptiste le Rond d'Alembert, widersprach der Kalkulation. Sein Einwand: Bernoulli habe nicht berücksichtigt, dass das Risiko eines Pockentodes für die unterschiedlichen Lebensalter nicht das gleiche sei. Und ähnlich verhalte es sich auch mit dem Nutzen einer Impfung. Ein 30-Jähriger etwa, der sich impfen lasse, gehe ein nicht ganz zu vernachlässigendes Risiko ein, an den Folgen der Impfung zu sterben. Der statistische Zugewinn an vier Jahren Lebenszeit hingegen, den er durch die Impfung erzielt, macht sich erst viel später bemerkbar - dann nämlich, wenn er ohne Impfung erkrankt wäre. Möglicherweise also erst gegen Ende seines Lebens. Zu diesem Zeitpunkt jedoch, so le Rond d'Alembert, sei die zusätzliche Lebenszeit viel weniger wert als in der Mitte des Lebens, wo sie ungleich produktiver und genussreicher verbracht werden kann.
Unterm Strich riet le Rond d'Alembert seinen Mitbürgern dennoch zur Impfung. Alles, was er in Abrede stellte, war, dass sich deren Nutzen mathematisch begründen ließe. Er hatte Recht. Zu unterschiedlich stellt sich der "subjektive Erwartungsnutzen", wie Wirtschaftswissenschaflter heute sagen, einer Impfung für den Einzelnen dar.
Um dieses zu lösen, hat man heute in der Medizin das Instrument der "informierten Entscheidung" eingeführt. Bekannt ist es vor allem im Kontext vorgeburtlicher Untersuchungen auf mögliche Erkrankungen oder Behinderungen des zukünftigen Neugeborenen. Auch hier lässt sich keine Handlungsempfehlung "mathematisch" begründen. Die Schwangere muss deshalb "lernen zu wollen, was ihr niemand raten kann": so bezeichnet die Hannoveraner Soziologin Silja Samerski diesen Zustand treffend.
Die Schwangere ist nicht allein. Ähnlich verhält es sich mit der Entscheidung für oder gegen Vorsorgeuntersuchungen etwa auf Prostata- oder Brustkrebs, deren Ergebnis oft eine Risiko-Diagnose ist, welche die Entscheidung über weitere Behandlung dem Patienten in die Hände legen muss.
Körperlich fitter wird niemand allein durch das Wissen um persönliche Risiken. Nicht für jede Risiko-Diagnose gibt es eine Therapie. Auch dem Ziel der Lebensverlängerung dient die "informierte Entscheidung" nicht notwendigerweise. Statt dessen verfolgt die boomende ‚Hoffnungsmedizin', zumindest als Neben-Ziel, etwas ganz und gar anderes: die Vergrößerung des individuellen Handlungsspielraumes.
Wo früher das Schicksal waltete, ist jetzt der Mensch gefragt. Zweck der Übung: die Steigerung des "subjektiven Erwartungsnutzens". Man mag das begrüßen oder verdammen. Mit Gesundheit von anno dazumal das nicht mehr viel zu tun.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.