essay
Sterben ist zu Ableben geworden - und das möglichst individuell
In einer jüngst veröffentlichten EU-Studie gaben Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz an, dass sie in 50 Prozent aller Fälle eine Entscheidung getroffen hatten, die eine Lebensverkürzung in Kauf nahm oder beabsichtigte. Das heißt: Der Tod kommt nicht mehr, sondern wird immer häufiger zu einem medizinisch geplanten Akt, der im besten Fall das Einverständnis der Betroffenen hat.
Von einem Sterbe-Tabu kann nicht mehr die Rede sein. Aber muss man nicht gerade deswegen Verdacht schöpfen? Ist die mediale Allgegenwart, ist das öffentliche Geplapper über Sterben und Tod der Ausdruck für eine technisch-planerische Distanzierung vom Unfassbaren? Seitdem der Eros aus seiner Verborgenheit herausgezerrt und zum allgegenwärtigen Sex wurde, ist seine Faszination geschwunden. Romeo und Julia kann es unter Marktbedingungen nicht mehr geben und deshalb - so scheint es - ist es auch nicht mehr möglich zu sterben. Wir befinden uns schon längst inmitten einer amortalen Gesellschaft, in der abgelebt, aber nicht mehr gestorben wird. Der Tod des Sokrates, der den Schierlingsbecher trinken muss und sich in einem langen Gespräch von seinen Freunden und Schülern verabschiedet - unmöglich geworden. Die Hinrichtung des Sokrates wäre heute ein detailliert geplanter Ablauf, der für das Gespräch, in dem der Philosoph seine Zuhörer tröstet, keinen Raum mehr ließe. Im US-Bundesstaat Kalifornien wurde im Februar 2006 die Hinrichtung von Michael Morales in letzter Minute abgebrochen. Zwei vom Gericht verpflichtete Narkoseärzte weigerten sich, das Setzen der Todesspritze zu überwachen. Dies sei - so sagten sie - für sie "ethisch nicht akzeptabel". Ein Richter hatte zuvor angeordnet, dass der Todeskandidat so zu betäuben sei, dass er keine Schmerzen bei der tödlichen Injektion verspürt. Die Tötung unerwünschter Gesellschaftsmitglieder stellt offenbar weniger eine Schwierigkeit dar als ein Sterben, das nicht kontrolliert ist.
Das heimliche Thema des 19. Jahrhunderts war Sexualität: Allgegenwärtig, aber verschwiegen. Im 20. Jahrhundert wird allmählich aus dem Tabu ein Markt: Flirtschulen, pornografische Einrichtungen, Embryonen- und Jungfrauenhandel, Sextourismus - alles außerhalb der Liebe wird angeboten. Alles, was irgendwie ökonomisiert werden kann, wird auch ökonomisiert. Im Gegenzug war das 20. Jahrhundert die Zeit, in der der Tod allgegenwärtig war, über den aber zugleich nicht geredet werden konnte. Dem Tod droht heute das Gleiche wie dem Eros: Er wird radikal enttabuisiert, in ökonomische, planerische, kontrollierende Abläufe eingepasst und damit entschärft.
Am Horizont dämmert das neue Programm: Tod und Sterben werden zum "Event". Schon ist in Bergisch-Gladbach der erste private Friedhof entstanden, der eine Alternative zum "namenlosen Verschwinden in anonymen Gräbern" sein will. Der Privatfriedhof schließt einen Zentralweg in Form einer großen Möbius-Schleife ein, der als Symbol der Unendlichkeit gedacht ist. "An stillen Plätzen kann man sich mit seiner Trauer auseinander setzen, kann sein Leben neu überdenken, sich seinen Ängsten stellen, seine Wurzeln spüren. Auf meinem privaten Friedhof", sagt der Anbieter, "haben Trauernde die Gelegenheit, auch abends, in einer Mondnacht ihre Toten zu bestatten oder am Wochenende. Eben dann, wenn es eine gute Zeit für sie ist."
Das Verschwinden jeder Friedhofskultur zugunsten der anonymen Bestattung, die ja tatsächlich immer häufiger wird, soll hier mit den gleichen Mitteln aufgehalten werden, wie bisweilen Kirchen und Akademien das Sinken der Besucherzahlen bremsen wollen: durch eine "Eventkultur". Sie gilt weniger der Erinnerung an die Toten als der Selbstpflege der Lebenden, die da bei Mondenschein oder am "weekend" ihr Leben neu überdenken, ihre Ängste betrachten oder ihre Wurzeln spüren können.
Dies ist mehr als eine psychosoziale Variante dessen, was früher Stein gewordener Friedhofskitsch war. Wenn es gelingt, Sterben und Tod zur Steigerung des Lebensgefühls herabzuwürdigen, wird Sterben harmloser. Der Schmerz um den Verlorenen wird domestiziert zu einer flachen, depressiven Verstimmtheit, die man in eine Trauerakademie tragen kann, um sie dort mit ein paar künstlich zum Leben erweckten Ritualen behandeln zu lassen. Damit ist aber die Schwierigkeit, die mit dem Nachdenken über Sterben und Tod heute verbunden ist, angezeigt: Es handelt sich um Themen, denen nicht einmal soviel Respekt entgegengebracht wird, dass sie zum Tabu taugen.
Im Kern haben wir es heute mit einer erfolgreichen Abtrennung der Bereiche Tod und Leben zu tun. Zwar wird unablässig betont, dass Sterben ein Teil des Lebens sei. Aber wer glaubt das wirklich? Was heute im Vordergrund steht, ist ein betreutes, überwachtes, anästhesiertes Ableben, an dem die Betroffenen selbst oft genug gar keinen Anteil haben. Sie sollen, dürfen und müssen zwar über alles mitentscheiden, es hat da geradezu einen Prozess der Demokratisierung des Sterbens gegeben: Sollen wir diese Therapie machen, Frau S.? Jenes Schmerzmittel einsetzen, Herr P.? Welchen Weg beschreiten wir da, wenn wir das Sterben zu einer kontrollierbaren, an Standards messbaren Angelegenheit werden lassen, die sich irgendwann folgerichtig zwingend an EU-Richtlinien orientiert? Wird sich dann nicht auch jemand aufmachen und Sterbeorte evaluieren? Werden wir dann ein Ranking der Sterbeorte brauchen, Gütesiegel, Zertifizierungen? Sind wir - boshaft gesagt - für das Sterben gut aufgestellt?
Jede Zeit und jede Kultur hat ihre Weise des Umgangs mit Sterben und Tod. Und diese Weisen sind Spiegelbilder der jeweiligen Kultur. Jacques Derrida, der französische Philosoph hat das so zugespitzt: "Die Kultur selbst, die Kultur im Allgemeinen ist im Wesentlichen vor allem, ja wir können sagen a priori Kultur des Todes; und infolgedessen Geschichte des Todes. Es gibt keine Kultur ohne den Kult der Vorfahren, ohne die Ritualisierung der Trauer und des Opfers, ohne Orte und Modalitäten institutionalisierter Bestattung, und wäre es selbst für die Asche einer Verbrennung."
Derridas Bemerkung allerdings ist retrospektiv. Wir scheinen uns jetzt schon in einer Kultur zu befinden, in der - vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte - der Kult der Vorfahren verschwunden ist, in der jede Ritualisierung der Trauer verschwindet und in der die Bestattung sich zunehmend auf die anonyme Beseitigung eines Häufchens Asche reduziert. So kann es nicht wundern, dass sich auch die Kultur, in der wir leben, neue Wege im Umgang mit Sterben und Tod schafft: Die Geldgesellschaft ökonomisiert das Sterben, die Dienstleistungsgesellschaft trachtet danach, Sterben zu einem verwaltenden, kontrollierten und institutionalisierten Prozess zu machen, die Gesundheitsgesellschaft sieht das Lebensende zuerst als ein medizinisches Problem an: Ökonomisierung, Institutionalisierung und Medikalisierung des Sterbens sind die zeitgenössischen Weisen des Umgangs mit dem Lebensende, und man sagt nicht zuviel, wenn man vermutet, dass darin der Versuch erkennbar ist, mit den Mitteln der modernen Gesellschaft, den Schrecken des Todes zu bannen.
Indem also versucht wird, Sterben und Tod ökonomisch, medizinisch und institutionell zu beherrschen, werden Sterben und Tod zugleich radikal individualisiert. Immer mehr Menschen leben und sterben als Singles. Sie haben keine Nachkommen und sie haben keine Vorfahren. Das hat es so noch nicht gegeben, ist aber wohl der adäquate Ausdruck für eine radikal individualisierte Lebenswelt. Und da der "homo modernissimus" nicht eingebunden ist in die Geschichte seiner Vorfahren und die seiner Nachkommen, wird fast zwangsläufig das Lebensende zum Ort einer Dienstleistung.
Es sagt sich so leicht: Der Tod gehört zum Leben. Aber inmitten des täglichen Stumpfsinns, überrollt von Terminen, Konflikten, Vergnügungen und was es sonst noch an Äußerlichkeiten gibt, hat dieser Gedanke im Regelfall gar nicht die Chance bis in unser Inneres vorzudringen. "Mitten wir im Leben sind, von dem Tod umfangen", heißt es in einem alten christlichen Lied. Darunter können wir uns noch vorstellen, dass uns der Tod morgen durch den Autounfall oder ein Krebsleiden aus dem Leben reißt. Aber im Wesentlichen sind Sterben und Tod erfolgreich ausgelagerte Areale, die gut organisiert an den Rändern der Gesellschaft ihr Dasein fristen. Der Tod gehört eben nicht zum Leben - scheint der moderne Mensch sagen und demonstrieren zu wollen. Einmal abgesehen von den Bemühungen um Lebensverlängerung wird das Leben heute immer mehr zu einem Planungsprojekt: Besonders Geburt und Tod werden aus dem, was einmal natürliches Geschehen war, explantiert, nichts wird dem Zufall überlassen. Es gibt eine innere Verwandtschaft zwischen der Reproduktionsmedizin und der Medizin, die - wie in den Niederlanden zum Beispiel - Sterbehilfe praktiziert. Dazu gehört die Auffassung, dass die Geburt den Anfang einer biografischen Linie darstellt, deren Endpunkt der Tod ist. Dass dieser Ablauf immer bedroht ist durch einen Systemzusammenbruch, der durch Krankheit oder Unfall ausgelöst werden kann, ist klar. Aber der Tod im Leben? Das kann allenfalls die Nekrose sein, die sich als totes Gewebe um das Hüftgelenk ablagert und damit den Prozess des Ablebens physisch vor- wegnimmt.
Der Autor ist Soziologieprofessor an der Universität Giessen. 2007 erschien sein Buch "Sterben in Deutschland".