AUSBILDUNG
Viele Medizinstudenten werden später vom Arztalltag überrumpelt. Universitäten wollen den Nachwuchs deshalb mit Modellfällen und simulierten Patientengesprächen besser auf den Beruf vorbereiten
Im Sommer 2002 löste die neue Approbationsordnung für Ärzte ihre 32 Jahre alte Vorgängerin ab; damit bahnte die Politik den Weg für eine weniger verschulte und statt dessen praxisnähere Ausbildung. Doch infolge des bundesweit einheitlichen "Hammer-Examens" müssen die Medizinstudenten noch immer viel überflüssigen Stoff bewältigen. Zwar versuchen die Universitäten mit modernen Lehrmethoden, ihre Zöglinge zunehmend besser auf das spätere Arztleben vorzubereiten. Doch noch immer sind die Studenten häufig frustrierten Dozenten und überarbeiteten Assistenzärzten überlassen.
Fakultäten wie in München, Dresden und Heidelberg bieten praxis- und problemorientiertes Lernen (POL) an. Das Unterrichtssystem orientiert sich am klinischen Alltag, an Laborbefunden und Patientenfällen. "Der Medizinstudent sollte im Studium mit Situationen konfrontiert werden, denen er später im Beruf begegnen wird", sagt Detlev Leutner, Professor für Lehr-Lernpsychologie an der Universität Duisburg-Essen. "Wirklicher Praxisbezug bietet die Chance, professionelles ärztliches Verhalten schon im Studium zu trainieren und dadurch Sicherheit zu erlangen." Bisher seien viele Absolventen von der Praxis überrumpelt worden. Mittlerweile haben viele Fakultäten ihre Lehrpläne überarbeitet. Die private Universität Witten-Herdecke unterrichtet bereits seit 1983 nach einem praxisnahen Lehrplan. Die Charité Berlin bietet seit 1999 das Medizinstudium - neben der konventionellen Form - für jährlich 63 Studenten auch als Reformstudiengang an. "Meiner Erfahrung nach dauert es eine Generation von Lehrenden, um umzudenken und diese neue Lehre tatsächlich anzunehmen", sagt Leutner. "Eine besondere Chance sehe ich vor allem bei den Juniorprofessoren - jungen Menschen, die bereit sind, in Forschung und Lehre zu investieren."
Für ein POL-Seminar treffen sich die Studenten in kleinen Gruppen. Ausgangspunkt ist immer ein medizinisches Problem oder ein Patientenfall. Patientengespräche, die akribische Suche nach einer richtigen Diagnose oder der besten Therapie - das ist der Stoff, aus dem die Träume von Medizinstudenten sind. Entscheidend für POL ist nicht das Ergebnis, sondern der Weg dahin. Dafür diskutieren die Studenten miteinander und erarbeiten sich ihr Wissen im Selbststudium. Und bringt es ihnen was?
Bei den zentralen Examina im Ankreuzverfahren schneiden POL-Studenten nicht besser ab. "Dafür erwerben sie mit dieser Methode viele andere, wichtige Fähigkeiten", sagt Cornelia Gräsel von der Bergischen Universität Wuppertal. Studien zufolge seien sie im Gespräch mit Patienten und Kollegen "geländegängiger", hätten mehr Lust, sich fortzubilden. Eigenständiges Arbeiten und interdisziplinäres Denken seien für sie selbstverständlicher, sagt die Professorin für Lehr-, Lern- und Unterrichtsforschung.
Auch die Zwischenprüfungen in den klinischen Fächern werden dem wahren Krankenhausalltag langsam ähnlicher. Beim OSCE, der "Objective Structured Clinical Evaluation", müssen die Ärzte in spe an professionell trainierten Simulationspatienten zeigen, wie sie mit Patienten umgehen, Diagnosen erstellen, über Risiken aufklären und therapieren. Dafür bleiben oft nur ein paar Minuten. Adrenalin pur also, genau wie im Nachtdienst oder in der Notaufnahme.
Seminare und Blockpraktika reichen jedoch nicht, um sich all den Stoff zu merken. Gebüffelt wird deshalb zu Hause oder in den Bibliotheken. Zunehmend können sich die Studenten beim Lernen auch auf technische Raffinessen stützen. In Gießen, Marburg und Frankfurt können sie beispielsweise einen virtuellen Hörsaal besuchen. K-MED, "knowledge in medical education", heißt das multimediale Lernsystem; Selbsttests, Weblinks und Online-Tutoring sollen beim Pauken helfen. "Ziel sollte es immer sein, Wissensinhalte so miteinander zu verknüpfen, dass sie in Situationen im späteren Arbeitsleben möglichst gut abrufbar sind", sagt Leutner.
Die Heidelberger Medizinstudenten haben die Möglichkeit - ergänzend zum traditionellen Präparierkurs - ihre Anatomiekenntnisse im Kurs "Virtuelle Anatomie" zu vertiefen: Am Bildschirm lassen sich Organe, Blutgefäße und Knochen per Mausklick ebenso freilegen wie sonst in mühsamer Handarbeit an formalingetränkten Leichen. Dadurch sollen die Studenten sich besser räumlich orientieren und anatomische Strukturen leichter einordnen können. Echte Routine will sich bei diesen Trockenübungen aber nicht recht einstellen. Die meisten Studenten verlegen deshalb die Praxis in die Semesterferien. Nach Bad Neustadt an der Saale beispielweise. Seit 2003 führt die Herz- und Gefäß-Klinik gemeinsam mit der Neurologischen Klinik ein "kardio-vaskuläres Praktikum" durch: Während des interdisziplinär ausgerichteten Programms durchlaufen die Teilnehmer verschiedene Fachabteilungen, ein Mentor ist immer in Rufweite. Die zukünftigen Ärzte lernen, ein EKG richtig anzulegen und zu lesen, trainieren Wiederbeleben und Beatmen. Der besondere Clou: Am Ende des Praktikums dürfen die Teilnehmer eine echte Herzklappe einnähen.
Während in Bad Neustadt vor allen Hightech-Medizin auf dem Programm steht, widmet man sich einige hundert Kilometer südlich eher der sanften Medizin. In der Buchinger Klinik am Bodensee können Medizinstudenten in der Summer School herausfinden, wie sehr ihnen klassische Naturheilkunde liegt. Am Ende kennen die Jungmediziner ein paar Antworten mehr: Welche Heilpflanzen wachsen bei uns, und wie kann ich diese nutzen? Wie wirkt Musik? Wie ernähre ich mich gesund? Welche Entspannungsverfahren gibt es?
Doch egal, ob die Studenten im POL-Seminar, im Blockpraktikum oder in einer stinknormalen Vorlesung sitzen - die Qualität steht und fällt mit den Dozenten. Das Dilemma dabei: "Das Lehren wird nach wie vor nicht ausreichend honoriert", sagt der Hamburger Medizinstudent Sebastian Schulz. Wer Studenten betreut, der macht das meist zusätzlich zu seiner Forschungsarbeit und dem Klinikalltag. "Die Dozenten müssten von anderen Pflichten entbunden sein, um uns gut vorbereitet und engagiert zu unterrichten." Und um ihre zukünftigen Kollegen für den Arztberuf zu begeistern.
Viele Studenten fühlen sich noch immer überfordert von Alltagssituationen: das Überbringen unangenehmer Nachrichten, das Schreiben eines Exposés für die Doktorarbeit, das Gespräch mit den Angehörigen. Auch Literaturstudium und schriftliche Hausarbeiten gehören nicht unbedingt zum Repertoire eines Medizinstudenten.
Immer auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand der Dinge zu sein, kann kein Studium leisten. Auch das Medizinstudium kann selbst unter optimalen Bedingungen immer nur Basis sein. Doch wer ein gutes Händchen bei der Wahl der Fakultät hat, wer sich um dienliche Praktika im In- und Ausland kümmert, der ist gut gewappnet für den Berufsstart. Alle anderen mögen die Worte des angehenden Arztes Schulz trösten: "Das wirkliche Lernen fängt erst nach dem Studium an."
Die Autorin ist Medizinerin und arbeitet in Hamburg als freie Journalistin.