THEORIE
Forscher wollen Einfluss der Umwelt auf Anlagen erforschen. Ein wissenschaftlicher Standpunkt
Die Bekanntgabe, dass menschliche Genom sei im Rahmen des "Human Genome Project" - offiziell beendet im Jahr 2003 - entschlüsselt worden, und weitere Forschungsergebnisse der jüngeren Zeit haben große Erwartungen geweckt. Sollte es möglich sein, dass es demnächst ganz neue Präventions- und Therapiemöglichkeiten geben wird, die auf den Erkenntnissen über die vererbbaren Informationen der Zellen im Zusammenwirken mit Umwelteinflüssen basieren? Sicher ist: Wir haben es derzeit in der Medizin und den Gesundheitswissenschaften mit einem Paradigmenwechsel zu tun.
Welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen und Risiken die neuen genom-basierten Ansätze einmal haben werden, wird seit geraumer Zeit in der Fachwelt diskutiert. Im Gegensatz zur Diskussion im Ausland wird dies hierzulande dadurch erschwert, dass die Bereiche Medizin und Public Health getrennt sind. Während die Medizin sich auf die Diagnose und Behandlung von Krankheiten konzentriert, beschäftigt sich die Gesundheitswissenschaften vorrangig mit Krankheitsverhütung und Gesundheitsförderung auf Bevölkerungsebene. Um diese Trennung aufzuweichen, wäre es hilfreich, wenn die Public Health ihre Ziele und Konzepte klarer darlegen würden.
Das ist auch deshalb wichtig, weil es ihnen um eine Integration des genom-basierten Wissens geht. Das wird in der Gesundheitsversorgung bislang noch zu wenig betrachtet. Während soziale und umweltbedingte Faktoren längst als wichtig erkannt wurden, wird das Wissen um genetische Varianten und Zusammenhänge noch vernachlässigt. Dies zu ändern, ist Ziel eines Teilbereichs der Gesundheitswissenschaften: Public Health Genomics. Dieser Wissenschafts- und Aufgabenbereich wird international als "Übersetzung genom-basierten Wissens und genom-basierter Technologien in Gesundheitspolitik und Gesund- heitsversorgung zum Wohle der Gesamtbevölkerung" definiert. Für eine stärkere Berücksichtigung der Genomik sehen die Forscher gute Gründe: Nicht jedes Individuum ist wie das andere - unterschiedliche Genomprofile sorgen dafür, dass bestimmte Behandlungen wie etwa Impfungen bei jedem Menschen unterschiedlich wirken. Wer sich dafür ausspricht, Menschen auf ihre Genome zu testen, muss begründen können, warum er das für sinnvoll hält, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen. Der US-amerikanische Genetiker Francis Collins hat schon 1998 ausgemalt, wie genetisches Wissen Prävention und Therapie verändern kann. In seiner Vorhersage beschreibt er einen 23-jährigen Mann, der sein DNA-Profil testen lässt und daraufhin eine Prognose für sein Risiko erhält, in der Zukunft an verschiedenen chronischen Erkrankungen zu leiden. Ihm werden unterschiedliche Angebote zur Prävention und Vorschläge dazu gemacht, wie er seine individuellen Risiken senken kann. Richtig angewendet, kann Public Health Genomics so dazu führen, dass der richtigen Person zur richtigen Zeit die richtigen Maßnahmen auf die richtige Weise angeboten werden.
Schon heute ist es möglich, bestimmte Risiken auszumachen. Entgegen der Diskussion rund um das Gendiagnostikgesetz geht es den Vertretern des Public Health Genomics dabei nicht primär darum, Prädispositionen von Erkrankungen auszumachen, für die nur ein einziges Gen verantwortlich ist. Public Health Genomics will vielmehr darlegen, welche genetischen Einflüsse es bei verbreiteten Volkskrankheiten gibt und wie diese mit Umweltfaktoren zusammen- wirken.
Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob das Wissen um genetische Risiken die Menschen hinreichend motiviert, sich gesundheitsförderlich zu verhalten und gezielter spezielle Gesundheitsangebote in Anspruch zu nehmen. Sind sie eher bereit, präventiv tätig zu werden - etwa ihr Ernährungsverhalten zu ändern, das Rauchen einzustellen oder verstärkt Sport zu treiben - wenn sie wissen, dass sie genetisch für eine bestimmte Erkrankung prädisponiert sind? Nicht immer kann das Wissen um genetische Risiken nutzbringend angewendet werden: Während etwa die Kenntnis über das Brustkrebsrisiko Leben retten kann, ist das Wissen, dass es mit einiger Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch einer Krankheit kommt, für die es bislang noch keine Therapie gibt, unter Umständen belastend. Deshalb ist es wichtig, dass jeder Mensch sich freiwillig für oder gegen die Erstellung eines Gen-Profils entscheiden muss. Mit dem Recht auf Wissen geht auch eines auf Nicht-Wissen einher.
Dazu kommt, dass die Ergebnisse von genetischen Tests etwa auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs, die von mehreren Faktoren ausgelöst werden, keine klare Aussage zu einem niedrigen oder hohen Risiko zulassen. Testergebnisse zu Prädispositionen dieser Erkrankungen, bei denen mehrere Faktoren eine Rolle spielen, können lediglich genetische Vorbelastungen im Sinne eines erhöhten oder geringeren Risikos ermitteln. Sie liefern Anhaltspunkte, welche Interventionen oder zusätzlichen Faktoren - wie etwa Infektionen - das Risiko beeinflussen können. Das jedoch ist nicht neu. In der Vergangenheit sind solche Informationen etwa im Rahmen der Familienanamnese erhoben worden. Maßnahmen wie das Neugeborenen-Screening, bei dem nach angeborenen Stoffwechsel-Störungen gesucht wird, gehören längst zum Alltag in den Krankenhäusern. Das Wissen um die Wirkung der Gene kann nicht nur auf bestimmte Risiken schließen lassen, sondern sich auch bei der Anwendung etwa von Medikamenten bezahlt machen. So löst der Inhaltsstoff Carbamazepin, der in bestimmten Epilepsie-Medikamten enthalten ist, bei Patienten mit einer bestimmten genetischen Variation schwere Nebenwirkungen aus. Weil davon vor allem Menschen asiatischer Abstammung betroffen sind, enthält die Packungsbeilage des Medikaments nun den Hinweis, dass sie vor der Einnahme der Pillen einen Gentest machen sollten. Andererseits werden die gleichen Medikamente für unterschiedliche Erkrankungen verschrieben - weil man heute weiß, dass sie von den gleichen genetischen Variationen ausgelöst werden.
Um grundsätzlich genom-basiertes Wissen in die Gesundheitsforschung zu integrieren, müssen auch Antworten auf Fragen nach den rechtlichen Rahmenbedingungen und damit einhergehend den ethischen, ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren beantwortet werden. Dabei geraten komplexe und neue Probleme wie genetische Ungleichbehandlung, das Management individueller Gesundheitsinformationen, die Integration von genom-basiertem Wissen in Gesundheitsleistungen wie Prävention, Screening und Gesundheitsüberwachung in den Blick. Große Aufgaben - die es umso wichtiger machen, dass Public Health Genomics sich formiert, Handlungsbereiche sowie Chancen und Risiken von genom-basierten Wissen analysiert und mit allen Akteuren im Gesundheitswesen - einschließlich der Öffentlichkeit - kommuniziert. Dies ist Aufgabe des "Public Health Genomics European Network" (PHGEN), in dem alle EU-Mitgliedstaaten vertreten sind.
Will man genom-basiertes Wissen für gesundheitliche Zwecke nutzbar machen, muss es in einen epidemiologischen, einen medizinischen und einen Public Health-Kontext gebracht werden. Macht man sich heute in wissenschaftlichen Datenbanken auf die Suche nach Studien zu Genvarianten, die den Verdacht erlauben, Krankheiten wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Allergien, Krebs oder Asthma zu begünstigen, stößt man auf eine Vielzahl von Publikationen. Dabei lässt sich beobachten, dass Ergebnisse anfänglicher, eher kleiner Gen-Assoziationsstudien durch breiter angelegte Studien widerlegt werden. Das verdeutlicht, dass angewandte epidemiologische Forschung sowie genomweite Analysen, die genom-basiertes Wissen im Zusammenwirken mit Umweltfaktoren zu häufig vorkommenden, komplexen und durch mehrere Faktoren bedingten Erkrankungen bereitstellen wollen, durch Biobanken und andere große populations-basierte genetisch-epidemiologische Studien unterstützt werden müssen. Studien mit kleineren Gruppen wiederum sind dann möglich, wenn moderne Sequenzierungstechniken und Ansätze der Systembiologie beachtet werden.
Als ein aktuelles Beispiel für die Integration von Wissen und der Nutzbarmachung für die Praxis lässt sich das "Public Population Project in Genomics" (p3g) anführen. Dabei handelt es sich um eine internationale Zusammenarbeit von einzelnen Personen und Organisationen, die sich für die Entwicklung und Verbreitung populationsbezogener genom-basierter Gesundheitsinformationen einsetzt.
Als nationales Beispiel für die Grundlagenforschung aber auch die Wissensintegration kann das Nationale Genomforschungsnetz (NGFN Plus und NGFN Transfer) verstanden werden. Hier werden neben der Erforschung weit verbreiteter Erkrankungen auch die Entwicklung geeigneter Behandlungsmethoden, die Erforschung der Wirksamkeit von Therapien sowie die Entwicklung geeigneter Diagnose-Methoden anvisiert wird.
Festzuhalten bleibt: Public Health Genomics muss, um seine anspruchsvollen Ziele erreichen zu können, die Möglichkeiten ebenso wie die Risiken der Integration genom-basierten Wissens in Gesundheitsforschung und Medizin durchdenken - und so kommunizieren, dass Misstrauen abgebaut wird und Chancen erkannt werden.
Zum anderen muss auf der praktischen Ebene durch die angewandte Genomforschung ein Wissen darüber entwickelt werden, wie sich genom-basierte Marker sinnvoll und gesundheitsförderlich auf der Bevölkerungs- und der individuellen Ebene anwenden lassen. Erst, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird es irgendwann möglich sein, dass das Wissen über das menschliche Genom ebenso selbstverständlich Teil der Gesundheitsversorgung sein wird wie soziale Faktoren und Umwelteinflüsse.
Die Autorin lehrt bislang Sozialmedizin an der Fachhochschule Bielefeld. Sie hat gerade einen Ruf an die Universität in Maastricht erhalten, wo sie ein Institut für Public Health Genomics-Projekte aufbauen wird.