FORTSCHRITT
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele Gebiete der Medizin rasend schnell entwickelt. Eine Würdigung
In den zurückliegenden Jahrzehnten hat die Medizin weltweit mehr für die Menschheit zuwege gebracht als in Hunderten von Jahren zuvor. Dieser Beurteilung stimmt die Fachwelt in bemerkenswerter Einigkeit zu. Bis in alle Verästelungen hinein ist in dieser Zeit die Medizin beherrscht von grandiosen, einander jagenden Fortschritten. Ihnen ist im Wesentlichen zu danken, dass sich die Lebensdauer der Menschen, primär in den Industrieländern, kontinuierlich verlängern ließ. An ein paar der Highlights aus der langen Liste der Fortschritte soll nachstehend erinnert sein.
Kardiologie und Herzchirurgie machten in den vergangenen vier Jahrzehnten immer wieder mit weiterführenden Therapien von sich reden. Seit einiger Zeit kann man bei Herzoperationen in Einzelfällen auch schon auf die Eröffnung des Brustkorbs verzichten und statt dessen minimal-invasiv und sogar ohne Einsatz der Herz-Lungen-Maschine operieren. Es werden dazu Rip- pen nahe am Brust- bein durchtrennt, um durch eine acht bis zehn Zentimeter breite Öffnung endoskopische Instrumente einführen und mit ihnen operieren zu können - am schlagenden Herzen.Der "alte" Venen-Bypass wird, dank der minimal-invasiven Techniken, mehr und mehr abgelöst von einer operativ hergestellten, sehr kurzen Verbindung zwischen einer der inneren Brustwandarterien und dem wichtigsten Herzkranzgefäße - eine Methode, bei der auch nach zehn Jahren die Gefäß-Verbindungen noch immer offen sind.
Auch bei Herzrhythmusstörungen gibt es vielfältige Neuerungen: Dem schon in den 1950er- Jahren eingeführten Herzschrittmacher bei verlangsamtem Herzschlag, folgte vor kurzer Zeit der Defibrillator, einzusetzen bei zu schnellem Herzschlag und insbesondere beim lebensbedrohenden Kammerflimmern, dann auch die Ablationstechnik bei häufigem Vorhofflimmern, wobei Herzgewebe, von dem die falschen Schlagimpulse ausgehen, elektrisch verödet wird. Eine andere Behandlung des Vorhofflimmerns ist die elektrische Kardioversion, die dem Sinusknoten wieder dazu verhilft, seine Funktion als Taktgeber des Herzens ungestört zu übernehmen. Auch bei schwerer Herzinsuffizienz gibt es operative Hilfe: Dem Patienten wird aus dem Oberschenkel Muskelgewebe entnommen, ein Speziallabor extrahiert daraus die noch nicht ausdifferenzierten Muskelzellen und vermehrt diese in einer Nährflüssigkeit. Drei Wochen später wird sie dem Patienten via Katheter in den Herzmuskel injiziert. Die Zellen differenzieren sich zu funktionsfähigen Herzmuskelzellen aus und die Herzkraft wird gestärkt.
Ein Fortschritt zum Wohl des Patienten ist die gesamte Endos-kopie. Die großen inneren Organe können heute über die Körperöffnungen oder über kleine Schnitte in Brust- und Bauchdecke inspiziert und in vielen Fällen auch chirurgisch behandelt werden.
Eine der segensreichsten Verbesserungen hat die Augenheilkunde mit dem Austausch der eingetrübten Augenlinse gegen eine Kunststofflinse eingeführt. Die Katarakt-Operation ist heute die am häufigsten ausgeführte Operation überhaupt. Auch die Netzhautchirurgie gehört unbedingt auf die Liste der Fortschritte, insbesondere die Behandlung der diabetischen Retinopathie.
Eine der häufigsten Erkrankungen ist der Schlaganfall. Weil es dabei auf die Minute ankommt, sind in großen Kliniken Stroke-Units zur hochspezialisierten Behandlung aufgebaut worden. Aber längst noch nicht alle Kliniken sind für diese Therapie eingerichtet. Umso wichtiger ist die Vorbeugung, und dazu gehört die Kontrolle der Halsschlagadern, über die das Gehirn zu 85 Prozent mit Blut versorgt wird. Liegt eine Einengung vor, können die Engstellen operativ ausgeschält und ein "Stent" eingesetzt werden. Das große Gebiet der Organtransplantationen steht ebenfalls auf dem Konto der jüngeren Medizingeschichte. Der ersten Herzverpflanzung im Dezember 1967 folgten sehr schnell Transplantationen anderer Organe. Die weitgehende Überwindung der Abstoßungsreaktionen machte inzwischen die Transplantationen so weit unspektakulär, dass sie heute mit der täglichen Operationsroutine abzulaufen scheinen.
Die Medizintechnik, einst als "Apparatemedizin" verunglimpft, hat gleichfalls erheblichen Anteil am medizinischen Fortschritt. Allein mit Computer- und Kernspintomographie ist die schon bisher große Serie der Diagnostikgeräte wirkungsvoll erweitert worden. Die künstlichen Gelenke, schon immer eine der bewährtesten Errungenschaften, können heute individuell den anatomischen Verhältnissen des Patienten entsprechend hergestellt und mit computergesteuerter Navigationshilfe sehr genau eingesetzt werden.
Der schier endlos langen Kolonne der Kranken mit Rückenschmerzen stehen, wenn andere Hilfen versagen, in die Bauchregion einsetzbare Nervenstimulatoren zur Verfügung, die elektrische Impulse an das Rückenmark abgeben, wo sie die Schmerzsignale überlagern und den Schmerz gewissermassen zudecken. Andere lassen sich Medikamentenpumpen unter die Haut setzen, die den Wirkstoff über Katheter an die Rückenmark-Nerven abgeben und diese betäuben. Für die schweren Bandscheibenvorfälle stehen verschiedene Modelle künstlicher Bandscheiben zur Verfügung, die den ursprünglichen Bewegungsradius fast wieder komplett herstellen können.
Die Fülle der neuen innovativen Arzneimittel ist schier unübersehbar und kommt allen medizinischen Fachgebieten und Millionen von Kranken zugute. Die Tatsache, dass heute - nimmt man alle Formen der Krebserkrankungen zusammen - im Durchschnitt jede zweite geheilt werden kann, ist in erster Linie ein Erfolg der Pharmakologie. Herausragend ist dabei die Heilungsrate bei kindlicher Leukämie und auch noch bei Hoden- und Gebärmutterhalskrebs, sowie bei einigen Haut- und anderen onkologischen Erkrankungen.
Stärker in die Zukunft gerichtet, aber auch heute schon relevant: die Möglichkeiten der Gentechnik und die Stammzelltherapie, beides Fachgebiete, die in aller Welt die Forschung beschäftigen. So gibt es Versuche an Menschen mit der "therapeutischen Angiogenese" im Herzen, das heißt, mit einem mit gentechnischen Mitteln provozierten Anstoß zum Wachstum neuer Blutgefäße. In Deutschland sind bereits ein paar Dutzend Patienten mit schwerster Herzinsuffizienz so behandelt worden, und zwölf Wochen danach war an den Injektionspunkten ein dichtes Netz feinster neuer Haargefäße entstanden. Schon heute haben adulte, also von Erwachsenen entnommene, Stammzellen große therapeutische Bedeutung bei der Transplantation von Knochenmark bei Leukämie-Patienten, und aktuelle Studien lassen weitere Erfolge erwarten: bei Herzinsuffizienz, Multipler Sklerose, Morbus Crohn, Hirnschäden, Knorpel- und Knochenersatz, Zentralnervensystem, Leberschäden, Parkinson, Querschnittlähmungen und an- derem.
Und zuguter Letzt noch die Zahnmedizin: Man kann auf das herausnehmbare Gebiß verzichten, weil es möglich geworden ist, Zähne festsitzend in den Kieferknochen zu implantieren - auf dass wir mutig die Zähne zeigen können.
Die Tragweite der jüngeren Fortschritte wird am ehesten mit Blick auf lange zurückliegende Äußerungen zweier damals prominenter Ärzte deutlich.
So drohte vor mehr als 100 Jahren der Wiener Chirurg Theodor Billroth auf einem Kongress: "Wer es wagen sollte, von einer möglichen Operation am Herzen zu sprechen, den müsste man aus allen Ärztegesellschaften ausschließen." Und am 18. August 1928 stand der Assistenzarzt Werner Forssmann im Chefzimmer der Berliner Charité vor Ferdinand Sauerbruch und sagte: "Herr Professor, ich möchte mich habilitieren, und dazu will ich mir in einem Selbstversuch einen Katheter ins Herz schieben, um dann mit Kontrastmitteln das Herz und die Koronarien sichtbar zu machen." Er erwartete Zustimmung vom "Alten", doch der hob den Kopf und herrschte den jungen Mann an: "Mit einem derart lächerlichen Kunststück habilitiert man sich vielleicht in einem Zirkus, aber nicht an einer ordentlichen Klinik."
Forssmann tat es einige Zeit später dennoch und erhielt 1956 für die inzwischen mit der Herzkatheterisierung eröffneten überragenden Therapiechancen den Nobelpreis. Es hat sich also viel getan in den vergangenen Jahrzehnten.
Der Autor ist freier Medizinjournalist in Hamburg und schreibt unter anderem für "Die Welt".