CHRONISCH KRANK
Ein Betroffener berichtet von der Last des andauernden Leidens
Der Ärger mit meiner Gesundheit beginnt genau genommen mit meiner Geburt am 9. August 1962. Ich falle in diese Welt mit einem angeborenen Herzfehler, einem so genannten Vorhofseptumdefekt, einem Loch in der Herzscheidewand.
Wann ich dann das erste Mal Herzrhythmusstörungen habe, kann ich nicht genau sagen. In meiner Erinnerung irritieren mich jedenfalls schon immer diese lästigen Attacken: Blitzartig fängt mein Puls an zu rasen, zu toben, von einer Sekunde zur nächsten pumpt mein Herz ohne jeden Rhythmus, chaotisch folgt Schlag auf Schlag, mal schwach, mal stark. Mein Herz kämpft in meiner Brust, als wolle es herausspringen.
In meiner Jugend gelingt es mir, die lästigen Anfälle selbst zu beenden: Ich sauge soviel Luft wie möglich in meine Lungen und presse den Brustkorb mit Gewalt zusammen. Dieses Vasalva-Manöver, so nennen es die Mediziner, hilft meist.
Überrascht mich mein verrückter Puls in der Schule, verdrücke ich mich kurz auf die Toilette, pumpe Luft, dann flott zurück ins Klassenzimmer. Befällt mich das Vorhofflimmern beim Fußball spielen, renne ich schnell an die Seitenlinie, pumpe mächtig, dann wieder ab zum Tore schießen. Meiner Freundin erkläre ich, mein Herz würde ab und zu wild tanzen. Schon früh lerne ich, meine Krankheit als Teil meines Lebens zu akzeptieren.
Als mir Anfang des Studiums zwei mal nur noch die Intensivstation gegen meine Rhythmusstörungen hilft, wird das Problem allerdings ernster. Mit 21 Jahren muss ich mich am offenen Herzen operieren lassen. Das Loch in meiner Herzwand wird erfolgreich geschlossen. Doch anschließend bin ich leider nicht gesund, meine Herzrhythmusstörungen tauchen sogar noch häufiger auf, werden massiver, gefährlicher.
So schlucke ich nun seit fast drei Jahrzehnten Tabletten. Die Medizinmänner dieser Welt haben ein ganzes Arsenal verschiedener Wirkstoffe an mir und meinem Herzen getestet: Verapamil, Chinidin, Amiodaron, Flecainid, Sotalol, dazu Digitoxin, Acetylsalicylsäure, zeitweise Phenprocoumon und noch das eine oder andere mehr.
Trotzdem verschlechtert sich der Zustand meines Herzens weiter. Treten heute Herzrhythmusstörungen auf, muss ich in fast jedem Fall elektrokardiovertiert werden, wie es in der Medizinersprache heißt. Bei einer Kardioversion wird unter Narkose ein Stromschlag durch das Herz gejagt, ähnlich wie es Fernsehzuschauer aus Krankenhausserien kennen, wenn ein Patient wiederbelebt wird. Bereits über 25 Mal musste ich mich in Notaufnahmen oder Intensivstationen "grillen" oder "stromen" lassen.
Die Ärzte nehmen spezielle Eingriffe, so genannte Ablationen an meinem Herzen vor. Bei diesem Verfahren werden über Katheter Teile meines Herzgewebes innen in den Herzkammern gezielt zerstört. Erst vor wenigen Wochen habe ich mich wieder solch einer Prozedur unterworfen.
Ich bin bei den besten Ärzten: Mein niedergelassener Kardiologe in seiner Hamburger Praxis beschäftigt sich seit über 20 Jahren vor allem mit widerspenstigem Herzschlag - ein hochspezialisierter Rhythmologe. In einer Klinik in St. Georg kümmert sich ein Professor um mich, der international als Koryphäe bei der Behandlung von Herzrhythmusstörungen gilt.
Doch trotz aller ärztlicher Kompetenz und modernster Behandlungsmethoden, mein Herz zeigt sich in Teilen einfach unbeeindruckt, ich werde nicht gesund. Bis heute bin ich Stammgast in kardiologischen Praxen und in Kliniken, ein Herzkranker wie aus dem Lehrbuch.
Was ich aus meiner langjährigen Krankheitsgeschichte gelernt habe? Erstens: Ohne die Wunder der modernen Medizin würde ich längst nicht mehr leben. Mein ehrlicher Dank gilt allen Ärzten, die Hand an mich gelegt haben, allen Forschern, die sich mit meinem Leiden beschäftigt haben. Zweitens: Auch die beste Medizin konnte mich bisher nicht gesund machen. Will ich leben, muss ich meine Krankheit annehmen, muss ich mit ihr leben.
Mein Herz ist kein wartungsfrei summender Motor wie bei den meisten Menschen, sondern eine ziemlich anfällige Schrottkiste, von der niemand weiß, wie lange sie läuft. Mein Herz ist die größte Gefahr in meinem Leben. Doch trotz aller Qualen, Risiken und Einschränkungen: Ich habe weder Lust, frühzeitig von diesem Planeten abzutreten noch dauerhaft unglücklich zu sein. Und während ich diese Zeile schreibe - ich lebe!
Kranke, aber auch gesunde Menschen sollten sich immer darüber klar sein: Krankheit ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, die Normalität. Menschen leiden nicht nur beständig an Husten, Schnupfen, Heiserkeit, sie ringen mit Rheuma, Aids, Blutkrankheiten, Multipler Sklerose, Psychosen, Syphilis, Lungenfibrose, verschiedensten Arten von Krebs, Alzheimer, Parkinson und abertausenden anderen fiesen Übeln - jeden Tag, überall auf der Welt. Die Diagnose lautet: Die Menschheit ist schwer krank!
Das allzeit gesunde Individuum ist nicht mehr als ein Traum von geradezu göttlicher Anmaßung. Wenn Krankheiten aber untrennbar zur menschlichen Existenz gehören, sollte auch jeder versuchen, sie als Teil des Lebens hinzunehmen. Niemand darf dem Wunderglauben erliegen, die heutige Medizin mit ihren zum Teil exzellent ausgebildeten Ärzten, mit all ihren chemischen Helfern und ihre blinkenden und piependen Apparaturen sei in der Lage, den Menschen von der Geißel der Krankheit zu befreien - oder gar für ein ewiges Leben zu sorgen. Gestorben wird fast immer zu früh, aber immer.
Warum gerade Sie schwer krank sind, oder Ihr Kind oder Ihr Partner? Warum jetzt? Warum so furchtbar? Warum so lange? Haben Sie eine Antwort auf diese Fragen? Es würde mich sehr wundern. Denn die banale Erkenntnis lautet: Es gibt keine. Denn nicht umsonst heißt es: Das Leben ist hart, aber ungerecht.
Sie glauben an Gott und das ewige Leben? Oder halten Sie es eher mit der buddhistischen Wiedergeburt, dem kosmischen Karma, der wankelmütigen römischen Schicksalsgöttin Fortuna? Sind Sie gar ein Geist, der alles verneint, ein Atheist? Oder nur ein Agnostiker? Sie werden keine Antwort finden, warum gerade Sie oder wer auch immer mit einer schrecklichen Krankheit geschlagen ist. Warum mich persönlich mein Herz so quält, ich habe es nie ergründen können. Und ich will es auch nicht.
Natürlich war ich schon in tiefer Verzweiflung gefangen, habe in Gedanken gebettelt, gehasst, getobt. Die Einsamkeit, die Angst, die Schmerzen, die Ausweglosigkeit machen mich manchmal rasend. Auch mich hat das Leiden schon so niedergedrückt, dass ich das Gefühl hatte, nie wieder genug Kraft zum Leben zu haben.
Starten meine Herzrhythmusstörungen, läuft meine ganze private Horrorshow an: Werde ich durch einen Anfall irgendwann eine Lungenembolie oder einen Gehirnschlag erleiden? Beides kommt vor. Werden sich meine Rhythmusstörungen einmal zu einem akut lebensbedrohlichen Kammerflimmern entwickeln? Auch das ist anderen schon passiert.
Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, besser mit dem Verhängnis umzugehen. Gefragt ist Demut, Ergebenheit - die Bereitschaft, das, was unabänderlich ist, hinzunehmen. Kein Stück Lebensqualität wird freiwillig der Krankheit geopfert! Von William Shakespeare ist der nette Spruch überliefert: "Ich bin nicht sehr krank, ich kann noch darüber reden."
Wer krank ist, muss einen Widerspruch akzeptieren: Einerseits darf er nie die Hoffnung aufgeben, gesund zu werden. Gleichzeitig muss er aber versuchen, das Beste aus seinem Leben zu machen. Klingt schwer, ist schwer - aber es gibt keine Alternative.
Manchen hilft eine Art fast kindlicher Trotz, anderen Ironie und Sarkasmus. Galgenhumor kann Angst und Furcht in die Schranken weisen, weil er den Kranken als absoluten Helden über den Teufel Krankheit erhebt. "Es wird schon schief gehen", sage ich oft vor schwierigen Behandlungen.
Es gibt andere Strategien: Man kann sich ein Leiden ein Stück weit schön reden; die wunderbare Fähigkeit des Gehirns unterstützen, unangenehme Erinnerungen zu verdrängen; sich als tragischen Verlierer, der nicht unterzukriegen ist, oder als Helden glorifizieren.
Wer einmal ganz am Ende steht, ohne jede Chance dem völligen Zerfall des Körpers gegenübersteht, der besitzt die Möglichkeit "Hand an sich zu legen", wie es der Schriftsteller Jean Améry genannt hat. Der Gedanke, dass "der Freitod ein Privileg des Humanen" ist, war für mich immer ein tröstlicher Gedanke, bisher jedoch nicht für eine Sekunde eine praktische Möglichkeit.
Trotz meiner Herzkrankheit habe ich eine spannende Jugend erlebt, habe studiert, bin Journalist und Spiegel-Redakteur geworden. Ich bin öfter durch die USA gereist, habe Sport getrieben. Ich habe das Glück mit meiner Frau und unserer kleinen Tochter gefunden.
Ich kann nur sagen: Auf die größte Verzweiflung in meinem Leben sind immer wieder wunderbare Augenblicke gefolgt. Und diese Momente, auf die ich nie hätte verzichten wollen, waren all das Leid und den Schmerz wert. Für mich gilt: Auch in Zukunft nichts wie ran ans Leben! Ob ich je gesund werde? Ich hoffe es. Und was ich mache, wenn es nicht klappt? Versuchen, trotzdem glücklich zu sein!
Der Autor ist Redakteur des Magazins "Der Spiegel".