GENDER
Männer- und Frauenkörper unterscheiden sich. Das hat Konsequenzen für Diagnose und Therapie
Geschlechts- und alterssensible Forschung in der Medizin war noch bis vor Kurzem eine terra incognita. So galt bisher der junge männliche Körper in der Medizin als Norm, an dessen Modell sich medizinische Forschung und Praxis orientierten, ausgenommen alle die Reproduktion betreffenden Organe und Funktionen. Männer und Frauen unterscheiden sich aber in Anatomie und Immunologie, in ihrer genetischen und hormonellen Ausstattung.
Ebenso verhält es sich mit der altersbedingten Umsetzung von Medikamenten im Stoffwechsel: Kinder reagieren empfindlicher als Erwachsene, ältere Menschen haben einen langsameren Stoffwechsel, so dass Medikamente länger im Körper bleiben und empfohlene Dosierungen bereits eine Überdosierung bedeuten können. Besonders gefährlich für ältere Menschen mit Osteoporose sind daher Überdosierungen mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln, die die Sturzgefahr erhöhen. Bislang liefert vor allem die Gender Medizin neue Hinweise darauf, dass zum Beispiel altersbedingte Veränderungen bei Männern und der weibliche Zyklus Krankheitsverläufe und Behandlungen beeinflussen können.
Alle Bestrebungen der Gender Medizin dienen letztlich dem Ziel einer optimalen Versorgung durch Überwindung der Geschlechterkluft in Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation - unter Berücksichtigung von Kindern und Senioren.
Mit der Gender Medizin kam die Erkenntnis, dass Generalisierungen bei bestimmten Erkrankungen als "typisch" männlich oder weiblich den Blick dafür verstellten, dass sie auch im anderen Geschlecht auftreten können, zum Teil mit anderen Symptomen. Geschlechts- und teilweise Altersunterschiede zeigen sich in der Knochendichte, in der Gefäßdicke und dem Stoffwechsel. Darüber hinaus gibt es Differenzen in der Größe der inneren Organe, der Herztätigkeit, dem Verhältnis von Körperwasser zu -fett, schließlich in Körperbau, -größe und -gewicht. Frauen haben meist etwas kleinere Kniescheiben als Männer und sind durch ein anders geformtes Becken häufiger von Verschleißerscheinungen der Kniegelenke betroffen als Männer. Erst seit 2007 wird diesem Unterschied bei der Anfertigung von Knieprothesen Rechnung getragen.
Zur Vermeidung von schweren Verletzungen ist bei Operationen zur Erweiterung der Gefäße der durchschnittlich kleinere Gefäßdurchmesser bei Frauen zu berücksichtigen. Die geschlechtsabhängig bedingte geringere Knochendichte führt bei Frauen häufiger als bei Männern zur altersbedingten Osteoporose. Mit dem Einzug der Gender Medizin werden nun vermehrt auch Männer mit typischen Risikofaktoren für Osteoporose als mögliche Patienten wahrgenommen. Während für Frauen mehrere Medikamente mit dem Wirkstoff Biphosphonat, der zur Knochenstabilisierung dient, auf dem Markt sind, steht Männern bislang nur ein Mittel aus dieser Wirkstoffreihe zur Verfügung.
Bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen galten lange Zeit Herzinfarkt und Herzinsuffizienz als Männerkrankheiten, Diagnose und Therapie wurden diesem Bild entsprechend für Männer maßgeschneidert. Heute ist bekannt, dass bei Frauen sowohl das Ruhe- wie das Belastungs-EKG weniger aussagekräftig ist als bei Männern. Außerdem treffen nur bei rund 32 Prozent der Frauen die als "typisch" für einen Herzinfarkt definierten Symptome zu. Stattdessen können Erbrechen, Übelkeit, Kiefer-, Hals- und Rückenschmerzen sowie verstärkte Atemnot Warnhinweise sein.
Eine derjenigen Erkrankungen, die bei Män-nern und Jungen oft nicht oder verspätet diagnostiziert wird, ist die Depression. Anstelle von Antriebslosigkeit, Traurigkeit und Introvertiertheit äußert sie sich beim männlichen Geschlecht öfter in Wutausbrüchen, Aggression und vermehrtem Schwitzen.
Besonders für die Prüfung von Arzneimitteln war die Forderung nach einer geschlechts- wie alterssensiblen Forschung längst überfällig. Weil die männliche und weibliche Leber unterschiedlich schnell Gifte wieder abbauen, treten Nebenwirkungen bei Frauen häufiger auf. Generelle Aussagen über die Dosierung sind deshalb mit Vorsicht zu genießen, weil sie bei Frauen, Jugendlichen und älteren Menschen zur Überdosierung führen können oder nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Besonders riskant sind Medikamente, die den Herzrhythmus von Frauen beeinträchtigen und damit zu schweren Herzproblemen führen können, während diese unerwünschten Nebenwirkungen bei Männern nicht beobachtet wurden. In der Behandlung von Herzinfarktpatienten wurde bis vor wenigen Jahren ein Wirkstoff des Roten Fingerhuts bei Männern und Frauen verordnet. Geschlechtssensible Untersuchungen brachten es an den Tag: Für Frauen kann das Arzneimittel tödliche Folgen haben. Orale Verhütungsmittel sowie die Behandlung mit Hormonersatztherapien in den Wechseljahren haben ebenfalls Einfluss auf einige Medikamente. Umgekehrt können einzelne Medikamente die Wirkung der Verhütungsmittel aufheben. Weitere altersspezifische Untersuchungen sind erforderlich.
Die Autorin ist Humanbiologin und hat 2007 das Buch "Frauen sind anders krank als Männer" im Irisiana-Verlag publiziert.