MODERNE MEDIZIN
Dank neuester Untersuchungsmethoden und regelmäßiger Checks sind wir heute gesünder und werden immer älter. Zumindest glauben wir das. Der medizinische Fortschritt - ein Placebo?
Nie ging es Kranken besser als heute: Die moderne Medizin bietet Kernspin, künstliche Hüftgelenke und minimal-invasive Operationstechniken. Bei allem Streit ums Gesundheitssystem: In einem sind sich Ulla Schmidt und Ärzte-Vereinigungen einig - der medizinische Fortschritt ist ein Segen. Nur: für wen? Politiker und Ärztefunktionäre bemühen den medizinischen Fortschritt vor allem, wenn es gilt, höhere Kosten zu rechtfertigen. Doch wie steht es mit den Patienten? Hat sich ihre Situation tatsächlich verbessert?
Mythos 1: Mit neuen Diagnosemethoden ließen sich Krankheiten präziser bestimmen als je zuvor, heißt es. Mediziner wissen, dass für 90 Prozent aller Diagnosen eine ausführliche Krankenbefragung und die körperliche Untersuchung reichen. Augen, Ohren, Nase, Mund und Hände sind immer noch das beste Handwerkszeug eines Arztes. Dennoch schicken viele Ärzte ihre Patienten erst einmal zum Röntgen oder zur Kernspin- und Computertomographie, bevor sie selbst Hand anlegen.
Dieses Vertrauen in die Technik ist nicht unbedingt begründet: 1996 wurden an einigen Kliniken die Fehldiagnosen aus den Jahren 1959, 1969, 1979 und 1989 ausgewertet. In diesem Zeitraum hatten Ultraschall, Computertomographie (CT) und Kernspin Einzug in den medizinischen Alltag gehalten. Trotz des technischen Fortschritts ging die Zahl der Fehldiagnosen keineswegs zurück. Obduktionen ergaben, dass zwischen 1959 und 1989 der Anteil nicht oder falsch erkannter Krankheiten konstant bei etwa zehn Prozent lag.
Beispiel Rückenschmerzen - das Volksleiden Nummer eins. In kaum einem Bereich der Medizin gibt es so große Unterschiede zwischen Befund und Befinden: In Röntgen-, CT- und Kernspinaufnahmen sieht man zwar bei den meisten Menschen Abnutzungserscheinungen - aber der Verschleiß sagt wenig darüber aus, ob jemand tatsächlich Rückenbeschwerden hat. In einer Untersuchung bekamen Radiologen und Orthopäden hunderte Röntgenbilder und CT-Aufnahmen zu sehen. Etwa bei jedem dritten Fall erkannten sie krankhafte Prozesse. Was die Knochenexperten nicht wussten: Man hatte ihnen Aufnahmen von beschwerdefreien Studenten vorgelegt. Fast die Hälfte aller 50-Jährigen hat sogar einen Bandscheiben- vorfall und merkt nichts davon. Umgekehrt lassen sich für 90 Prozent aller Rückenschmerzen keine Auslöser finden - auch nicht mit modernstem Gerät.
Mythos 2: Die flächendeckende Versorgung mit Hightech-Medizin sei ein Segen für die Menschen.
Eine Stadt von der Größe Münchens verfügt über etwa 30 Großpraxen, Kliniken und Zentren, die Patienten auf Herzbeschwerden untersuchen können. Mit Hilfe von Herzkathetern entdecken Kardiologen mögliche Engstellen in den Kranzgefäßen, die auf einen drohenden Infarkt hinweisen. Oft ist der Eingriff hilfreich, weil verengte Gefäße geweitet werden.
Die Zahl dieser Untersuchungen steigt jedoch rasant, allein in Deutschland werden 300.000 Patienten pro Jahr mit Herzkathetern untersucht. Viel zu viele, bemängelt eine Untersuchung im New England Journal of Medicine. Häufig hätten Patienten nämlich keinerlei Nutzen von dieser aufwendigen Prozedur. Doch keine Klinik, keine Großpraxis will auf die lukrative Untersuchung verzichten. Andererseits haben die behandelnden Ärzte weniger Erfahrung mit dem Eingriff, wenn sich 30 Kliniken die Arbeit teilen, die drei Kliniken bewältigen könnten. Beides geht jedenfalls zu Lasten der Patienten.
Mythos 3: Dank moderner Medizin werden wir so alt wie keine Generation vor uns. Laut einer Berechnung hat die Medizin zwischen 1950 und 1990 die Lebenserwartung der Menschen in den westlichen Industrieländern um etwa drei Jahre verlängert.
Dutzende Studien bestreiten allerdings genau diesen Zusammenhang vehement. Realistisch sei der Anteil der Medizin daran, dass die Sterblichkeit an Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs zurückgegangen ist, allenfalls mit 15 bis 20 Prozent zu veranschlagen. In Zeiten der Hightech-Medizin gerät aus dem Blick, wie wichtig Lebensumstände, Ernährung und Hygiene für die Lebenserwartung sind - also auch Faktoren, die wenig mit Medizin zu tun haben.
Mythos 4 lässt uns glauben, regelmäßige Checks und Vorsorge seien die beste Garantie für ein gesundes Leben. Dabei kann eine wichtige Form der Behandlung darin bestehen, abzuwarten. Honoriert werden Ärzte für ihre Zurückhaltung jedoch nicht. Deshalb kommt es in der modernen Medizin zunehmend zur "Überdiagnostik" und "Übertherapie". Immer wieder werden vermeintliche Leiden therapiert, die nie Beschwerden verursacht hätten. Prostatakrebs etwa wächst bei den meisten Männern so langsam, dass sie nie etwas davon bemerken. Zwar hat die Hälfte aller 80-Jährigen Krebszellen in der Prostata. Die große Mehrzahl dieser Männer stirbt jedoch nicht an, sondern mit dem Tumor.
Wer gesund ist, wurde nur nicht ausreichend untersucht, lautet ein gängiges Motto der Mediziner. Auch die Europäische Gesellschaft für Kardiologie hat es beherzigt, als sie vor drei Jahren ihre Leitlinien zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Leiden präsentierte. Allgemeinärzte kritisierten im Fachblatt British Medical Journal daraufhin, mit den neuen Leitlinien würden die meisten Erwachsenen zu Patienten gemacht. Folgt man Europas Herzexperten, gibt es kaum noch Gesunde: Unter den neuen Grenzwerten, einem Blutdruck von höchstens 140 zu 90 oder einem Cholesterinspiegel von 193 Milligramm pro Deziliter Blut, bleibt nur ein Viertel aller Erwachsenen. Die Medizin schafft sich so einen Teil ihres Bedarfs selbst. Die Konsequenz in den Arztpraxen: immer mehr Gesunde mit Befunden ohne Bedeutung und Kranke ohne Befund.
Bleibt Mythos 5: Die Medizin ist für eine alternde Gesellschaft gerüstet. Alte Menschen haben komplizierte Eigenschaften: Erstens werden sie häufiger krank. Zweitens leiden sie oft an mehreren Gebrechen gleichzeitig. Altersmediziner aus Baltimore haben beschrieben, welche absurden Folgen es in der Praxis hätte, würden Leitlinien immer befolgt: Die Ärzte nannten als Exempel eine 79-Jährige, die an Diabetes, Bluthochdruck, chronischer Bronchitis, Osteoporose und Gelenkrheuma leidet - typisch in diesem Alter. Die alte Dame müsste gemäß den medizinischen Fachgesellschaften zu fünf verschiedenen Tageszeiten zwölf Medikamente in 19 Dosierungen einnehmen. Obendrein widersprechen sich einige der Empfehlungen: Das Mittel gegen Gelenkrheuma schwächt zum Beispiel die Wirkung der Tabletten gegen Bluthochdruck. Auf diese Weise werden Leib und Leben der Patienten gefährdet und gleichzeitig unnötige Kosten verursacht.
Der amerikanische Ökonom Uwe Reinhardt warnte bereits vor Jahren vor den Folgen, sollten die Gesundheitssysteme weiter expandieren und sich an den Inhalten der Medizin nichts ändern: Die USA würden sich in ein riesiges Krankenhaus verwandeln, in dem jeder Bewohner entweder arbeite oder als Patient aufgenommen werde. Diese Prognose trifft wohl nicht nur auf die USA zu. Werner Bartens
Der Autor ist leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der "Süddeutschen Zeitung".