ARZNEIEN
Entwicklungen von Medikamenten dauern Jahre
Grit Haase hat eine ungewöhnliche Aufgabe. Sie arbeitet gewissermaßen als Detektivin für "Nebenwirkungen". Sowohl bei den Patienten als auch in den Krankenakten der Inneren Medizin des Rostocker Universitätsklinikums spürt sie "unerwünschte Arzneiwirkungen" (UAW) auf, die zur Einweisung ins Krankenhaus geführt haben. "Magenblutungen sind beispielsweise oft ein Hinweis auf Nebenwirkungen von Medikamenten", sagt Haase, die die Daten erfasst und nach Wuppertal schickt. Dort sammelt Petra Thürmann, Professorin am Helios Klinikum Wuppertal, die Daten aus Rostock und drei weiteren Kliniken in Deutschland und wertet sie aus. "Eine Magenblutung ist ein bekanntes Risiko, das mit der Zulassung in Kauf genommen werden muss, zum Beispiel bei der Einnahme von Blutverdünnern. Aber wir schätzen, dass mindestens 20 Prozent der UAWs vermeidbar sind", so die Pharmakologin. "Pharmacovigilance" ist das Fachwort für diese Forschung. Es bedeutet, Arzneimittelrisiken im Auge zu haben, und zwar dann, wenn das Medikament bereits auf dem Markt ist. "Pharmacovigilance-Zentren" stehen damit am Ende einer langen Kette von Überprüfungen und Tests, die Wirkstoffe und Medikamente für Patienten möglichst sicher machen sollen.
Am Anfang der Entwicklung eines neuen Medikamentes steht die Überlegung, welche Krankheit bislang nicht oder nur unzureichend behandelt werden kann. Aber auch die finanziellen Erfolgsaussichten spielen bei den Unternehmen eine Rolle. "Danach richtet sich dann die Entscheidung für die Entwicklung besserer Thrombose-Medikamente oder für ein Mittel gegen Fußpilz", erklärt Rolf Hömke vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Ist die Entscheidung für eine Krankheit oder besser für die Entwicklung eines Wirkstoffes getroffen, beginnt ein Prozess, der meist zwölf Jahre dauert. Anfangs forschen die Wissenschaftler nach der Gretchenfrage: Wo bietet der Krankheitserreger eine Angriffsfläche? An welchen Molekülen in den Körperzellen im Blut können Wirkstoffe ansetzen? Ein Vorgehen, das an die Suche nach der Nadel im Heuhaufen erinnert.
"Oft beginnt die Wirkstoffsuche mit dem Durchtesten einer Million verschiedener Substanzen", so Hömke. Allerdings lässt sich der Heuhaufen heute mit Hilfe von Maschinen deutlich schneller durchforsten. Am Ende stehen dennoch zwischen 5.000 und 10.000 Substanzen, die die gewünschte Wirkung haben könnten. Versuche an Zellkulturen und auch an Tieren sollen mehr Klarheit über die Wirksamkeit, die Verträglichkeit, die Unbedenklichkeit sowie mögliche Nebenwirkungen bringen. Fünf Jahre vergehen in der Regel bis zum Abschluss dieses Schritts.
Die Zahl der möglichen Wirkstoffe reduziert sich noch einmal deutlich, bevor sie an 60 bis 80 gesunden Erwachsenen getestet wird. Meist sind es nicht mehr als fünf Substanzen, die es bis zu diesem Schritt schaffen. Hier wird zum ersten Mal untersucht, wie sich die Substanz überhaupt im menschlichen Körper verhält. Vor allem die Nebenwirkungen werden genau unter die Lupe genommen.
Ob der Wirkstoff als Tablette oder in Form von Tropfen, als Salbe oder Pflaster am Besten wirkt, wird von so genannten "Galenikern" entschieden. Die Entscheidung für die Darreichungsform hat vor allem Einfluss darauf, wo, wie schnell und wie lange das Medikament wirkt.
Anschließend beginnen die Tests mit den Kranken, die als Phasen II und III bezeichnet werden: Zuerst wird an 100 bis 500 Kranken getestet "Die Phase II ist ein Härtetest, den viele Wirkstoffe nicht bestehen. Nur etwa die Hälfte der Substanzen nimmt diese Hürde", erklärt Hömke. "Die Forschungskosten liegen dann aber schon im dreistelligen Millionenbereich."
In einem weiteren Test mit mehreren tausend Patienten müssen die Arzneien genau so dosiert und zubereitet zum Einsatz kommen, wie sie auch zugelassen werden sollen. Weil man in Deutschland allein meist nicht genügend Testpersonen findet, müssen auch Patienten in mehr als einem Dutzend anderer Länder getestet werden. "Da muss das Krankenhauspersonal in der jeweiligen Landessprache geschult werden und auch die Patienten erhalten alle Informationen in ihrer Sprache", beschreibt Hömke den Aufwand. Zeigt sich bei den Tests die gewünschte Wirkung und eine gute Verträglichkeit, ist die Zielgerade erreicht. Der Konzern kann die Zulassung beantragen. Für eine europaweite Zulassung wird der Antrag bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) gestellt.
Die Bearbeitung dauert rund anderthalb Jahre. Auch die Kosten sind gewaltig: Allein die Zulassung kostet 232.000 Euro, die gesamte Entwicklung im Schnitt 600 Millionen Euro. Auch die Genehmigung ist kein Garant, dass es nicht doch zu Nebenwirkungen kommt. Das weiß Grit Haase aus eigener Erfahrung. "8.000 bis 10.000 Patienten werden pro Jahr in die Kliniken für Innere Medizin in Rostock eingewiesen. Drei bis vier Prozent wegen Arzneimittelnebenwirkungen."