Biomedizin
Die Branche boomt, doch große Durchbrüche über Nacht sind unrealistisch. Geduld führt eher zum Erfolg
Genmedizin und Zelltherapie - steht das über den Torbögen, hinter denen wir uns das gelobte Land der Medizin heute vorzustellen haben? Wird es wirklich die Biomedizin sein, wie es im Zuge etwa der Stammzelldebatte oder der Gendiagnostik-Gesetzgebung nahezu Allgemeingut geworden ist, die die Medizin aus vielen ihrer Sackgassen führt? Festzustellen ist: Auf den leuchtenden Torbögen hat sich schon Staub abgesetzt. Seit Jahren und Jahrzehnten wird die dank der rasanten Fortschritte in der Molekularbiologie immer aufs Neue anschwellende Begleitmusik lauter, viele der erhofften klinischen Erfolge aber lassen weiter auf sich warten. Vor den Toren stehen die Schwerkranken Schlange. Trotzdem werden in Deutschland weiter Biomedizin-Institute gegründet und so genannte klinische Translationszentren eingerichtet, in denen das Wissen aus der Forschung schneller und gezielter in die medizinische Praxis münden soll. Eine Über- treibung? Eine biomedizinische Forschungsblase, die ebenso platzen kann wie seinerzeit die Dotcom- oder jüngst die Kreditblase an den Börsen?
Ernsthaft rechnet damit heute kein seriöser Wissenschaftler. Vielmehr fällt die Antwort, fragt man die führenden Köpfe in den Laboren, zweigeteilt aus. Die eine lautet: Wer über Nacht "Durchbrüche" für die ärztliche Routine erwarte, werde enttäuscht. Wer allerdings die Geduld aufbringe und das finanzielle Stehvermögen langwieriger Machbarkeits- und Sicherheitsstudien, die den großen klinischen Studien vorausgehen, der könne mit medizinischen Fortschritten vom Schlage der Penicillin-Revolution rechnen - Rückschläge inbegriffen. Die Pipeline jedenfalls scheint gefüllt. Selbst umstrittene Verfahren wie die anfangs ganz praxisnahe als "Genchirurgie" bezeichnete Genmedizin, die nach einem frühen Todesfall und der Entdeckung gefährlicher Nebenwirkungen gelegentlich als Irrweg bezeichnet wurden, stehen nach der fälligen Klausur vor einem Neuanfang.
Mittlerweile freilich ist der - noch experimentelle - Werkzeugkasten der Genmediziner um einiges erweitert worden. Da sind vor allem die Ende der 90er-Jahre am Fadenwurm entwickelten RNA-Technologien zur gezielten Steuerung der Aktivität von Genen zu nennen - in Konkurrenz und als Ergänzung zum Austausch von defekten DNA-Abschnitten im Erbgut. Auch der Einsatz neuer Wirkstoffe, künstlicher Enzyme oder kleiner Moleküle, die unmittelbar in die Aktivität der Gene oder über den Umweg von Signalmolekülen eingreifen, wird sukzessive vorangetrieben. Die schon Jahrzehnte bekannten monoklonalen Antikörper, eine aus dem Immunsystem abgeleitete Waffe, mit der man ebenfalls gezielt solche Signalwege manipulieren oder Bausteine der Zellen gleichsam blockieren kann, zählen zu den wachstumsstärksten Zweigen der pharmazeutischen Industrie.
Und schließlich ist auf der höheren biologischen Organisationsstufe, gewissermaßen als Transplantationsmedizin der Zukunft, die Zelltherapie auf dem Sprung in die Klinik - Schulter an Schulter sozusagen mit der Genmedizin. Das Ziel ist offensichtlich eine Art Reparatur-Biobaukasten, der auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten ist.
Wo aber stehen diese Verfahren heute? Eine "Explosion" der vorklinischen Tierexperimente mit RNA-Verfahren wurde unlängst in der Zeitschrift "Human Gene Therapy" festgestellt. Tausende Untersuchungen an Tiermodellen und mindestens ein halbes Dutzend klinischer Studien sind auf den Weg gebracht worden, nachdem es anfangs Schwierigkeiten bereitete, die mit den kleinen RNA-Molekülen hoch- oder herunterregulierten Genaktivitäten dauerhaft zu erhalten oder die neuen "Magic Bullets" auch nur in die gewünschten Zellen einzuschleusen. Im Mittelpunkt steht dabei die so genannte Interferenz-RNA-Technologie. Mit ihr wird das Gen im Erbgut nicht direkt manipuliert, sondern die Abschrift dieser Bauaunleitungen, die Boten-RNA. Dazu nutzt man kurze Nukleinsäure-Schnipsel, künstlich hergestellt und für die avisierte Gensequenz maßgeschneidert beziehungsweise für die Bearbeitung in der Zelle vorproduziert, die sich an die gewünschte Boten-RNA-Sequenz binden und blockieren. Ein natürliches Vorbild zu diesem Therapiekonzept gibt es auch: Micro-RNAs gehören zu dem immer komplexer erscheinenden Netzwerk zur Regulation der Genaktivitäten in der Zelle. Mindestens 500 solcher winziger Nukleinsäuren kennt man, und ihr Einfluss ist gewaltig. Ein Drittel unserer Erbanlagen wird vermutlich auf die eine oder andere Weise durch das Vorkommen dieser Micro-RNAs modifiziert, und in vielen Fällen stehen sie bei Fehlfunktionen als Auslöser für Krankheiten unter Verdacht. In Experimenten an Affen haben dänische Forscher jüngst durch eine Blockade von Micro-RNAs den Cholesterin-Stoffwechsel innerhalb weniger Tage beinahe normalisiert. Nebenwirkungen? Keine.
Doch speziell, was die Sicherheit angeht, gibt es in den RNA-Technologien noch große Fragezeichen. In zwei stark beachteten Veröffentlichungen über klinische Versuche zur Interferenz-RNA-Therapie bei schweren Augenleiden hat man jüngst festgestellt, dass man auf diesem Weg durch die Blockade des Gefäßbildungs-Wachstumsfaktors offenbar die Zerstörung anderer Zelltypen verursacht - und damit ebenfalls Erblindung riskiert.
Schwere Augenleiden zählen wegen des überschaubaren und leicht zugänglichen Organs inzwischen zu den Hoffnungsträgern der klassischen Gentherapie-Versuche. Fast ein halbes Dutzend Publikationen zu ersten Klinikstudien oder Vorversuchen nähren die Hoffnung, dass mit neuen Genvehikeln die nicht selten angeborenen Fehlfunktionen möglicherweise dauerhaft korrigiert werden können. Sie zählen zur Spitze einer Reihe von Versuchen, die inzwischen auf weit mehr als tausend behandelte Patienten angewachsen ist. Oft kommen dabei wie in jüngsten, durchaus vielversprechenden Studien an Parkinson-Patienten so genannte Adeno-assoziierte Viren (AAV) als Vehikel zum Einsatz, doch die Suche nach idealen Gentransportern steht weiter im Mittelpunkt der Gentherapie-Forschung.
Was die Zelltherapie angeht, hat sich die Vielfalt Jahr für Jahr erweitert. Wie in der Parkinson-Therapie hat man die Ansätze sukzessive erweitert. Zum einen wird neuerdings versucht, die im Hirn natürlich vorkommenden Vorläufer- und Stammzellen zur Regeneration der zerstörten Nervenzellen zu stimulieren. Fortgeschrittener aber sind Konzepte der Zelltransplantation. Die "Rohstoffquellen" haben sich hier enorm ausgeweitet.
Neben den aus Körpergewebe beziehungsweise Nabelschnurblut gewonnenen oder durch Kultivierung von Embryonalzellen erzeugten und modifizierten Stammzellen sind es vor allem die neuen, künstlichen oder "induzierten" Stammzellen, die momentan die Szene am meisten beschäftigen. Die Idee, gewöhnliche und leicht verfügbare Körperzellen - etwa Hautfibroblasten - zum Rohstoff für nahezu beliebig wandel- und vermehrbare Zellen umzuwandeln, in dem man mit ein paar wenigen Molekülen die entscheidenden Entwicklungsgene reprogrammiert, könnte die Forschung mit den biopolitisch umstrittenen embryonalen Stammzellen (ES) auf lange Sicht überflüssig machen. Weltweit und auch in Deutschland haben die Stammzellforscher quasi über Nacht mit entsprechenden Tierexperimenten begonnen. Welche Bedeutung die vor einiger Zeit von einer amerikanischen Firma angekündigten ersten ES-Zelltherapieversuche an querschnittgelähmten Menschen nach den jüngsten rasanten Fortschritten mit den induzierten Stammzellen haben könnten, ob sie denn tatsächlich zugelassen und begonnen werden, das ist nun unklarer denn je. So gesehen scheint sich das Potenzial der Stammzelltherapie heute zwar immer schneller, beinahe grenzenlos, zu vergrößern. Sie ist aber auch stärker als jedes andere biomedizinische Feld im Fluss. Und deshalb der ärztlichen Routinepraxis ferner denn je.
Der Autor ist Leiter des Wissenschaftsressorts der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".