AIDS
74 Prozent der Singles unter 45 Jahren benutzen Kondome. Trotzdem steigt die Infektionsrate wieder an
Mach's mit" steht in großen Lettern auf einer Leinwand vor einem Berliner Supermarkt. Niemand kann hineingehen, ohne hinzusehen. Spätestens die Zitronen mit den übergestülpten Kondomen verraten, dass es um AIDS-Prävention, um "Safer Sex" geht.
Mehr als die Hälfte der über 16-Jährigen kennt diese Plakate, die Teil der nationalen Aufklärungskampagne "Gib AIDS keine Chance" sind. Sie trägt längst langjährige Früchte: Fast jeder Bürger weiß, wie das HI-Virus übertragen wird. 74 Prozent der Singles unter 45 Jahren benutzen beim Geschlechtsverkehr ein Kondom. Nie wurden so viele Präservative verkauft wie heute.
Doch seit einigen Jahren gibt es mehr und mehr Neuinfektionen. "Die Reichweite der Aufklärungskampagnen hat abgenommen", begründet Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die bedenkliche Entwicklung. Mehr Auslandsreisen sind ein weiterer Grund. Das Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass die Zunahme der übrigen Geschlechtskrankheiten die Ausbreitung des HI-Virus begünstigt.
Aber im Raum schwebt auch eine andere, wenig greifbare Ursache für die Zunahme der Neuinfektionen: "Die Kehrseite der besseren Behandlungsmöglichkeiten ist, dass manche Menschen unvorsichtiger geworden sind", ist Jan van Lunzen, HIV-Experte vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, überzeugt. Obwohl die Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung diese Einschätzung nicht stützen, wird verschiedentlich vom Verzicht des Kondoms in vollem Bewusstsein der Gefahr berichtet. In manchen homosexuellen Subkulturen gehöre ungeschützter Sex wieder zum Verhaltenscode, beschreibt Phil Langer, Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München, das Phänomen. Er ist dem vermeintlichen Leichtsinn gemeinsam mit der Münchner, der Berliner und der Deutschen Aids-Hilfe und mehreren Arztpraxen auf den Grund gegangen. Die Studie "Positives Begehren" soll zum Weltaidstag am 1. Dezember erscheinen.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse: "Ich gehe von einer Zunahme des Risikoverhaltens aus", resümiert Langer. Allerdings sei der Trend keineswegs von einer einzigen Ursache getrieben. Die besseren Therapiemöglichkeiten führen in seinen Augen nicht eins zu eins zu einem leichtsinnigeren Verhalten. "Der medizinische Forschritt ist nur ein kleines Mosaikstück, das dazu beiträgt", sagt er. Denn die Angst vor AIDS sei nach wie vor weit verbreitet. Zugleich ist das Wissen über die Medikamente nicht besonders fundiert. Der viel zitierte Therapieoptimismus kann allenfalls diffuser Natur sein und ist für den anderen Umgang mit der AIDS-Gefahr nicht alleine Ausschlag gebend.
Dennoch bestätigt Langer, dass sich die Wahrnehmung der Geschlechtskrankheit verändert hat. Bedingt durch die verfügbaren Arzneien können die typischen Symptome, die nach Ausbruch von AIDS in Erscheinung treten, unterdrückt werden. "Dadurch gibt es kein Bild der Erkrankung in der Gesellschaft mehr. Ein AIDS-Kranker, der rechtzeitig therapiert wird, lässt sich heute äußerlich nicht als solcher erkennen", schildert Langer. AIDS ist unsichtbar geworden und dadurch verliert die Krankheit implizit an Bedeutung, so seine These.
HIV-Positive, die rechtzeitig und konsequent behandelt werden, können einen Zustand erreichen, in dem der Erreger nicht mehr nachweisbar ist und die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung nahezu auf Null sinkt. HIV-positiv und doch so gut wie nicht ansteckend, diese Diagnose lässt die Vorsicht schwinden. "Die Schwelle, das Kondom wegzulassen, ist auch dadurch gesunken", so Langer. Generell ist jedoch das Verantwortungsbewusstsein der Infizierten sehr groß. Die meisten Befragten geben an, in jedem Fall ein Kondom zu benutzen, weil sie auf gar keinen Fall einen Gesunden anstecken möchten. Eine Grauzone tut sich jedoch dort auf, wo HIV-Positive mutmaßen ihr Gegenüber sei ebenfalls infiziert und deshalb auf den Schutz verzichten. "Das ist ein großes Problem. Über den HIV-Status wird meist nicht offen gesprochen. Aus dem Verhalten des anderen oder vom Hörensagen werden Rückschlüsse gezogen. Diese können natürlich falsch sein", erläutert der Sozialpsychologe.
In Anbetracht der Zunahme der Neuinfektionen in vielen Ländern sucht die Weltgesundheitsorganisation nun nach neuen Möglichkeiten der Prävention. Vor allem die Medizin soll künftig helfen. Diskutiert wird unter anderem eine prophylaktische Behandlung mit virusunterdrückenden Medikamenten, PrEP genannt, für Hochrisikogruppen wie Prostituierte. Auch unmittelbar nach dem Sex können die gängigen HIV-Medikamente mittlerweile als "Pille danach" für einen Monat eingenommen werden und so Schlimmeres verhindern. Unfälle - etwa ein geplatztes Kondom - sollen mit dieser PrEP ohne gesundheitliche Folgen bleiben. Das Infektionsrisiko sinkt um 80 Prozent.
Die absehbare Medikalisierung der Vorsorge könnte das Sexualverhalten jedoch erneut verändern: "Die PrEP kann das Risiko in sich bergen, dass die Verantwortung abgeschoben wird. Nach dem Motto: Ich kann das Kondom weglassen, weil es die ,Pille danach' gibt", erwägt Langer. Dennoch überwiegt in seinen Augen der Segen dieser Neuerungen. Menschen erfahren zu einem gewissen Grad einen Schutz vor einer Krankheit, die bis auf weiteres noch einen schwerer Einschnitt ins Leben bedeutet.
Die Autorin ist studierte Chemikerin und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Berlin.