MEDIZIN
Hoffnungsvolle Ansätze für Therapien gibt es viele. Belastbare Ergebnisse stehen noch aus
Gesundheit ist ein besonders hohes Gut. Dass wir Bürger eines Industriestaates wie der Bundesrepublik Deutschland uns in den meisten Fällen viele Jahre guter Gesundheit erfreuen dürfen, verdanken wir beeindruckenden Fortschritten der Medizin in den vergangenen 100 Jahren. Betrug die mittlere Lebensdauer zu Beginn des 20. Jahrhunderts hierzulande weniger als 40 Jahre, so haben Männer nun eine mittlere Lebenserwartung von gut 75 und Frauen von rund 81 Jahren. Diesen Fortschritt haben zahlreiche Entwicklungen auf den verschiedensten Gebieten herbeigeführt, allen voran Schutzimpfungen gegen Erreger, die insbesondere Kinder dahinrafften. Lebensretter Nummer zwei waren die Antibiotika.
Es folgten die Entwicklung unzähliger Medikamente, immer feinere Methoden der Diagnostik, neue Operationstechniken und nicht zuletzt besondere Materialien, die Gewebe oder Organteile ersetzen. Künstliche Hilfsmittel wie Hüftgelenke oder Organteile wie Herzklappen ersetzen zunehmend, verschlissene Körperteile. Der Ersatz eines ganzen kranken Organs durch ein gesundes mit Hilfe der Organtransplantation kam hinzu. Dank der Organspende erhielten schwerstkranke Patienten ein neues Herz, eine Niere, Leber oder Lunge und gewannen damit neue Lebenszeit. Doch gespendete Organe sind allzu rar, um allen darauf wartenden Patienten helfen zu können. Die Stammzellforscher haben es sich daher zum Ziel gesetzt, mit Hilfe von Stammzellen krankes Gewebe durch gesundes zu ersetzen. Die in diese Therapieform gesetzten Hoffnungen sind groß, doch stehen die Entwicklungen noch ganz am Anfang. Auf bestimmten Gebieten wie der Regeneration des Blutes bei Blutkrebs oder der Haut bei schwersten Verbrennungen wurden bereits beeindruckende Erfolge erzielt.
Derzeit erforschen die Wissenschaftler mit großem Elan, ob man mit Hilfe von Stammzellen oder teildifferenzierten Vorläuferzellen auch andere kranke Gewebe regenerieren kann, etwa einen geschädigten Herzmuskel nach einem Herzinfarkt oder Skelettmuskeln bei chronischen Muskelerkrankungen. Um ethische Fragen bei der Nutzung embryonaler Stammzellen zu umgehen, liegt die Hoffnung mehr und mehr auf adulten Stammzellen. Doch ob es je gelingen wird, nach dem Vorbild der Eidechse, die ihren verlorenen Schwanz perfekt ersetzen kann, auch komplexere Organe des Menschen mit Hilfe von Stammzellen zu regenerieren, ist noch nicht erwiesen.
Um krankhafte oder unerwünschte Zustände in die richtige Bahn zu lenken, haben Chemiker und Pharmakologen unzählige Medikamente entwickelt, sei es zur Stärkung des Herzens, zur Krebstherapie oder zur Empfängnisverhütung. Eine völlig neue Dimension eröffnete die Herstellung von körpereigenen Stoffen mit Hilfe der Gentechnik. Sie liefert Arzneimittel wie die Hormone Insulin oder Erythropoetin, die mit jenen des menschlichen Körpers identisch sind. Doch zeigt sich am Beispiel des nun in beliebiger Menge verfügbaren Epo, wie leicht es zum Missbrauch etwa als Dopingmittel beim Sport kommen kann.
Die Erfindung der Gentechnik war zugleich das Vorspiel zu einer weiteren Entwicklung, der Genomforschung. Von der Umsetzung der Genomforschung in die Diagnose und Therapie von Krankheiten, erwarten viele in den nächsten Jahrzehnten besonders große Fortschritte für die Medizin.
Von den meisten Erbkrankheiten, die von einem einzigen Gen verursacht werden, kennt man inzwischen die gestörte Erbanlage. Das hat zu großen Fortschritten bei der Diagnose dieser erblichen Leiden geführt. Doch hat ihr Nachweis, vor allem bei Ungeborenen, zu einem Dilemma geführt, weil es bislang nur in den seltensten Fällen auch eine Behandlungsmöglichkeit gibt. Die Frage nach ethisch verantwortbarem Handeln ist nicht zuletzt dann besonders schwierig zu beantworten, wenn ein Gendefekt wie im Fall von Huntington Chorea, einer unheilbaren Geisteskrankheit, die sich in enormen psychischen und körperlichen Problemen äußert, erst beim Erwachsenen zum Ausbruch des Leidens führt.
Viele Forscher setzten zur Behandlung von Erbleiden auf eine Gentherapie, den Ersatz des gestörten Gens durch ein intaktes Exemplar. Doch einer Phase großer Euphorie, die dieses theoretisch bestechende Konzept ausgelöst hatte, folgte große Ernüchterung. Denn bei der praktischen Umsetzung taten sich gewaltige Hürden auf, die bis heute nicht überwunden sind. Viel Grundlagenforschung ist noch nötig, um den gezielten Transport einer Erbanlage in das menschliche Erbgut zu ermöglichen.
Die Genomforschung, die Analyse aller Gene des menschlichen Genoms, hat begonnen, die Diagnose und Therapie vieler Erkrankungen zu revolutionieren. Mit ihr ist es möglich geworden, im Prinzip alle Variationen im Genom eines Menschen herauszufinden. Das hat zum einen die Gefahr mit sich gebracht, dass vorschnell auf die Veranlagung für bestimmte Krankheiten geschlossen wird. Denn noch lässt sich in den meisten Fällen nicht bewerten, ob eine bestimmte Genvariante für sich genommen eine bestimmte Krankheit begünstigt oder vor ihr schützt. Erst in wenigen Fällen, etwa der Nachweis ganz spezieller Variationen in Leukämiezellen, hat die Therapie einen entscheidenden Schritt nach vorne gemacht. So lässt sich dank einer Genanalyse entscheiden, welches Medikament für eine ganz bestimmte Form von Leukämie lebensrettend sein kann und welches nicht hilft.
Wir erleben die ersten Schritte zu einer personalisierten Medizin. Die Methoden sind aufwendig und teuer. Doch die Verfahren der Genanalysen werden laufend schneller und besser, so dass sie in der Zukunft zur erschwinglichen Routine werden könnten. Die Grenzen zwischen gesund und krank aber können vorübergehend verschwimmen, solange man das hochkomplexe Zusammenspiel der Gene miteinander und mit der Umwelt nicht besser versteht. Es bedarf daher eines besonderen Schutzes für die genetische Information, dem persönlichsten Gut eines jeden Menschen. Gesetze, die vor einem Missbrauch genetischer Informationen vor allem durch den Arbeitgeber oder Versicherungen schützen, sind in Vorbereitung.
Als eine der größten Herausforderungen bleiben schließlich Nervenkrankheiten wie Lähmungen, Depressionen oder Demenzen. Hat man bis ins 20. Jahrhundert Patienten mit einer Geisteskrankheit zuweilen noch als vom Teufel besessen angesehen, so wird nicht zuletzt durch die Genomforschung immer klarer, welche materiellen Strukturen bei diesen Leiden defekt sind und die Krankheit auslösen. Dies lässt auch für die Geisteskrankheiten auf gezielte Therapien hoffen. Mit hirngelenkten roboterartigen Prothesen hofft man nicht zuletzt, Gelähmten oder Erblindeten ihre fehlenden Fähigkeiten zu ersetzen.
Wann immer neue Verfahren der Medizin große Fortschritte brachten, stießen diese bei vielen Menschen zunächst auf Misstrauen und großen Widerstand: Die ersten Impfungen galten als unnatürlich, die ersten Herztransplantationen als unmenschlich und mit den mittlerweile möglichen Genomanalysen droht nun in den Augen vieler der gläserne Mensch. Nutzen und Risiko müssen bei jeder neuen Entwicklung gegeneinander abgewogen werden.
Doch sollte auch das Bewusstsein dafür geschärft werden, wie viele Menschenleben mittlerweile etablierten Errungenschaften zu verdanken sind. Impfmüdigkeit und der unangemessene Gebrauch von Antibiotika sollten dieses Kapital nicht leichtfertig verspielen und auch die Angst vor Genanalysen das Leben von Krebspatienten nicht aufs Spiel setzen.
Die Autorin ist promovierte Biochemikerin und arbeitet als freie Wissenschaftsautorin unter anderem für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".