AFGHANISTAN
Die Sicherheitslage hat sich drastisch verschlechtert. Die Nato steht vor großen Herausforderungen
Afghanistan ist inzwischen ein verfasster Staat, Präsident und Parlament sind frei gewählt. Auch im Gesundheits- und Bildungswesen sowie beim Pro-Kopf-Einkommen lassen sich deutliche Fortschritte erkennen. Diese und andere Aufbauleistungen der internationalen Gemeinschaft können sich durchaus sehen lassen, doch werden sie durch die sich dramatisch verschlechternde Sicherheitslage überschattet. Zwischen 2001 und 2008 sind über 1.000 ausländische Soldaten ums Leben gekommen. Seit 2005 liegen die jährlichen Verluste im dreistelligen Bereich - Tendenz steigend.
Die Angaben zu den Opfern unter der afghanischen Zivilbevölkerung sind zwar unterschiedlich. Unbestritten ist allerdings, dass die Zahl der bei Anschlägen der Aufständischen oder Operationen der alliierten Truppen ums Leben gekommenen Afghanen eine dramatische Zunahme ausweist. Dies untergräbt die Akzeptanz der heute gut 50.000 Mann starken "International Security Assistance Force" (ISAF), die anfänglich sehr hoch war. Die Nato hatte die Führung der ISAF-Mission im August 2003 übernommen. Zeitgleich beendete der UN-Sicherheitsrat ihre geographische Beschränkung auf Kabul. Der Deutsche Bundestag stimmte dieser Mandatsveränderung zu und schaffte damit die Voraussetzung für die Teilnahme der Bundeswehr am Projekt der sogenannten "Provincial Reconstruction Teams" (PRT). Bei diesen handelt es sich um in der Regel multinationale militärisch-zivile Einrichtungen, die den Auftrag haben, in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich die nationalen und internationalen Bemühungen um die Etablierung staatlicher Strukturen und wirtschaftlichen Wiederaufbau zu stärken. Inzwischen sind 26 PRTs flächendeckend im Lande tätig.
Die Bundeswehr übernahm noch im Jahr 2003 die Führung des PRT in Kunduz; Feyzabad kam im folgenden Jahr hinzu. Mitte 2005 wurde sie mit der Aufgabe betraut, die gesamten zivil-militärischen Aktivitäten und damit den Wiederaufbau im Norden Afghanistans zu koordinieren. Wenig später erhöhte der Bundestag die Personalobergrenze für das deutsche Kontingent auf 3.000 Soldatinnen und Soldaten und genehmigte überdies ihren zeitlich begrenzten Einsatz außerhalb Kabuls und der Nordregion. Seit Juli 2008 stellt die Bundeswehr überdies die "Quick Reaction Force" (QRF) des unter ihrer Führung stehenden Regionalkommandos Nord. Bei dieser handelt es sich um ein verstärktes Panzergrenadierbataillon, das als taktische Reserve eingreift, wenn sich die Sicherheitslage irgendwo in ihrem Bereich zuspitzen sollte. Parallel zu den auf eine Absicherung des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus ausgerichteten Bemühungen der Nato führt seit 2001 eine von den USA geleitete Koalition ("Operation Enduring Freedom"/ OEF) den Kampf gegen die einst das Land regierende und heute von Pakistan aus operierende Taliban-Bewegung und die mit ihr verbündeten Terroristen der al-Qaida. In einigen Hauptstädten Europas, so auch in Berlin, wird großer Wert darauf gelegt, die Eigenständigkeit beider Operationen zu betonen. Seit Oktober 2008 ist die Bundeswehr nicht mehr an der OEF-Mission in Afghanistan beteiligt.
Vor Ort jedoch verliert die saubere Unterscheidung zwischen ISAF und OEF an Konturenschärfe. Insbesondere für die Taliban und andere aufständische Gruppen spielt sie in der Auswahl ihrer Anschlagsziele keine Rolle. Die ursprüngliche Vorstellung, die OEF würde Schritt für Schritt der terroristischen Bedrohung Herr werden und ISAF dann unbehelligt in den befriedeten Regionen für Stabilität und Wiederaufbau sorgen, hat sich als naiv herausgestellt. Auch in den Gebieten, die, wie etwa der deutsche Verantwortungsbereich, lange Zeit als relativ ruhig galten, ist die Gefahr terroristischer Anschläge heute allgegenwärtig.
Die Nato bekannte sich auf ihrem Bukarester Gipfel im April 2008 zu ihrer längerfristigen Verpflichtung in Afghanistan. Sie setzt auf eine Erweiterung der Verantwortung der afghanischen Behörden und ist sich bewusst, dass zur Lösung der Probleme ein umfassender, sowohl ziviler als auch militärischer Ansatz erforderlich ist. Zudem will die Nato die Zusammenarbeit mit den Nachbarn Afghanistans verstärken.
Für den neuen US-Präsidenten Barack Obama steht Afghanistan ganz oben auf der Agenda. Er hat eine Verstärkung der US-Truppen angekündigt und dürfte gleiches von den Alliierten erwarten. Über diese Verstärkungen hinaus ist zu damit zu rechnen, dass er auf eine Aufgabe nationaler Einsatzvorbehalte drängen und mehr Solidarität bei der Risikoverteilung verlangen wird. Seit 60 Jahren beruht der Erfolg der Nato nicht zuletzt auf der Glaubwürdigkeit des Solidarverhaltens ihrer Mitglieder. Diese Glaubwürdigkeit steht in Afghanistan auf dem Prüfstand.