EUROPÄISCHE VERTEIDIGUNG
Die alte Welt wird noch lange auf einen transatlantischen Pfeiler angewiesen sein
Die klassische Arbeitsteilung, nach der die Nato für sicherheits- und verteidigungspolitische Fragen, die EU hingegen - soweit sie überhaupt in diesem Bereich tätig ist - für darüber hinausgehende außenpolitische Themen zuständig ist, hat sich aufgelöst. Beide Organisationen haben in den vergangenen Jahren ein enges Kooperationsgeflecht entwickelt, und seit 2001 finden regelmäßige Konsultationen auf verschiedenen Ebenen statt. Dennoch ist die Europäisierung der Allianz, die sich zunächst in einer Aufwertung der Rolle der Westeuropäischen Union (WEU), der Schaffung der so genannten "Combined Joint Task Forces" (CJTF) und später in der Schaffung einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik innerhalb der EU (ESVP) manifestierte, ein klassisches transatlantisches Streitthema. Dabei geht es im Wesentlichen darum, inwieweit die EU Aufgaben, die bisher die Nato wahrnimmt, übernehmen kann und will.
Mit der Konkretisierung der ESVP seit den Beschlüssen von Köln und Helsinki im Juni und Dezember 1999 stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur Nato und damit letztlich die Frage nach der Rolle der USA in und für Europa. Die zentrale Frage ist, ob die EU eine Art "Zweigstelle" der Allianz für besondere Aufgaben wird oder ob ein großer Teil dessen, was an sicherheitspolitischen Aufgaben auf eine um die ESVP bereicherte EU zukommt, nicht doch besser, schneller und effizienter von der Nato geleistet werden kann.
Zwar ist mit den "Berlin-plus-Vereinbarungen" aus dem Jahr 2003 ein geregeltes Verfahren für die Zusammenarbeit gefunden worden, Fragen nach den Beziehungen zwischen Nato und EU sorgen aber für heftigen Streit im Bündnis. Insbesondere scheint es unterschiedliche Interpretationen auf beiden Seiten des Atlantiks über den Gehalt der Vereinbarung zu geben. Frankreich bezweifelt, ob im Falle einer EU-Operation tatsächlich der Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der Nato gewährt würde. Des Weiteren verweist Paris auf die praktischen und konzeptionellen Probleme, die mit der Forderung nach dem Recht auf den ersten Zugriff (‚right of first refusal') durch die Nato aufgeworfen würde. Diesem Begehren nachzugeben hieße, die Handlungsfähigkeit der EU vom Nordatlantikrat und damit von den USA abhängig zu machen.
Angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen dem Ausbau der ESVP und dem Bestand der Nato sind im Grundsatz zwei Modelle für die zukünftige Entwicklung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen denkbar: eine gleichberechtigte Zwei-Pfeiler-Allianz und ein Konkurrenzverhältnis zwischen EU und USA, das eher früher als später zum Zerfall der Nato führen müsste.
Im ersten Modell würde sich zwischen den USA und Europa eine (aufgrund unterschiedlicher Machtpotenziale) asymmetrische, aber gleichberechtigte Zwei-Pfeiler-Allianz entwickeln. Der europäische Pfeiler würde Sicherheitsprobleme im eigenen regionalen Umfeld eigenständig lösen können, für den Notfall stünden aber US-Kräfte bereit, um unterstützend eingreifen zu können.
Welche Organisation - Nato oder EU - die Vorrangstellung hätte, würde nicht grundsätzlich, sondern vielmehr pragmatisch im Geist der Partnerschaft und Solidarität entschieden. Voraussetzung wäre in diesem Modell einerseits, dass die EU mit ihrem Projekt ESVP erfolgreich ist und mehr eigene Anstrengungen (auch finanzieller Art) für die Gewährleistung ihrer Sicherheit unternimmt. Eine gewisse Duplizierung militärischer Fähigkeiten und Entscheidungsstrukturen wäre dabei unvermeidlich, sie erfolgte aber in Absprache mit den USA. Ungeklärt ist die Frage einer Mitentscheidungsmacht Washingtons. So stellt sich die Frage: Kann es Situationen geben, in denen die Nato nicht handeln will und die EU trotzdem gegen den Willen der USA handelt? Weitere Voraussetzung wäre andererseits, dass die USA partnerschaftsfähig bleiben und anerkennen, dass sie Verbündete bei der Lösung der sicherheitspolitischen Herausforderungen brauchen.
Im zweiten Modell, bei einem Konkurrenzverhältnis von EU und USA, würde es mittel- bis langfristig zu einem Bruch in den transatlantischen Beziehungen kommen und die Nato langsam erodieren oder gar konfliktträchtig zerfallen. Die sicherheitspolitischen Grundannahmen und Bedrohungsanalysen würden sich mittelfristig weiter auseinander entwickeln, EU und USA längerfristig strategische Rivalen werden. Im Moment ist die EU zwar noch nicht in der Lage, eine solche Rolle als politischer Rivale zu spielen, wenn sie aber eines Tages fähig wäre, ihr ökonomisches Gewicht in politisch-strategische Macht umzusetzen, könnte dieses Szenario schneller Realität werden, als transatlantische Europäer befürchten und europäische Autonomisten erhoffen. Insgesamt ergeben sich aus der Analyse der komplizierten Beziehungen zwischen Nato und EU drei zentrale Konsequenzen für die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen:
Erstens wird EU-Europa mehr für seine eigene Sicherheit verantwortlich sein als je-mals zuvor, und die europäische Politik muss die Voraussetzungen dafür verbessern, diese Rolle auch auszufüllen. Um die Gestaltungskraft der EU in der Welt des 21. Jahrhunderts ist es allerdings derzeit unter den gegebenen Voraussetzungen europäischer Politik nicht all zu gut bestellt. Obgleich sich der Bereich Außen- und Sicherheitspolitik wie kaum ein anderes Politikfeld für gemeinschaftliche Lösungen geradezu aufdrängen würde, steht nicht zu erwarten, dass mit 30 oder gar 35 Mitgliedstaaten das gelingen könnte, was schon mit 15 Staaten nicht erreicht werden konnte: die wirksame Einbringung einer gemeinsamen europäischen Stimme in die internationale Politik.
Wenn diese Analyse stimmt, dann wären die EU und die sie tragenden Mitgliedstaaten zweitens gut beraten, nach Kräften daran zu arbeiten, dass die USA eine "europäische Macht" bleiben und sich bei der - notwendigen und sinnvollen - Entwicklung ihrer sicherheitspolitischen Rolle auf eine Weise zu verhalten, die die USA nicht weiter von Europa entfernt.
Drittens ist trotz aller bereits existierenden offiziellen Bekundungen und formalen Ar-rangements eine Debatte über eine transatlantische Arbeitsteilung dringend notwen-dig. Die EU sollte ihre Schwerpunkte dort ausbauen, wo ein über rein militärische Fähigkeiten hinausgehender Ansatz im Vordergrund steht. Das heißt nicht, dass auf die militärische Dimension auf EU-Ebene verzichtet werden soll.
Die EU ist aber auch auf absehbare Zeit im besten Fall eine "Zivilmacht mit Zähnen" und sollte der Nato Einsätze überlassen, bei denen Eskalationsdominanz und Mittel hoher Intensität erforderlich sind. Dass dazu eine Bereitstellung europäischer Fähigkeiten unter Verfügungsgewalt der Allianz (oder genauer gesagt: ein Beitrag einzelner europäischer Staaten) erforderlich ist, sollte selbstverständlich sein. Sowohl die angekündigte Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der Nato als auch die stärkere Betonung von Partnerschaft und Multilateralismus seitens der neuen US-Administration verbessern auch die Chancen für ein konstruktives Miteinander von Nato und Europäische Union.
Denn angesichts der weitgehenden Mitgliederkongruenz beider Organisationen, der Tatsache des "single set of forces" wie auch der anspruchsvollen internationalen sicherheitspolitischen Probleme wäre es völlig unangemessen, wenn sich beide in einer Art "Schönheitswettbewerb" in Selbstbeschäftigung übten, anstatt wirksame Impulse zur Stabilisierung des internationalen Systems wie auch effektive Beiträge zur Lösung der anstehenden sicherheitspolitischen Probleme zu leisten.