BALKAN-KRIEG
Im Kosovo garantiert das Bündnis mit seinen Truppen die Stabilität
Washington im April 1999. Die Staats- und Regierungschefs der Nato finden sich in der amerikanischen Hauptstadt zum Jubiläumsgipfel des Bündnisses zusammen. Zum ersten Mal sitzen die Vertreter Polens, Tschechiens und Ungarns als gleichberechtigte Mitglieder mit am Tisch. Wenige Wochen zuvor waren ihre Fahnen vor der Nato-Zentrale in Brüssel aufgezogen worden.
Feierstimmung im Rückblick auf eine 50-jährige Erfolgsgeschichte will unter den Delegationen gleichwohl nicht aufkommen. Der Grund liegt auf der Hand: Die Nato ist im Krieg - zum ersten Mal seit ihrer Gründung. Schon seit einem Monat fliegen ihre Luftstreitkräfte Angriffe gegen Ziele in Serbien, um den in Belgrad herrschenden Diktator Slobodan Milosevic zu zwingen, das Wüten seines Militärs gegen die aufständische albanische Mehrheitsbevölkerung in der Provinz Kosovo zu beenden.
Die Luftschläge des Bündnisses richten sich ganz bewusst nicht allein gegen Einrichtungen der serbischen Armee, sondern auch gegen die zivile Infrastruktur des Landes. Zwar führt man erklärtermaßen keinen Krieg gegen die Bevölkerung, doch soll sie durch wirtschaftliche Schäden und eine Beeinträchtigung ihres alltäglichen Lebens gegen die Regierung aufgebracht werden - eine Rechnung, die nicht aufgeht. Mehr als 4.500 Tote und ein Schaden von etwa 30 Milliarden Euro sind nach dem Einlenken Belgrads und der Einstellung der Angriffe im Juni 1999 die Bilanz des Konflikts.
Der Kosovo-Krieg war der Schlusspunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen, die nach dem Zerfall Jugoslawiens den westlichen Balkan erschüttertet hatten. Jäh rissen sie die westlichen Staaten aus dem Glauben, dass nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes nun eine Epoche umfassender Sicherheitspartnerschaft auf dem europäischen Kontinent ange- brochen wäre, und es regten sich erste Zweifel, ob man nicht allzu voreilig eine Reduzierung der Verteidigungsanstrengungen betrieben hatte, um auf diese Weise eine "Friedensdividende" einzufahren.
Fassungslos sahen die Europäer Anfang der 1990er Jahre zu, wie Völker und Volksgruppen, die doch jahrzehntelang friedlich in einem Staat zusammengelebt hatten, nun mit archaischer Grausamkeit Kriege und Bürgerkriege gegeneinander austrugen. Alle Institutionen, auf die man eine neue Sicherheitsarchitektur nach dem Kalten Krieg gegründet sah, schienen schon bei ihrer ersten Bewährungsprobe zu versagen. Diese Vorhaltungen richteten sich nicht allein gegen die Uno, die KSZE und die EU, sondern eben auch gegen die Nato, die doch immerhin als Einzige über ein militärisches Instrumentarium verfügte, um den Frieden zu erzwingen und das Leiden der Bevölkerung zu beenden. Zum Einsatz gebracht wurde es allerdings nur punktuell, durch die Embargo-Überwachung in der Adria, durch die Kontrolle des Luftraums zur Erzwingung des Flugverbotes über Bosnien-Herzegowina und durch Luftangriffe zur Durchsetzung begrenzter Forderungen. Die Gefechte und Scharmützel konnten dadurch jedoch nicht gestoppt und weitere "ethnische Säuberungen" sowie Massaker, wie etwa jenes in Srebrenica im Juli 1995, nicht verhindert werden. Es waren die militärischen Erfolge der durch die Kroaten oder unter ihrer Beteiligung durchgeführten Offensiven und die diplomatische Initiative der USA, die die serbische Seite an den Verhandlungstisch zwangen. Mit dem Vertrag von Dayton besiegelten sie im Dezember 1995 das Ende der Kampfhandlungen. Erst auf dieser Grundlage trat die Nato auf den Plan und übernahm die Verantwortung für die Stabilität in dem erschöpften und unverändert zerrissenen Land, das heute zwar als befriedet gelten darf, aber längst noch nicht zu einer Staatlichkeit gefunden hat, die europäischen Standards entspräche.
Der Makel, vier Jahre lang keine Antwort auf Krieg und Gräuel direkt vor der Haustür des Bündnisses gefunden zu haben, lastete auf der Nato. Der Wille, sich bei vergleichbaren Ereignissen nicht erneut mit der Rolle des Zuschauers zu begnügen, kann als ein Motiv dafür gelten, dass das Bündnis Milosevic mit Entschlossenheit entgegentrat, als die schon seit mehreren Jahren schwelenden Konflikte zwischen den Kosovo-Albanern und der serbischen Regierung 1998 eskalierten. Dabei nahm die Nato sogar in Kauf, sich völkerrechtlich auf problematisches Terrain zu begeben. Ihr militärisches Eingreifen erfolgte nicht auf einen Auftrag der Vereinten Nationen hin, sondern auf der Grundlage einer "Selbst-Mandatierung", als ultima ratio. Proklamiertes Ziel: eine humanitäre Katastrophe abwenden.
Der Einsatz der Nato wird als militärischer Erfolg bewertet. Die serbischen Truppen im Kosovo waren durch die Luftangriffe zwar nicht entscheidend geschwächt worden, doch Milosevic konnte nicht mehr ausschließen, dass die Nato ihnen auch zu Lande entgegentreten würde. Milosevics Spekulation, die Geschlossenheit der Bündnispartner würde bröckeln, ging nicht auf. Auch Russland stellte sich nicht an seine Seite, sondern flankierte die diplomatischen Bemühungen. Als die serbischen Sicherheitskräfte den Rückzug antraten, übernahm die Nato-geführte Kosovo Force (Kfor) auf Grundlage eines UN-Mandats die Aufgabe, für Stabilität zu sorgen. Diesen Auftrag hat sie im vergangenen Jahrzehnt gemeistert, für die weiterhin ungelösten politischen Probleme der Region trägt sie nicht die Verantwortung. Im Kosovo hat die Nato
ein Stück ihrer Glaubwürdigkeit wiederhergestellt.