Willy Brandt
Helga Grebing hat eine Biografie über den »anderen Deutschen« vorgelegt
Elegant setzt sich Helga Grebing von einem anderen Brandt-Biografen ab. Gregor Schöllgen hatte sein Vorwort mit dem kühnen Bekenntnis angefangen: "Begegnet bin ich ihm nie, aber ich kenne ihn gut." Diesen Satz kann Helga Grebing in seinen beiden Teilen nicht bestätigen. Denn sie ist Brandt erstmals 1949 und dann im Lauf von sechs Jahrzehnten "in der einen oder anderen Weise immer wieder begegnet", doch würde sie sich "nie anmaßen, ihn gut zu kennen". Deshalb, so beschließt sie ihre Eröffnung, sei dieses Buch "auch nur der Versuch, ihn immer besser kennen zu lernen, sicher jedoch noch immer nicht gut genug".
Damit ist begründet, warum es neben den gängigen Brandt-Biografien - nennenswert sind in erster Linie die von Schöllgen, Peter Merseburger, Peter Koch und Carola Stern - nun noch eine Darstellung des Lebens von Willy Brandt geben muss: Nicht nur, weil er unter neuem Blickwinkel, nämlich als "der andere Deutsche", dargestellt wird, sondern auch, weil die Autorin tatsächlich eine andere Biografie vorgelegt hat. Helga Grebing, Mitherausgeberin der zehnbändigen "Berliner Ausgabe" der Schriften Willy Brandts, bringt aus ihren Begegnungen und aus der Beschäftigung mit ihm die Motivation auf, "nun auch mein Bild von Willy Brandt zu beschreiben".
Die Autorin hat sich vorgenommen, Stereotypen aufzubrechen und das Frageraster "Wer war Willy Brandt?" zu erweitern. Sie will gestanzten "Einweg-Deutungen" die enorme Vielschichtigkeit der Persönlichkeit Willy Brandts entgegensetzen. Den Anspruch, dem Bekannten Unbekanntes hinzuzufügen, erhebt sie nicht. Es ging ihr "um eine etwas andere Deutung von bereits bekannten Zusammenhängen und den ihnen zugrunde liegenden Quellen".
Helga Grebing arbeitete heraus: Brandts Zielprojektion sei die Schaffung eines "anderen Deutschlands" gewesen; "er wollte die Weichen dafür stellen, dass sich die Bundesrepublik des obrigkeitsstaatlichen Ballasts der Vergangenheit entledigt und sich gleichzeitig zu einem aufgeklärten Bürgerstaat entwickelt". Und er sei ein deutscher demokratischer Patriot, zugleich aber auch Europäer gewesen, ein "international orientierter, freiheitsliebender Sozialist europäischer Prägung", ein "Weltbürger"; insofern dürfe er als "Vordenker aller Aspekte der Globalisierung" gelten.
Die Historikerin weist schlüssig und quellengesättigt nach: Ein "anderer Deutscher" war Willy Brandt von Geburt an - in seiner Jugend in Lübeck, im Exil in Norwegen und nach dem Zweiten Weltkrieg in einem anderen Deutschland, das er als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Bundeskanzler, als SPD-Vorsitzender und als Präsident der Sozialistischen Internationale mitgestaltet und mitgeprägt hat. Brandts kurze Kanzlerschaft von 1969 bis 1974 sieht sie als eine Phase der Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft, als eine Art "Umgründung" der Untertanen-Republik.
Mitte der 1960er Jahre sei Brandt mit seinem Charisma, seiner Redegabe und seinem Gespür für politische Wendepunkte historischer Prozesse zur "Ikone einer neuen Ära" geworden, schreibt die Historikerin, deren Buch trotz der vielen Belegzitate flott lesbar ist. An wenigen Stellen schlägt ihre Objektivitätspflicht in Bewunderung um, wenn sie ihn als den "ersten Medienkanzler" darstellt mit seiner "Fähigkeit, Emotionen zu erzeugen" und einer "ethischen Komponente seines Politikverständnisses". Einmal gibt sie preis, womit Brandt nicht nur sie verzaubert hat: "Wer ihn je hörte, den lässt dieser einmalige Sound einfach nicht mehr los."
Auch seine Parteikarriere ordnet Helga Grebing in die Rubrik "anders" ein. Schon bevor er 1964 Parteivorsitzender wurde, habe er aus der Sicht der meisten anderen aus der Führungsriege zu nachsichtig und zu bedächtig agiert, zu zögernd Entscheidungen erst dann gefällt, wenn ihm die Zeit reif schien. Brandt war kein "Basta"-Chef, sondern Moderator der verschiedenen Auffassungen, die es in der SPD gab. Diese Rolle entsprach zwar seinem Grundverständnis von demokratischer Meinungsbildung, aber er bewirkte damit ein öffentliches Bild von der SPD als Partei dauernder innerer Auseinandersetzungen. Verstärkt wurde dies, als Brandt die Partei für neue soziale Bewegungen zu öffnen begann. Das Gezerre um den Kurs der SPD, die bis heute anhaltende Identitätskrise zwischen traditionellen und neuen Kräften haben ihn zermürbt, 1987 trat er zurück.
Willy Brandt "stand weder rechts noch links, auch nicht einfach in der Mitte (...). Seinen Standort kennzeichnete viel mehr seine unnachahmliche Mischung aus Distanz (die nicht Lieblosigkeit war) und Warmherzigkeit (die nicht Vertraulichkeit bedeutete). Wie hätte er sonst jener große Massenkommunikator sein können, als der er sich an entscheidenden politischen Weggabelungen bewiesen hat?", fasst Grebing in einer ihrer jedes Kapitel beschließenden präzisen Folgerungen zusammen. Ein besonderer anderer Deutscher ist er bis zu seinem Tod 1992 geblieben.
Willy Brandt. Der andere Deutsche.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008; 184 S., 19,90 ¤