Die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland ist in zahlreichen Studien (siehe Auswahl im Kasten) analysiert worden. Trotz oftmals erlebter Benachteiligungen haben - so die Ergebnisse - Heranwachsende mit Migrationshintergrund eine starke demokratische Grundeinstellung und ein Interesse an gesellschaftlicher Partizipation. Wie bei Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund sind auch bei ihnen die soziale Herkunft sowie Geschlechtszugehörigkeit wichtige Einflussfaktoren.
Politische Positionierungen stehen hierbei in engem Zusammenhang mit individuellen biografischen Bewältigungsstrategien der durch den jeweiligen Migrationshintergrund beeinflussten Lebenssituation. Ergebnisse und weiterführende Überlegungen werden im Folgenden thesenartig zusammengefasst. Der Text beruht auf einer Expertise für die Bundeszentrale für Politische Bildung aus dem Jahr 2005. Studien zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (Auswahl): Ursula Boos-Nünning/Yasemin Karakaşoglu-Aydιn, Viele Welten Leben. Lebenslagen von Mädchen und Jungen Frauen mit griechischem, italienischem, jugoslawischem, türkischem und Aussiedlerhintergrund, Münster 2005; Wolfgang Glatzer unter Mitarbeit von Rabea Krätzschmer Hahn, Integration und Partizipation junger Ausländer vor dem Hintergrund ethnischer und kultureller Identifikation. Ergebnisse des Integrationssurveys des BiB. (= Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Heft 105c.) Wiesbaden 2004; Alois Weidacher (Hrsg.), In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer, türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich. DJI Ausländersurvey, Opladen 2000; 13. und 14. Shell-Jugendstudie 2000 und 2002; Vgl. auch Hans-Joachim Roth unter Mitarbeit von Andreas Deimann und Uğur Tekin, "Das ist nicht nur für Deutsche, das ist auch für uns" - Politische Bildung für Jugendliche aus bildungsfernen Milieus unter besonderer Berücksichtigung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Expertise für die Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2005.
1. Die Kategorie "Kultur" als Charakterisierung von Unterschieden hat - zumindest für die Analyse gesellschaftlicher Inklusion und politischer Partizipation Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund - nahezu ausgedient: Angesichts der weitgehenden Diversifizierung der Lebenswelten dieser Jugendlichen ist der Rekurs auf kulturelle Unterschiede im Sinne nationaler Herkunftskulturen nicht mehr tragfähig. "Parallelgesellschaften" lassen sich als großflächiges Phänomen empirisch nicht nachweisen; "ethnische Nischen" sind tatsächlich Nischen, also Räume für wenige Personen: ohne zentrale Bedeutung für die jugendliche Lebensführung.
2. Die Konzepte der "Einwanderungsgesellschaft" oder der "multikulturellen Gesellschaft" erfassen die Lebenssituation nicht vollständig, insofern als "Heterogenität" oder "Diversität" nicht mehr einfach als Folgen von Einwanderungsprozessen verarbeitet werden. Für die Migrantenjugendlichen sind dies vielmehr selbstverständliche Phänomene ihrer gesellschaftlichen Erfahrung, die ihrerseits integrierende Kraft entfalten und neue Individualitäten erzeugen.
3. Der in den vergangenen Jahren häufig zu hörenden Rede von der "Krise des Nationalstaats" kann vielleicht mit der analytischen Kategorie einer Diversitätspolitik eine positive Perspektive entgegengestellt werden: Gerade im Kontext zunehmender mixing cultures innerhalb jugendlicher Lebenswelten erscheinen an nationalstaatlichen Kategorien orientierte Vorstellungen gesellschaftlicher und politischer Bildung wenig passgenau. Die zentrale Strategie für die Entwicklung des Nationalstaats war die Homogenisierung von Sprache, Bildung und Lebensformen. Die Lebensarrangements Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund zeigen aber deutlich die integrierende Kraft eines diversity management, das -jenseits biopolitischer Ressourceneffektivität - politische Partizipation auf der Grundlage hybridisierter (Mehrfach-)Zugehörigkeiten begünstigt. 1 Hingegen löst Homogenisierungsdruck tendenziell eher Rückzugstendenzen aus.
4. Gesellschaftliche Teilhabe und politische Partizipation stehen also immer im Kontext heterogener Lebensverhältnisse, welche die Ausbildung politischer Orientierungen und Praxen an sich nicht behindern. Einschränkend sind in dieser Hinsicht prekäre Lebenslagen, das heißt unsichere Aufenthaltsverhältnisse, unzureichende ökonomische Ressourcen, Bildungsbenachteiligung, mangelnde Unterstützungssysteme und soziale Vernetzung, Erfahrungen von Diskriminierung, Ausgrenzung und anderes mehr. Offenbar bedarf es des Zusammenkommens mehrerer dieser Faktoren, um einen Rückzug aus der Gesellschaft zu bewirken.
5. Im Kontrast dazu ist die hohe Zustimmung zur Demokratie im Allgemeinen wie auch zur Demokratie in Deutschland bemerkenswert. Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund - und eben auch solche, die zu den Bildungsbenachteiligten gezählt werden müssen - zeigen weitreichend zustimmende Haltungen gegenüber der in Deutschland herrschenden Verfassung und Regierungsform. Ihnen gelingt der Balanceakt, sich in einem politischen System aktiv zustimmend zu integrieren, dessen Gesellschaft ihnen in mancherlei Hinsicht weitaus weniger aufgeschlossen, zum Teil skeptisch bis offen ablehnend gegenüber steht, anstatt diese Zustimmung als Chance gesellschaftlicher Entwicklung aufzugreifen.
6. Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund weisen häufig "gebrochene Bildungsbiographien" auf. Bei vielen führt das - seit den 1990er Jahren wieder zunehmend - zu einem Abbruch von Bildungsprozessen, wobei manche zumindest statistisch noch in den Schleifen der berufsvorbereitenden Maßnahmen verschwinden ("Maßnahmenkarrieren"). Aber auch die "Bildungserfolgreichen" unter ihnen nehmen in der Regel keinen geraden Weg, sondern gelangen nur über Umwege zu ihrem Ziel - sei es aufgrund transmigratorischer Lebens- und Bildungssituationen, sei es aufgrund von Systemwiderständen im deutschen Bildungswesen.
7. Hinsichtlich der Partizipationspraxen scheint die Geschlechtszugehörigkeit eine bedeutende Rolle zu spielen. Auch bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind die Mädchen bei den Schulabschlüssen und den Leistungsergebnissen den Jungen überlegen. Die Aufgeschlossenheit für politische Partizipation ist aber bei den objektiv stärker bildungsbenachteiligten jungen Männern zum Teil ausgeprägter als bei den jungen Frauen; beispielsweise in der Gruppe mit türkischem Hintergrund. Diese Beobachtung sollen hier ausdrücklich einschränkend als "Suchbewegung" formuliert werden, da zum einen - insbesondere "bildungsferne" - Mädchen mit Migrationshintergrund zwar bessere Schulleistungen und -abschlüsse erzielen, aber bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen wieder stärker benachteiligt sind als die Jungen. Zum anderen müsste der Zusammenhang von Bildungserfolg und politischer Partizipation bei den jungen Frauen genauer und längerfristig untersucht werden, das heißt, es wäre zu analysieren, wie sich die "Bildungserfolgreichen" unter den Mädchen und Frauen in dieser Hinsicht weiter entwickeln, wenn die Konzentration auf die Bildungskarriere nach Stabilisierung der gesellschaftlichen Platzierung nachlässt.
8. In ihren Einstellungen, in der Praxis und im Verständnis dessen, was Politik ist, scheinen sich Jugendliche mit Migrationshintergrund von denen ohne einen solchen nicht wesentlich zu unterscheiden. Es dominiert ein "enger" Politikbegriff, der - entfernt von der eigenen Lebenswirklichkeit - vorrangig politische Vorgänge auf Bundesebene zielt. Politik ist demnach das, was die medial bekannten Politiker tun. Das Bewusstsein von Politik im Sinne der "Demokratie als Lebensform" (John Dewey) und der Gestaltung kommunaler Lebens- und Kommunikationsräume ist nicht stark ausgeprägt. Gerade diesen Räumen stellen sich jedoch die für die Jugendlichen wichtigen Fragen. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist die Frage des Vertrauens in das politische System durchaus auch abhängig von der ihnen entgegengebrachten Anerkennung ihrer sprachlich und kulturell diversen Lebenswelten - und vice versa von Erfahrungen der Ausgrenzung, Diskriminierung und des Rassismus.
9. Jugendliche mit Migrationshintergrund unterscheiden sich in ihrem politischen Habitus in Abhängigkeit von ihrer Bildungssituation: Für bildungsbenachteiligte Jugendliche scheint "die Politik" tendenziell weit weg zu sein - in Berlin oder anderen Hauptstädten stattzufinden; entsprechend gering ist die Einschätzung eigener politischer Wirksamkeit. Demgegenüber sind für bildungserfolgreiche Jugendliche auch kommunale politische Partizipationsmöglichkeiten wichtig, über die sie sich als handlungsmächtig erfahren können. Die Interessenentwicklung verläuft tendenziell andersherum: Bildungserfolgreiche Jugendliche interessieren sich für weitere Kreise von Politik und Gesellschaft, während die Interessen bildungsbenachteiligter Jugendlicher eher auf den sozialen Nahraum der Gemeinschaft gerichtet sind: Familie, Nachbarschaft, Freunde. Beiden gemeinsam sind hohe moralische Wertorientierungen.
10. Religiöse Orientierungen - das gilt auch für den Islam - haben bislang vor allem Bedeutung für die individuelle Lebensführung. Diese mag zwar hoch sein, aber insgesamt rangieren die religiösen Orientierungen bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund hinter gesellschaftlichen Belangen (wozu etwa die Schule zählt). Auch bei muslimischen Jugendlichen lässt sich die Entwicklung einer durch Orthopraxie - dem rechten Handeln im Alltag - gekennzeichneten Religion zu einer spezifischen Innerlichkeit und Individualisierung von Glauben als reflexive Modernisierung beobachten. In diesem Zusammenhang scheinen - vor allem über die Schule vermittelte - Bildungsprozesse die Entwicklung einer subjektivierten Religiosität maßgeblich zu beeinflussen, die auch Hoffnung auf eine präventive Wirkung gegenüber fundamentalistischen Neigungen gewährt.
11. Generell ist von einem Zusammenhang von Bildungsbeteiligung und gesellschaftlicher und politischer Partizipation auszugehen. Damit ist aber nicht gesagt, dass bildungsbenachteiligte Migrantenjugendliche keine politische Position einnähmen. Gegebenenfalls ist hier in Rechnung zu stellen, dass diese Gruppe aufgrund weniger weit entwickelter sprachlicher Kompetenzen - sowohl im Sinne sprachlicher Mittel wie auch im Sinne der Verfügung über die legitimen kommunikativen Codes gesellschaftlichen und politischen Sprechens - entsprechende Angebote nicht nutzen kann und daher den Habitus der Unterschichtung defensiv übernimmt.
12. Tendenziell ist aber auch eine - individuell erarbeitete - Auflösung des Zusammenhangs von Sozialstatus und Bildungserfolg zu erkennen: Das gilt insbesondere für eine Gruppe junger Frauen mit Migrationshintergrund. Diese haben offenbar Arrangements entwickelt, die es ihnen erlauben, im Spannungsfeld von divergierenden Anforderungen (etwa zwischen Elternhaus und Schule) einen sozialen Aufstieg vorzubereiten, ohne mit den sprachlichen und kulturellen Kontexten ihrer Herkunft brechen zu müssen. Dieser Gruppe gelingt der Übergang aus so genannten bildungsfernen Familien zum Bildungserfolg.
13. Augenscheinlich entwickeln Jugendliche mit Migrationshintergrund eigene Integrationsstrategien, die es ihnen ermöglichen, trotz schlechterer materieller Lage und geringerer Bildungschancen - so etwa in der Schule - eine hohe Lebenszufriedenheit und eine höhere Systemfunktionalität zu realisieren. Diese Strategien wären genauer zu untersuchen, da sie ggf. ein Potenzial sozialer Bindekräfte bergen, das ansonsten in der Diskussion über politische Partizipation und Bildung als eher "im Schwinden" betrachtet wird.
14. Im Zusammenhang mit heterogenen Lebenswelten und gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist die Frage von Zwei- und Mehrsprachigkeit ein wichtiger und bislang nicht hinreichend beachteter Faktor. Viele Jugendliche leben und agieren in der Regel in zwei- oder mehrsprachigen Kontexten. Anstelle von Anerkennung der nicht selten vorhandenen mehrsprachigen Kompetenzen (als Beitrag zum Aufbau zum Beispiel einer europäischen Bildung, die von jedem drei Sprachen erwartet) erfahren sie primär Defizitzuschreibungen und einen (sich gerade in jüngerer Zeit verstärkenden) homogenisierenden Anpassungsdruck.
1 Anmerkung der
Redaktion: siehe hierzu auch den Beitrag von Naika Foroutan/Isabel
Schäfer, Hybride Identitäten - muslimische Migrantinnen
und Migranten in Deutschland und Europa, in diesem Heft.