Wilhelm II.
Die Urteile der Biografen über die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers gehen noch immer weit auseinander
War er treibende Kraft oder ein Getriebener? War er Fantast oder Realist? War er Friedenskaiser oder Kriegshetzer? Die Urteile der Historiker über den letzten deutschen Kaiser tendieren noch immer zu der einen oder zu der anderen extremen Position. Zwischen diesen Polen bewegt sich der junge Cambridge-Professor Christopher Clark. Seine Biografie über Wilhelm II. erschien bereits vor acht Jahren. Damals nahmen höchstens seine Landsleute und hierzulande vorwiegend Fachpublikum die brillante Charakterstudie wahr. Nicht zuletzt wegen des großen Erfolgs seines "Preußen"-Bestsellers im vergangenen Jahr und des 150. Geburtstags des Hohenzollers am 27. Januar dieses Jahres liegt sie jetzt aktualisiert in deutscher Fassung vor.
Rechtzeitig zu diesem Jubiläum hat sich auch sein britischer Kollege John C. G. Röhl beeilt, den dritten und letzten Band seiner Wilhelm-Biografie zu veröffentlichen. Wie die beiden ersten Teile: in punkto Seitenumfang, Quellenmenge und Detailreichtum ein wahres Schwergewicht, mit dem er nachhaltig beweisen möchte, dass allein der Kaiser für Deutschlands "Weg in den Abgrund" verantwortlich war. Eine These, die seit Wolfgang Mommsens, Thomas Nipperdeys und Hans-Ulrich Wehlers differenzierten Gesamtdarstellungen zum Kaiserreich in ihrer Radikalität befremdlich anmutet.
Ganz im Gegensatz dazu versucht Clark, mit seiner abwägenden Argumentation "Verunglimpfung und Verständnis wieder in die richtige Balance" zu bringen. Er deutet Wilhelms widersprüchliche Persönlichkeit und Alleingänge im Rahmen des komplexen Machtgefüges. Der selbstherrliche wie auch herrische Monarch tritt uns hier als unberechenbarer und wankelmütiger Charakter entgegen, der niemals ein durchdachtes politisches Programm formulieren und durchsetzen konnte. Wilhelms Triebfeder war die "Lust an der Machtausübung" und sein unstillbarer Wunsch, als Vermittler und Versöhner, quasi als nationaler Übervater zu agieren. Doch sein Handlungsspielraum wurde von den anderen Figuren auf dem politischen Schachbrett und der Verfassung massiv beschränkt und beeinflusst. Mehr oder minder von seinen Reichskanzlern, immer stärker aber vom Reichstag, den Parteien und Verbänden sowie von den Einflüsterungen serviler Höflinge. Angesichts dieses ebenso dynamischen wie differenzierten Entscheidungsapparates und seines mangelnden politischen Instinkts konnte vom "persön- lichen Regiment" in der Praxis nie uneingeschränkt die Rede sein.
Ohne Zweifel hat Wilhelm mit der Absetzung des bis 1890 quasi allein regierenden Bismarck seinen absoluten Herrschaftsanspruch deutlich gemacht. Schon bald aber zeigte sich, dass er den sozialen Frieden zwischen Arbeitern, Unternehmern und Aristokratie nicht herzustellen und die konfessionelle Kluft zwischen Protestanten und Katholiken im Reich nicht zu überbrücken vermochte. Trotz der Ernennung ihm genehmer Minister und Beamter stieß Wilhelm mit seinen heftig umstrittenen Gesetzesinitiativen, etwa zur Finanz- oder Militärreform, immer wieder auf die Gegenwehr des Reichstags. Auch die von ihm eingesetzten Reichskanzler Bülow oder Bethmann Hollweg unterliefen bisweilen seine konfliktträchtigen Vorstöße geschickt.
Auf außenpolitischem Felde gelang ihnen das oft nur mit Mühe und nicht immer mit Erfolg. Doch obwohl ihm der direkte Draht zu den europäischen Adelshäusern, sein Recht zur Ernennung von Botschaftern und seine Position als Oberbefehlshaber der Streitkräfte außenpolitisch großes Gewicht verliehen, attestiert Clark dem Monarchen nur einen geringen Einfluss auf die entgültigen diplomatischen Entscheidungen. "Die Initiative für die Ausarbeitung einer politischen Linie und die Planung ihrer Umsetzung blieb beim Auswärtigen Amt", resümiert Clark. Mit seinen skandalösen Äußerungen im Daily Telegraph 1908, seinem taktlosen Auftreten und seinen Weltmachtsgelüsten hat er die Isolation Deutschlands kräftig vorangetrieben, den außenpolitischen Kurs des Kaiserreichs aber niemals allein bestimmt. Dass sich Russland, Großbritannien und Frankreich von Deutschland distanzierten, hatte viele Gründe. Einer davon war sicher die unberechenbare Diplomatie des Kaisers und seine konfrontative Flottenpolitik. Schwerer wiegt für Clark die außenpolitische Konfusion nach dem Zusammenbruch des Bismarckschen Bündnissystems, die von den nachfolgenden Reichskanzlern nicht mehr beherrscht wurde.
Auch Wilhelms Verhalten während der Julikrise 1914 und seine Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs relativiert Clark stärker als die meisten anderen Interpreten. Anhand zahlreicher Quellen entkräftet er überzeugend die weitverbreitete These von Wilhelm als maßgeblichem "Kriegshetzer". Noch bis kurz vor der Mobilmachung am 1. August hoffte der sich selbst gern als "Friedenskaiser" bezeichnende Monarch, den Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn diplomatisch oder zumindest lokal lösen zu können. Allen vorherigen Drohgebärden gegenüber den Serben und dem fatalen "Blankoscheck" für die k.u.k.-Monarchie zum Trotz. Wilhelms Schuld bestand vor allem darin, den Friedenskurs gegenüber seinen kriegsbereiten Militärs nicht konsequent genug vertreten zu haben.
Solch ein abgewogenes und mitunter vielleicht auch zu mildes Urteil über Wilhelm sucht man in Röhls Darstellung vergebens. Nahezu jede zitierte Quelle und fast jedes Statement gleichgesinnter Historiker zielen auf die Haftbarmachung Wilhelms für die desaströse Weltmachtspolitik seit 1900. Wenn man die abenteuerlichen Einlassungen des Kaisers und die erschrockenen Erwiderungen seiner zeitgenössischen Kritiker für sich betrachtet, glaubt man zeitweise wirklich an die "Alleinschuld" des Kaisers. Was die seitenlangen Zitate aber vor allem zeigen, ist das facettenreiche Porträt eines Mannes, der laut zeitgenössischer Diagnose eines angesehenen Seelenarztes ein "typischer Fall periodischen Gestörtseins" war. Dass die psychische Labilität des Kaisers sich im außenpolitischen Zickzackkurs widerspiegelte, steht außer Frage. Röhl versäumt es aber vielfach, diplomatische Entscheidungsprozesse abseits der Herrschertreffen und des Herrscherwillens zu beleuchten. Den Absichten und Aktionsradien der Reichskanzler misst er ebenso selten Bedeutung bei wie der öffentlichen Meinung, in der die Kriegsbereitschaft angesichts eines maßlos übersteigerten Nationalismus immer weiter wuchs.
Wilhelm II. brachte das deutsche Staatschiff nicht allein zum Kentern. Dazu bedurfte es einer ganzen Mannschaft, deren Mitschuld bei Röhl vor allem darin bestand, aus "Opportunismus und Feigheit" nicht gemeutert zu haben. So pauschal lassen sich die politischen Prozesse im Wilhelminischen Deutschland im Lichte neuerer sozial- und kulturhistorischer Forschungen nicht mehr deuten. Im "Zeitalter der Nervosität" (Joachim Radkau) war der reibungsreiche Übergang von der Tradition zur Moderne in der ganzen Gesellschaft zu spüren. Dass sich dieser Zwiespalt in Wilhelms Charakter am deutlichsten und auch am verhängnisvollsten manifestierte, lässt das "persönliche Regiment" in anderem Licht erscheinen. Das bemerkenswert quellenreiche wie ereignisgeschichtlich fundierte Werk von Röhl hätte durch solch eine erweiterte Perspektive an Schärfentiefe gewonnen. Vor allem aber an wissenschaftlicher Gerechtigkeit gegenüber Wilhelm und seiner Zeit. Genau dies ist Clark gelungen, der die widerstreitenden Thesen genau gegeneinander abwägt und daraufhin alternative Ansichten und Anmerkungen zur Diskussion stellt.
Selten ist ein Biograf dieser umstrittenen Persönlichkeit und komplexen Epoche so gerecht geworden wie Christopher Clark. Genauso selten findet man heute jedoch eine Biographie wie die von Röhl, welche zwar faktisch, kaum aber gedanklich etwas Neues zu bieten hat.
Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008; 414 S., 24,95 ¤
Verlag C.H. Beck, München 2008; 1.611 S., 49,90 ¤