Sich vorzustellen, wie die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen vor mehr als zwanzig Jahren aussahen, ist heute nicht mehr ganz leicht. Die Jahrzehnte haben manches verwischt, begradigt oder ganz erledigt und lassen insgesamt jedenfalls leichter erscheinen, was damals noch von höchster, folgenschwerer Bedeutung war. Wer sich etwa vergegenwärtigt, was in den späten 1980er Jahren die Kommunikation wie den Dissens zwischen Wissenschaftlern bestimmte, die sich mit der Literatur aus der DDR befassten, wird rückblickend vermutlich staunen - und er wird andererseits die hernach mit eisernen Bandagen und wie aus heiterem Himmel geführten "Staatsdichter"- und "Stasi"-Debatten besser verstehen. Begreifen wird er dabei in der Rückschau schließlich auch, weshalb eine so kurios wie freundlich anmutende Benennung wie die vom "Leseland DDR" schon deutlich vor 1989 die Literatur-Spezialisten in letztlich unversöhnliche Lager teilte.
Es war an einem Abend im Spätherbst oder Frühwinter der späten 1980er Jahre. In einem Tagungshaus am Waldesrand saßen DDR-Literatur-Forscher zusammen, leicht ermüdet, aber jetzt auch entspannt: Sie hatten ihr alljährliches Treffen mit Debatten zu den Literaturverhältnissen in der DDR eben hinter sich gebracht, die wie immer kontrovers verlaufen, daher aber auch durchaus produktiv gewesen waren. Nun hockte man noch in kleinen Runden beieinander und plauderte über dies und das, als einer der wenigen Gäste aus der DDR, ganz harmlos und wie nebenbei, in einem Satz das Wort "Leseland" fallen ließ: "Wir in unserem Leseland`", sagte er etwa, oder "bei uns im Leseland`" - ob da ein ironischer Unterton mitschwang oder nicht, war nicht auszumachen, und eigentlich war es auch, nach all den Diskussionen des Tages, gar nicht mehr so wichtig.
Kaum aber war dieses Stichwort an ihr Ohr gedrungen, erhob sich am Tisch einiger jüngerer Wissenschaftler aus dem Westen Gezischel und Getuschel. Was denn das sein solle, war zu hören: ein "Leseland"?! Ob nicht vielmehr "Legoland" gemeint sei, ein geistiger Abenteuerspielplatz für brave Kinder, deren Eltern ihnen von Zeit zu Zeit einen organisierten Ausflug ins Reich bunter und phantastischer Heldentaten gestatteten? Eine Sache also, so recht gemacht für eine Erziehungsdiktatur, in der selbst diejenigen, deren Arbeitsgegenstand doch die Worte seien, sich von leicht durchschaubaren Euphemismen hinters Licht führen ließen oder sich doch wenigstens, wie der Kollege hier, diesen Anschein gäben: brave Kinder, die auf weitere Belohnung rechneten. Das Volk hingegen sei da schon längst viel schlauer, realistischer eben, und schaue Westfernsehen. Und so weiter!
Das war nicht sehr freundlich, und entsprechend zeigte niemand Lust, diesen Angriff auf Benennungen und deren politische, gesellschaftliche Bedeutung weiter zu verfolgen. Klar war dabei allerdings auch: Die eigentlichen Adressaten des polemischen Hiebs waren gar nicht die wenigen Kollegen aus der DDR - Abgesandte jenes "Leselands", von denen man folglich ohnedies nur Apologetisches erwarten konnte. Die eigentlichen Adressaten waren vielmehr die West-Forscher im Raum mit ihren möglicherweise immer noch hartnäckig haftenden Illusionen über das Wesen des "real existierenden Sozialismus", mit ihrer versöhnlerischen Haltung einem diktatorischen System gegenüber, denen ein so niedliches Wort wie das vom "Leseland" daher womöglich gerade recht kam: Unter dessen kuschelig-weitem Mantel konnte vieles verschwinden. Und genau dazu war der Terminus - Anfang der 1980er Jahre von niemand anderem als dem Zensur-Minister der DDR, Klaus Höpcke, offiziell ins Spiel gebracht - ja vermutlich auch gedacht.
Die einseitige und kurzzeitige Aufwallung abends beim Bier, unter Gegenwartsliteratur-Spezialisten aus der DDR und der Bundesrepublik, kam mir schon damals nicht zufällig vor: Es ging hier immer um Bilder - von der Gesellschaft, der Politik und den Bürgerinnen und Bürgern der DDR, um solche nicht zuletzt, die Autorinnen und Autoren in ihren literarischen Texten entwarfen. Und es ging, im Zusammenhang damit, um Hoffnungen oder auch Illusionen, die unter dem schon einige Jahre vor dem Fall der Mauer von einigen streng inkriminierten Begriff "Utopie" zusammengefasst wurden - von den einen wurde sie als philosophische Leitgröße heftig bekämpft und in immer neuen Nachweisen über das wahre Wesen des real existierenden Sozialismus scheibchenweise demontiert; von den anderen wurde sie als ein die Ost- und West-Vertreter vereinendes größtes gemeinsames Vielfaches, als ein alle Kontroversen letztlich immer wieder entschärfendes Wort-Fähnlein im Ideen- und Gedankengefecht hochgehalten. Für alle drei Seiten: für die ideologisch gespaltenen West-Kollegen wie die unvermeidlich als Vertreter ihres sozialistischen Staates angesehenen Ost-Forscher hing viel an diesem Begriff; ins Verniedlichende gewendet und so verkleinert, kehrte er auch im Reden vom "Leseland" noch einmal wieder, daher die polemische Heftigkeit der Gegenredner.
Was an der "Utopie" hing, war freilich nicht nur ein verästeltes, traditionsreiches Theorien- und Gedankengebäude, es war auch die ganz konkrete, noch unentschiedene Zukunft der Diskutanten selbst. Diejenige der Kollegen aus der DDR zunächst: Wie, unter welchen Bedingungen und mit welchem Erfolg würden sie in ihrem programmatisch besseren halben Deutschland ihre Arbeit fortsetzen, wenn die großen und ehrenwerten Ziele weiterhin nur auf dem Papier standen, ja, durch die Handlungen der Staats-Organe selbst immer wieder blamiert, ad absurdum geführt wurden? Dass es diesen Kollegen tatsächlich um eine bessere Welt ging, deren Grundwerte sich von ihrer marxistischen Ideologie ableiteten, daran war nur in sehr wenigen Fällen zu zweifeln.
Oberflächlich nicht viel anders - grundlegend anders allerdings, was die materiellen wie ideellen Bedingungen in der Bundesrepublik anlangte - schien auch die Lage der westdeutschen Kollegen zu sein; nicht wenige von ihnen stammten aus der Studentenbewegung. Im Zusammenhang mit der "Utopie" hatten sie anhand der Literatur der DDR einerseits, in aller wissenschaftlichen Strenge, das Verhältnis von Theorie und gesellschaftlicher Praxis zu überprüfen. Andererseits war dabei zugleich immer auch etwas zu verteidigen: Auch aus ihrer Perspektive ging es um eine bessere Welt - wobei die DDR in ihrer realen Existenz sich für die meisten schon längst als eine nicht einmal gute erwiesen hatte, vielmehr als entgleister Entwurf vor einem für nicht wenige mittlerweile auch selbst fragwürdig gewordenen "Utopie"-Hintergrund. Eigene frühere - oder durchaus auch noch gegenwärtige - Hoffnungen und Ziele also standen hier immer mit auf dem Prüfstand.
Noch einmal anders schließlich aber der Nachwuchs, der die von einer Gesellschafts-"Utopie" ausgehende Analyse des Verhältnisses von Theorie und Praxis von einem ganz anderen Boden aus anging und in den entsprechenden Debatten immer auch seine eigene Zukunft (als künftige Hochschullehrer) verteidigte, der er hier oft zuallererst eine Gasse zu bahnen versuchte. So gesehen, handelte es sich bei den Auseinandersetzungen um scheinbar nichts als terminologische Fragen immer auch um einen Kampf gegen die Väter, um deren Versagen in der Theorie wie in der Praxis, geführt als Kampf um die Hegemonie in diesem kleinen geisteswissenschaftlichen Teildiskurs.
Eine Gemengelage war das, deren potentielle Explosivität nicht gering zu schätzen war - zumal bei alledem immer noch mitgedacht werden musste, dass die Wissenschaft von der DDR-Literatur innerhalb der Germanistik, die das gemeinsame Dach aller drei Kohorten bildete, im Westen kein allzu hohes Ansehen genoss. Die Gründe hierfür waren übersichtlich: Das Forschungsgebiet war nicht abgeschlossen - noch gab es die DDR, und die veränderte sich, nicht anders als die Literatur, die zu ihr gehörte -, überdies aber handelte es sich um einen Gegenstand, aus dem die Politik nicht einmal wegzudenken war. Handelte es sich also überhaupt um wissenschaftliches Arbeiten im strengen Sinne, wenn man sich an einem Objekt zu schaffen machte, das, wie die Literatur der DDR, programmatisch derart mit Außerliterarischem aufgeladen, das primär in einem politischen Funktionszusammenhang zu sehen war? Wurden da nicht vor allem Meinungen produziert, Bekenntnisse abgelegt, zumal ja empirische Recherchen und also auch Beweise für bestimmte Hypothesen wegen der Unzugänglichkeit des zu erforschenden Territoriums für West-Wissenschaftler nicht zu erbringen waren?
Solche Grundvoraussetzungen waren nicht dazu angetan, die intern ohnedies prekäre Gemengelage zu entschärfen: Es ging einfach immer um allzu vieles auf einmal. Und nur vor dem Hintergrund dieses vielfach verwickelten Knäuels von Interessen, Gebundenheiten und Zwängen kann überhaupt nachvollziehbar werden, weswegen die auf den ersten Blick nichts als flapsige "Legoland"-Attacke gegen die beiläufige Rede vom "Leseland" doch weit mehr war als dies: eine Kriegserklärung, die wie in einer Nussschale all die Debatten-Aufregungen der Nach-"Wende"-Zeit schon in sich hatte.
Mir selbst war die Wendung vom "Leseland" immer teils lächerlich, teils ärgerlich erschienen, und als ich die Kollegen an jenem Abend so hämisch übers "Legoland" herfallen hörte, kam es mir nur folgerichtig vor, dass meine eigene Assoziation immer "Lummerland" gewesen war: Beide Orte, fiktiv der eine und gegen Eltern-Geld in der Wirklichkeit aufzusuchen der andere, waren für Kinder geschaffen worden - offensichtlich hatten einige Westler damals das Gefühl, hier werde dem DDR-Volk von seiner väterlich-wohlwollend-spendablen Obrigkeit etwas so Nettes wie Erbauliches hingestellt: aus der Phantasie stammend, fürs Phantasieren gemacht, ohne realen Boden. So viel aber die Kollegen-Metapher vom knillebunten Abenteuergelände "Legoland" auch für sich hatte, Szenerie und Population von Michael Endes 1960 erschienenem Kinderroman "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" erfassten in meinen Augen doch noch weit mehr Elemente des angeblich real existierenden "Leselands". Setzte man sich dieses nämlich anhand von Endes "Lummerland" - und im weiteren Verlauf des Buches dann auch von dessen "Kummerland" - zusammen, ergab sich eine erstaunliche Anzahl von Kennzeichen, die dem vermeintlichen DDR-Lektüreparadies tatsächlich innewohnten. Und, ganz wie im Roman, mit Recht einiges Schaudern hervorriefen - nur, dass es sich beim "Leseland" eben nicht um ein reines Phantasiegebilde, sondern um eine tückische Mischung aus Phantasterei und beklemmender Wirklichkeit handelte.
Das "Lummerland" ist in Endes Roman so klein, "dass man sich vorsehen musste, die Landesgrenzen nicht zu überschreiten, weil man dann sofort nasse Füße bekam". Diese Kleinheit ist ein Problem, das alsbald weitere Probleme schafft - die aber haben nicht nur mit der geringen Ausdehnung der Landmasse, sie haben vor allem mit Kleinlichkeit und Kleingeisterei zu tun: mit dem beengten Horizont des Machthabers. Eines schönen Tages nämlich, so erzählt der Roman, wird der kleine Jim Knopf, ein Kind dunkler Hautfarbe, in einem postalisch fehlgeleiteten Paket auf der Insel Lummerland angeliefert. Zwar findet er in der Ladenbesitzerin Frau Waas eine Ziehmutter und in Lukas, dem aufgrund seines Berufs immer rußgeschwärzten, Jim folglich farblich ähnelnden Lokomotivführer, einen verlässlichen Freund. Doch dann verfügt der beschränkte Herrscher des Eilands, König Alfons der Viertel vor Zwölfte, dass der herangewachsene Jim die Insel zu verlassen habe. Die Begründung: Sie werde andernfalls zu voll. So machen Jim und Lukas die Lokomotive Emma seetüchtig und brechen zu fernen Gestaden auf: ins Reich Mandala und von dort in die Drachenstadt Kummerland. Diese liegt jenseits eines unüberwindlichen Gebirges und ist nur zu erreichen, wenn man eine Wüste mit Namen "Ende der Welt" durchquert, in der Scheinriesen und Halbdrachen ihr Unwesen treiben. Der bei weitem grausigste der reinrassigen Drachen von Kummerland aber ist Frau Mahlzahn, die sich kleine Kinder fangen lässt, um sie in ihrer Schule einer Erziehungstortur zu unterziehen: Angstmache und Drill, kurz, Schwarze Pädagogik sind die Säulen ihrer Schreckensherrschaft.
Ein "Land, das nicht sein darf" gibt es aber schließlich auch; hier leben, gegen alle anderen Territorien sowie mögliche Eindringlinge verschanzt, die Piraten. Sie haben sich selbst (nach einem kleinen Rechenfehler) den Namen "Die wilde 13" gegeben und beliefern die Erziehungsdiktatorin Mahlzahn für Bares mit frischem Kindermaterial - das Reich des Bösen schlechthin ist dies "Land, das nicht sein darf": Von hier aus auf Beutezug in See stechend, schlagen dessen Einwohner buchstäblich Kapital aus wehrlosen Lebewesen, und ungebildet und dumm ist diese "Wilde 13" natürlich auch noch.
Während Michael Endes Kinderbuch mit dieser Vorstellung eine drastische Kapitalismuskarikatur entwirft (die ebenso gut im "Leseland" Erich Honeckers und Hermann Kants hätte entstanden sein können), passte alles Übrige in meinen Augen erschreckend gut auf die DDR der späten Jahre. Mit einigen gravierenden Unterschieden zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und literarischer Phantasie freilich: Im Lichte von "Lummer-" und "Kummerland" gesehen, ergab plötzlich das zunächst nachgerade einladend klingende "Leseland" ein umso erschreckenderes Bild.
Dass etwa, wer aus Übermut, Unbedachtheit oder gar Wanderlust die Grenzen des kleinen Landes übertrat, in der DDR beileibe nicht nur mit nassen Füßen zu rechnen hatte, sondern um sein Leben fürchten musste, war Allgemeinwissen seit 1961. Und Honecker in der Rolle des beschränkten Königs Alfons des Viertel vor Zwölften zu sehen, stellte sich als eine ebenfalls nur scheinbar harmlose Vorstellungsübung heraus. Geschah es doch auf sein Geheiß, dass diejenigen, die - freilich nicht aus räumlichen, sondern aus politischen Gründen - seiner Ansicht nach nicht mehr in sein Ländchen hinein passten, nach dem November 1976, der Ausweisung Wolf Biermanns, nicht anders als Jim Knopf und Lukas das Weite zu suchen hatten. Scheinriesen und Halbdrachen - Riesen also, die nur aus der Ferne als solche erscheinen, und Drachen, deren Gefährlichkeit zu ihrem eigenen Leidwesen ebenfalls nicht ihrem schaurigen Ruf entspricht -, schienen das "Leseland" ebenso wie "Das Ende der Welt" im Kinderbuch zu bevölkern; und wurden in beiden Fällen besser nicht unterschätzt.
Um wie viel mehr jedoch galt dies für die furchterregende Frau Mahlzahn, die sich in Kummerland eine Erziehungsdiktatur geschaffen hatte, der die ihr Ausgelieferten schlichtweg nicht entkommen konnten. Hier wurden schon früh Lebensgeschichten verbogen, Individuen in die drakonische Schule von Verbot und Strafe genommen, der freie Wille des Einzelnen wo irgend möglich gebrochen: Wer dem Mahlzahn-Regime unterworfen war, hatte für eine Entwicklung gemäß seinen Talenten, Wünschen und Plänen kaum noch eine Chance, es sei denn, er passte sich den Gehorsams-Anforderungen bedingungslos an - allgemeine Merkmale, die das Erziehungssystem der DDR sowie dessen Folgen ziemlich genau trafen. Einen großen Vorzug schienen Michael Endes "Lummer-" wie "Kummerland" freilich vor dem vermeintlichen Dorado der realsozialistischen Lesefreunde zu haben: Was Kummer verursachte, war im Buch ohne Umschweife auch so benannt. Und dass es sich dort nur um Hervorbringungen der Phantasie, nicht um Lebenswirklichkeit handelte, war zweifellos ein Glück.
So wenig das "Leseland" als realpolitische Erscheinung mit kuscheliger Gemütlichkeit gemein hatte, so deutlich erwies sich andererseits das phantastische Element der Bezeichnung, nahm man nur den Namen selbst beim Wort - wer es ernst nahm und dabei zugleich auf die DDR-Realität blickte, musste unweigerlich feststellen, dass die Bezeichnung "Leseland" weniger noch als ein Euphemismus eine zynische Täuschung war. Denn dass die Literatur dort eine Ersatzöffentlichkeit darstellte, die je länger, desto entschiedener gegen die "parteilich" ausgewählten Themen und Meldungen der Medien wie auch gegen deren Desinformationsbestrebungen auftrat, war im Westen wie im Osten gleichermaßen bekannt. Wer in der DDR schöne Literatur las, war damit also keineswegs unbedingt als Liebhaber der Belletristik ausgewiesen. Er gab sich vielmehr zunächst als ein an bestimmten gesellschaftlichen Themen Interessierter zu erkennen - in den späteren Jahren waren dies etwa Fragen der Ökologie, der Geschlechterbeziehungen, die gewaltsame Auseinandersetzung anstelle der diskursiven sowie die Ausgrenzung des Abweichenden, nicht selten mit tödlichen Folgen. Die Literatur war in der DDR die längste Zeit der einzige öffentliche Ort für Gegenstimmen zum offiziell verordneten, technikfixierten Fortschritts-Optimismus.
Wer aber die entsprechenden Bücher - etwa Christa Wolfs "Störfall" oder deren "Kassandra"-Erzählung mitsamt den in Frankfurt am Main gehaltenen Vorlesungen - lesen wollte, stieß, nicht verwunderlich, auf Schwierigkeiten bei der Beschaffung. Nicht nur waren die Themen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, die Bücher, in denen sie ersatzweise zu finden waren, gehörten zum Spezialsegment der so genannten Bückware. Wer kein persönliches Verhältnis zu seiner Buchhändlerin unterhielt, konnte die Lektüre von Prosa wie "Kein Ort nirgends" vergessen: Für ihn würde die Verkäuferin sich nicht nach dem vor allgemeinem Zugriff unter dem Ladentisch verborgenen Exemplar niederbeugen. Dass Lesungen derjenigen Autoren, die nicht den ideologischen Katechismus des Staates bebilderten, zu nachgerade kultischen Veranstaltungen avancierten, kann da nicht weiter wundernehmen. Doch nicht nur der Beschaffung der Lektüre, auch der Veranstaltung von Lesungen (und den Diskussionen hernach) waren staatswillkürliche Grenzen gesetzt.
Wobei, wie man ebenfalls allerorts wusste, die Bücher, die in die Läden kamen, einen mehrstufigen Zensurierungsprozess bereits durchlaufen hatten - der entsprechenden Behörde, der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Ministerium für Kultur, stand niemand anderer vor als der Erfinder des Slogans vom "Leseland", Klaus Höpcke. Was da in Manuskripten geändert und gestrichen werden musste, bevor die Werke die Öffentlichkeit erreichten, wie viel Papier einem Buch zugeteilt, eine wie hohe Auflage ihm also gestattet wurde, erfuhr der gemeine Leser natürlich nicht; und ebenso wenig, wie viele und welche Bücher erst gar nicht die Zensurschranken passierten oder für Jahre ungedruckt liegen bleiben mussten; bis die Zensoren hofften, das Thema sei entschärft, und daher endlich die Druckgenehmigung erteilten. Dass in der DDR ein mit der herrschenden Linie nicht in allen wesentlichen Stücken konformes Buch zu veröffentlichen eine Berg- und Talfahrt mit ungewissem Ausgang für Werk und Autor war, wusste jeder: Das "Leseland" war ein Bücher-Auslese-Land - und dies betraf natürlich auch all die literarischen Werke aus früheren Zeiten - Kafka! - oder von Gegenwartsautoren, die man im Hinblick auf die weitere Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft für ungeeignet oder gar schädlich hielt. Die Prosa von Uwe Johnson etwa konnte in der DDR bis zu deren Ende nur lesen, wer ihrer durch Bücherschmuggel aus dem westlichen Ausland habhaft geworden war: Literatur als Kassiber, eine Gefängnis-Perspektive aufs geschriebene Wort.
"Unsere Menschen", wie es im grotesk paternalistischen Sprachgebrauch der Herrschenden hieß, mussten vor bestimmten literarischen Werken mithin offenbar eher geschützt werden, als dass man sie ungehindert ins Lektüreparadies einlassen konnte - auf die "Ingenieure der Seele", als welche Stalin die Schriftsteller einst bestimmt hatte, war schon in der vom Dichter-Kulturminister Johannes R. Becher proklamierten "Literaturgesellschaft" kein Verlass gewesen; in der Spätphase der DDR war es unter den intellektuellen und literarisch ambitionierten unter ihnen mit der blinden Gefolgschaft dann endgültig vorbei.
Wie es den Autoren in diesem Prozess erging, erfuhren deren Leser dabei nur in den seltensten, krassesten Fällen. Sie konnten sich ihren Reim darauf aber spätestens machen, wenn wieder ein Autor die DDR verlassen hatte, sei es mit einem auf Jahre gültigen Visum oder gleich auf Nimmerwiederkehr. Mehrere Seiten füllt allein die Aufzählung der Namen von Autoren, die nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 das Land verließen. 1 Das "Leseland" sorgte nicht nur für eine staatlich reglementierte Buchzufuhr und deren Inhaltskontrolle; es sorgte überdies für die Ausfuhr von unbequem gewordenen Autoren ins "feindliche Ausland". Nach einer durchgreifenden "Säuberung" im Schriftstellerverband der DDR auf die Tatsache angesprochen, dass nun wohl bald kein namhafter Autor mehr dort geführt werde, sagte eine drittklassige Parteischriftstellerin kess: "Dann sind jetzt eben wir die Weltliteratur!" Die Regenten gaben sich nicht nur Mühe, das Reich der Literatur im Griff zu behalten - sie senkten, indem sie dies taten, auch noch nach Kräften das literarische Niveau.
Dies alles war auf beiden Seiten der Mauer bekannt. Wohl den wenigsten Westdeutschen hingegen dürfte bis zum Fall der Mauer und der einige Jahre später beginnenden Aufarbeitung der Stasi-Akten bewusst gewesen sein, welchen Einfluss das Ministerium für Staatssicherheit der DDR bereits auf die Entstehung von Literatur genommen, mit welch einem flächen- und personendeckenden Netzwerk der Spitzelei, Einschüchterung und Bedrohung es die Literaturszene des Landes überzogen hatte - das "Leseland" war ein Mit-Lese-Land in einem viel umfassenderen Sinne als geahnt. Und in der Tat fragten sich nicht wenige der westdeutschen DDR-Literatur-Spezialisten in späteren Jahren, mit wem sie da eigentlich auf Ost-West-Zusammenkünften gesprochen hatten und vor wessen Augen wie Ohren das im vermeintlich persönlichen Gespräch Geäußerte wohl gekommen sein mochte. Ebenso wurde erst Jahre nach der "Wende" offenbar, dass der realsozialistische Staat sich mithilfe von zu Stasi-Agenten umgebauten Autoren eine ganze neue Literaturszene zu pflanzen versucht hatte. Angeführt von Figuren wie Sascha Anderson oder Rainer Schedlinski sollten gerade die jungen wilden Literaten vom Prenzlauer Berg zu einer Art Scheinriesen herangezüchtet werden - von Ferne wie frei und unzähmbar agierende Autoren wirkend, hätten gerade sie, wäre der Plan erfüllt worden, direkter als alle anderen an den Marionettenfäden der Staatsmacht gezappelt.
In der Vorstellung vom reibungslos ineinander greifenden Handlungs- und Herrschaftsgefüge zwischen der Erziehungsdiktatorin "Frau Mahlzahn" und ihrer immer neue Opfer heranschaffenden "Wilden 13" hatte nicht nur in Endes Roman der unbekannte Dritte: die Geheimpolizei, gefehlt. Was da im literarischen Leben der DDR in deren letzter Phase vor sich ging, es war in seinem ganzen Ausmaß weder von innen noch von außen wahrgenommen worden. Erst musste der Staat zusammenbrechen, um sichtbar werden zu lassen, was das freundliche Etikett "Leseland" im Grunde war: eine sozialistisch-realistische Variante des Orwell'schen "Neusprech". Zu lachen gab es darüber nichts mehr.
Doch auch ohne die späte Enthüllung der Stasi-Staats-Literatur-Aktion: Hätten die so ernsthaft debattierenden Wissenschaftler in ihrem Tagungshaus am Waldesrand nicht schon zuvor eins und eins zusammenzählen, hätten sie nicht - und sei es im Namen eines immer wieder unter Einsatz aller staatlichen Machtmittel verhöhnten utopischen Gedankens - benennen können, was da zu sehen war? Es gehörte, so muss man wohl heute sagen, zur Anerkennung des Faktischen, dass all dies (zumeist) stillschweigend mitgedacht wurde; worauf man sich wieder mit Verve dem eigentlichen Fachgebiet: der Literatur, ihren Themen, Macharten und Problemen zuwandte. Auch dies vereinte beide Seiten, Ost und West, und wurde nur kurzfristig gestört durch das "Legoland"-Gezischel im Bierkeller, in gelöster Stimmung, nach Feierabend.
Im Kinderroman von Michael Ende wird schließlich alles gut: Indem die brüllende und wild um sich schlagende Schulmeisterin Frau Mahlzahn von den beiden Helden gefangen genommen und in ein anderes Land überführt wird, erhält sie die Chance, sich in einen goldenen "Drachen der Weisheit" zu verwandeln - und sie tut es. Dass das Gold mit der Vereinigung der beiden Deutschländer nun auch in den Bezirk der früheren DDR-Literatur Einzug gehalten habe, nur eben - Kapitalismus! - nicht für alle (und am wenigsten noch für die, die zuvor am engsten Berührung damit hatten), mögen die einen als den Hauptwesenszug der historischen Umwälzung erkennen. Dass hingegen nun die Weisheit in der literarischen Produktion Gesamtdeutschlands das Zepter führe, wird wohl keiner im Ernst behaupten mögen.
Doch könnte in einem übertragenen Sinne das Bild aus dem Kinderbuch schließlich doch noch zutreffen: Setzt man für den Drachen nicht mehr die Präzeptorin, sondern die Literatur selbst ein, so hat diese in ihrem neuen Daseinszustand ihre drachenartigen: ihre gewaltigen und schönen, ihre erschreckenden wie beglückenden, kurzum, ihre aus eigener Kraft enormen Wirkungen zurückgewinnen können. Ob sie von ihnen Gebrauch macht, bleibt seither dem Drachen glücklicherweise wieder selbst überlassen.
1 Vgl. etwa das
Standardwerk von Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der
DDR, Erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996.