REPORTAGE
Die Abgeordneten des EU-Parlaments sind vielen Menschen kaum bekannt. Dennoch gibt es viele Vorurteile über sie. Wie sieht ihr Alltag wirklich aus?
Schon seit einer Stunde steht Markus Pieper in der Fabrikhalle eines münsterschen Ziegelherstellers. Sein dunkelblauer, glatt gebügelter Anzug will nicht so recht passen zu dem Lärm und dem Staub, die die Halle beherrschen. Aber das gehöre zum Job, sagt Pieper: "Wir dürfen den Kontakt zu unseren Wählern nicht verlieren. Schließlich sollen wir ja deren Interessen in Brüssel vertreten."
Der 45-jährige Pieper (CDU) ist einer von 785 Volksvertretern, die derzeit im Europäischen Parlament sitzen. Die Christdemokraten sind in Straßburg Teil der Fraktion der Europäischen Volkspartei, also den Konservativen in Europa. Doch sie sind offenbar genauso heterogen wie die Kulturen innerhalb der Europäischen Union: "Ich wünsche mir manchmal mehr Disziplin in der Fraktion", sagt Pieper, "nicht dieses permanente Ausbüchsen."
Worauf er anspielt: Im Europäischen Parlament halten die Fraktionen weniger eng zusammen als in den nationalen Volksvertretungen, im Bundestag etwa. Immer wieder werden Kompromisse über die eigenen politischen Grenzen hinweg geschlossen, die Meinungsunterschiede zwischen den Abgeordneten einer Fraktion sind bisweilen groß. "Manchmal überwiegen die nationalen Interessen, zum Beispiel bei der Vergabe von Fördermitteln für den Strukturwandel", sagt Markus Pieper.
Davon berichtet auch Graham Watson, der Fraktionsvorsitzende der Liberalen (ALDE) im Europäischen Parlament. Der 53-jährige Brite ist einer der Oldtimer in Straßburg. Seit 19 Jahren vertritt er seinen Wahlkreis im Süden Englands im EP und weiß, wie schwer es manchmal ist, einen Kompromiss zu finden - auch innerhalb seiner eigenen Fraktion. Sie umfasst 100 Abgeordnete. "Bei uns verlaufen die Meinungsverschiedenheiten zum Beispiel entlang der Unterscheidung von sozialer oder freier Marktwirtschaft oder der Frage, wie stark Religion und Politik zusammen hängen dürfen", sagt er. Manchmal fühle er sich wie jemand, der versucht, Frösche in eine Kiste zu stecken: "Immer wenn man denkt, man hat den Kompromiss, springt wieder einer davon."
Vor allem seit der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten im Jahr 2004 sei die Kommunikation untereinander schwieriger geworden, berichtet Watson: "Wir haben es versäumt, auf die Kollegen tatsächlich zuzugehen. Es war mehr eine Übernahme. Die meisten haben Jahrzehnte lang unter kommunistischer Herrschaft gelebt. Dass sie nun andere Auffassungen haben, ist doch ganz selbstverständlich." Watson hat in seiner Fraktion Kollegen etwa aus Polen, Ungarn und Slowenien willkommen geheißen. Es war auch die Initiative der Liberalen, einen Polen, den in der Zwischenzeit verstorbenen Bronislaw Geremek, vor zwei Jahren zum Parlamentspräsidenten zu nominieren. Aber die beiden großen Fraktionen, Konservative und Sozialdemokraten, stimmten dagegen. In keiner europäischen Institution ist die Vielfalt so groß wie im Europäischen Parlament. Das wird schon an der Zusammensetzung des Büros von Graham Watson deutlich: Seine Mitarbeiter kommen aus Zypern, Bulgarien, Schottland, Deutschland und Mauritius.
Im Plenum ist es nicht anders: Grundsätzlich entsendet jedes Land je nach seiner Bevölkerungsstärke Abgeordnete in die Volksvertretung, Deutschland zum Beispiel 99, Malta 5. Hier das richtige Gleichgewicht zu finden, sei nicht immer einfach, erzählt CDU-Mann Pieper. Gerade die Deutschen müssten noch immer aufpassen, ihre Überzahl nicht zu stark nach außen zu kehren. "Wir setzen uns nicht mehr durch als andere Nationen. Aber es gibt nach wie vor viele Vorurteile. Die Deutschen besetzen eben schon aufgrund ihrer Anzahl viele Schlüsselfunktionen im Parlament. Damit tun sich einige Kollegen schwer", berichtet Pieper. Mit Hans-Gert Pöttering (CDU) als Parlamentspräsidenten und Martin Schulz als Vorsitzendem der sozialdemokratischen Fraktion besetzen zwei Deutsche zentrale Positionen.
Markus Pieper ist ein Quereinsteiger. Nachdem er viele Jahre bei der Industrie- und Handelskammer in Osnabrück gearbeitet hatte, schaffte er bei der Europawahl 2004 den Sprung nach Straßburg. Manches sieht er deshalb mit anderen Augen als viele seiner Kollegen, die schon seit vielen Jahren im europäischen Zirkus unterwegs sind. Einige Rituale wie zum Beispiel das wöchentliche Frühstück des EVP-Fraktionsvorstandes mit dem Präsidenten des Parlaments lässt er ausfallen, um sich seinen Spezialgebieten wie Regionalentwicklung zu widmen.
Der Kontakt zu seiner Region ist ihm wichtig, wie vielen seiner Abgeordneten-Kollegen. Die Volksvertreter verbringen regelmäßig Zeit in ihren Wahlkreisen, um Gespräche mit Bürgern zu führen. Für viele von ihnen ist das eine weite Reise, schließlich müssen sie bis in die hintersten Landstriche von Griechenland, Portugal oder Rumänien fahren. Für Abgeordnete wie Watson oder Pieper ist es eher ein Katzensprung. Pieper hält auf diesen Fahrten gerne in einem Gymnasium an, um mit den Schülern über Europa zu diskutieren. "Da besteht ein unglaublich großes Interesse. Die junge Generation hat weniger Vorurteile gegenüber der EU", sagt er. Auch sonst sei das Ansehen der Europapolitiker gewachsen. Er fühle sich durchaus "auf Augenhöhe" mit einem Bundestagsabgeordneten.
Auch Graham Watson findet, dass das Gewicht des Europäischen Parlaments größer geworden ist in den vergangenen Jahren. Nicht nur, weil die Abgeordneten bei immer mehr Themen Mitspracherechte haben, sondern auch, weil die Gewählten selbst überzeugter sind vom europäischen Projekt: "Früher wurden hier ausrangierte Politiker aufs Abstellgleis gestellt oder Newcomer sahen das Europäische Parlament als erste Karrierestufe. Heute sind vermutlich schon 40 Prozent der Abgeordneten hier, weil sie es wirklich wollen", schätzt Watson.
Für viele Abgeordnete beginnt der Tag gegen acht Uhr. Oft ist der erste Termin am Tag ein sogenanntes Arbeitsfrühstück, zum Beispiel mit Lobby-Vertretern. Graham Watson mag Termine um acht in der Früh allerdings gar nicht. Er ist zwar ein überzeugter Europäer, aber morgens kann er sogar die EU nicht so richtig leiden. "Ich bin ein Morgenmuffel", sagt er und schmunzelt. Sein Motor laufe ganz langsam und ausschließlich mit einer Tasse Kaffee an. Zu seiner morgendlichen Routine gehören dennoch die Lektüre mehrerer Zeitungen und die Besprechung mit seinen Mitarbeitern. "Ohne ein funktionierendes Büro kann ich nicht arbeiten", sagt Watson.
In Brüssel schämt sich keiner dafür, sich auf die Arbeit seiner Assistenten zu verlassen. "Meine Mitarbeiter sollten sich in fachlichen Dingen besser auskennen als ich. Ich kann nicht für jedes Thema Berichte von 150 Seiten lesen", sagt Pieper. Wie engagiert sein Büro bei der Sache ist, hat er schon ganz plastisch erlebt. Als die neue Bodenschutz-Richtlinie im Parlament diskutiert wurde, gab es einen lautstarken Streit zwischen einer seiner Mitarbeiterinnen und einer anderen Kollegin: "Die hatten sich richtig in der Wolle. Da sieht man, das Europa eine Herzensangelegenheit ist."
Manchmal fühlt sich Pieper wie ein Nomade. Denn sein Leben spielt sich nicht nur zwischen dem Münsterland und Brüssel ab, sondern auch in Straßburg, wo das Parlament einmal im Monat zusammenkommt. Nicht wenige Abgeordnete wollen diesen "Wanderzirkus" abschaffen - sie kritisieren unter anderem die hohe Umweltbelastung durch das ständige Hin und Her.
Markus Pieper sucht sich in diesem stressigen Alltag eigene Freiräume. Der Sonntag gehört allein der Familie und alle zwei Monate dem Stammtisch mit Freunden in seinem Heimatdorf. "Den lasse ich nie ausfallen", betont er. "Sonst wird man zum Vagabund."