EU-VEREINBARUNG
Bundestag erhält mehr Informationen
Wie viele Gesetze, die in Berlin verabschiedet werden, ihren Ursprung in Brüssel haben, ist nicht leicht zu sagen. Die Politikwissenschaftlerin Annette Töller wollte es genau wissen: Sie hat in der Datenbank des Bundestages nachgezählt, wie viele Bundesgesetze von einem "europäischen Impuls" beeinflusst wurden. Für die 15. Wahlperiode von 2002 bis 2005 errechnete sie einen Durchschnitt von fast 40 Prozent. Die Spannbreite reicht von der Innenpolitik, wo nach Töllers Berechnungen nur etwa 13 Prozent der Gesetze einen EU-Stempel tragen, bis zum Umweltressort, wo mehr als 80 Prozent in Brüssel angestoßen wurden. Die genauen Zahlen mögen umstritten sein, die Bedeutung der EU für die deutsche Gesetzgebung zweifelt kaum noch jemand an.
Das wurde auch 2005 deutlich, als das Bundesverfassungsgericht das deutsche Gesetz zum Europäischen Haftbefehl für verfassungswidrig erklärte. Die Richter kritisierten damals, dass sich die Bundestagsabgeordneten nicht intensiver mit dem Entwurf des Justizministeriums beschäftigt hätten. Der CDU-Abgeordnete Siegfried Kauder beklagte die "Zeitnot", unter dem die Volksvertreter standen, Grünen-Fraktionsvize Christian Ströbele verlangte, den Bundestag künftig früher in wichtige Entscheidungen einzubeziehen.
Um eine frühe Einbindung sicherzustellen, schlossen Bundestag und Bundesregierung im September 2006 eine Vereinbarung, kurz BBV genannt. Sie regelt die Zusammenarbeit "in Angelegenheiten der Europäischen Union". In dem Papier wird aufgezählt, welche Dokumente die Regierung an den Bundestag weiterleiten muss: Sitzungsberichte, Entwürfe von europäischen Gesetzen, aber auch inoffizielle Dokumente, die als "non-papers" (Nicht-Dokumente) bezeichnet werden. Wenn den Bundestagsabgeordneten ein Thema besonders wichtig oder kontrovers erscheint, können sie der Regierung ihre Position mitteilen; die Kanzlerin und ihre Minister sollten diese Stellungnahme ihren Verhandlungen "zugrunde legen", wie es in der Vereinbarung heißt.
Um Informationen aus erster Hand zu sammeln und früh in Entscheidungen einbezogen zu werden, richtete der Bundestag außerdem ein Verbindungsbüro in der europäischen Hauptstadt ein. Nicht nur dort, sondern auch in Berlin werten die Mitarbeiter den Informationsfluss aus Europa aus. Sie arbeiten wie ein Filter, der weniger wichtige Dokumente aussortiert und auf brisante Themen aufmerksam macht. Auch die Fraktionen sind im Brüsseler Verbindungsbüro vertreten. Sie sichten beispielsweise Gesetzesvorschläge nach den besonderen Schwerpunkten der jeweiligen Partei. Die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag ist nicht der erste Versuch, die Kompetenzen zwischen Exekutive und Legislative zu klären: Bereits 1992, mitten in der Diskussion um die Ratifizierung des Maastricht-Vertrages, verabschiedete der Bundestag den "Europa-Artikel", der zu Artikel 23 des Grundgesetzes wurde. Schon hier ist festgelegt, dass Kanzler und Minister die Abgeordneten in EU-Angelegenheiten "umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten" haben und die Regierung die "Stellungnahme des Bundestages bei den Verhandlungen" berücksichtigen soll. Das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union und die BBV präzisieren, wie die eher allgemeinen Vorgaben des Grundgesetzes in der Praxis umgesetzt werden können.
Nach zwei Jahren Praxistest hat der Bundestag am 5. März über Erfolge und Schwachstellen der Vereinbarung diskutiert. An der "Notwendigkeit der demokratischen Kontrolle des europäischen Handelns", wie Michael Stübgen (CDU) sagte, hatte keine Fraktion Zweifel. Und auch die Routineabläufe seien inzwischen gut eingespielt: Mehr als 16.000 Dokumente gingen bisher von der Bundesregierung, der Europäischen Kommission und vom EU-Parlament beim Bundestag ein, sagte Günter Gloser (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. 156 sogenannte "Rechtsetzungsvorschläge", das sind beispielsweise europäische Gesetzentwürfe, wurden zwischen September 2007 und August 2008 auf die Tagesordnungen der Ausschüsse gesetzt. "Wir sind besser informiert, es gibt ein höheres Level an Aufmerksamkeit für das, was auf der europäischen Ebene passiert", bilanzierte der FDP-Politiker Markus Löning in der Bundestagsdebatte. Es sei schwer, "sich als Parlament gegenüber der Exekutive zu behaupten und durchzusetzen", sagte Rainder Steenblock (Grüne). Die getroffene Lösung sei auf diesem Weg ein "ganz wichtiger Meilenstein".
Doch Steenblock kritisierte auch, dass manche Abmachungen von der Regierung nicht eingehalten würden. Besonders über die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik erhielten die Abgeordneten "keine ausreichenden Unterlagen". Die EU-Außenpolitik gilt als Achillesferse der Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag - und als Regierungsdomäne. Je mehr Personen Zugang zu vertraulichen Unterlagen haben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, das diese nicht vertraulich bleiben.
Abgeordnete wie Alexander Ulrich (Linke) erwarten weniger von einer Einigung mit der Regierung als von der Klage gegen den Lissabon-Vertrag in Karlsruhe. Seine Fraktion habe wegen der "Schwächung des Bundestags" durch den Vertrag geklagt und sei "guten Mutes", dass die Richter die Rolle des Parlamentes aufwerten.