EUROPA
Zwischen Parlamentswahl und Reformvertrag: In der EU werden 2009 wichtige Weichen gestellt
Europa ist an einem schwierigen Punkt angelangt. In diesem Sommer und Herbst muss sich zeigen, ob die Staaten der Europäischen Union die Kraft und den Mut haben, den Herausforderungen der Gegenwart und den Gefahren der Zukunft zu begegnen - gemeinsam, als Union. Oder ob sie zurückzucken vor den großen Erwartungen, die die Welt zunehmend an den alten Kontinent stellt. Sie nicht zu erfüllen hieße, sich der Mitgestaltung der internationalen Politik zu verweigern.
Im Juni wählen die Europäer ein neues Europäisches Parlament, in der zweiten Jahreshälfte wird eine neue EU-Kommission bestimmt. Faktisch zeitgleich fällt die endgültige Entscheidung, ob die Europäische Union sich durch einen neuen Vertrag, den Vertrag von Lissabon, modernisiert. Am Ende des Jahres wird man sehen, ob die Europäer anfangen, die Welt zu formen, mit der sie sich bislang eher nur herumgequält haben. Unter den europäischen Ereignissen ist die Wahl zum Europäischen Parlament dabei nicht das unwichtigste.
Die allgemeine Weisheit will zwar wissen, dass dieser Urnengang keine Bedeutung hat. Die Abgeordneten in Brüssel und Straßburg hätten ja doch nichts zu sagen, heißt es. Die meisten Nicht-Wähler - und von denen gibt es viele -, begründen ihre europäische Abstinenz damit, dass ihre Stimme ja doch "nichts bringt". So populär dieses weitverbreitete Vorurteil ist, so falsch ist es auch.
Denn die Abgeordneten in Brüssel und Straßburg haben mehr Macht, als gemeinhin angenommen wird. Aber Macht hängt in einer Demokratie eben auch von der Legitimation durch die Bürger ab. Und da hat das Europäische Parlament ein Problem. Seit der ersten europäischen Direktwahl im Jahre 1979 sank die deutsche Beteiligung an der Europawahl stetig, von 66 Prozent auf nur noch 43 Prozent im Juni 2004. Und für den Urnengang am 7. Juni sieht es auch nicht besser aus.
Das ist deswegen besonders erschreckend und schwächt die europäische Demokratie, weil die Bürger bei dieser Wahl sehr wohl Einfluss nehmen können. Es spielt schon eine Rolle, ob Konservative oder Sozialisten im Europäischen Parlament die Mehrheit stellen und ob Europagegner stark werden. Denn in der EU läuft kaum noch etwas ohne das Parlament. Dessen Zusammensetzung entscheidet natürlich, in welche Richtung Klima- und Energiepolitik treiben oder welches Geld Europa für welche Dinge ausgibt. Und der Kommissionspräsident wird aus dem Kreis der "Parteienfamilie" bestimmt, die die größte Fraktion stellt. So geht es am 7. Juni, zwar nur indirekt, aber auch darum, ob der Konservative José Manuel Barroso erneut zum Kommissionspräsidenten berufen wird. Die Zeiten sind also lange vorbei, als Kommission und Ministerrat die europäischen Geschäfte selbstherrlich betrieben und das Parlament nur wenige Rechte hatte.
Natürlich ist es für die Menschen immer noch schwierig, sich von einem Abgeordnetenhaus vertreten zu fühlen, in dem mehr als 20 Sprachen gesprochen werden, über zwei Dutzend politische Kulturen zusammenstoßen und in dem parteipolitische Interessen oft mit nationalen im Streit liegen. Aber dieses Vielvölkerparlament hat einen enormen Einfluss auf den Gang der europäischen Dinge. Und die EU findet immer mehr im Leben der Europäer statt. Als gemeinsamer Markt, der Arbeit schafft und sichert. Als gemeinsame Währung, ohne die sich die Europäer in den Turbulenzen der internationalen Finanzwirtschaft kaum behaupten könnten. Als eine gemeinsame Energie- und Klimaschutzpolitik, die die Umwelt verbessert.
Und nicht immer, aber immer häufiger beugen sich die Abgeordneten über die zarte Pflanze der europäischen Außenpolitik. Die Entscheidung über militärische oder zivile Einsätze etwa auf dem Balkan, im Nahen Osten oder in Afrika liegt zwar weiterhin in der Hand des Europäischen Rats, also der Versammlung der Staats- und Regierungschefs. Aber über den europäischen Haushalt nehmen auch die Abgeordneten Einfluss auf die außenpolitische Präsenz der EU. Sollte es nach langen Irrungen und Wirrungen im Herbst noch gelingen, den EU-Reformvertrag in Kraft zu setzen, der unter dem Namen Lissabon-Vertrag bekannt ist, dann haben die Abgeordneten zwar immer noch nicht so viel Macht gegenüber der EU-Kommission und dem Europäischen Rat, wie ihre Kollegen im Bundestag gegenüber der Bundesregierung. Aber sie sind schon ziemlich nah dran.
Es hat gute Gründe, dass das Europäische Parlament schrittweise stärker geworden ist. Die Einsicht, dass die EU demokratischer werden müsse, je tiefer sie in das Leben der Völker eingreift und je größer sie wird, hat den Abgeordneten bei jeder Veränderung der Verträge mehr Mitwirkungsrechte gebracht. Nun will sich die Europäische Union den Lissabon-Vertrag geben, der sie für das 21. Jahrhundert fit machen soll. Es war ein mühsamer Prozess, der sich über fast ein Jahrzehnt hinzog - aber er war unvermeidbar. Die Welt um Europa herum verändert sich rasant und nicht immer zum Guten. Ob sie es will oder nicht, die Europäische Union muss in der Außen- und Sicherheitspolitik aktiv werden. In ihrer Nachbarschaft, aber auch weltweit.
Der Krieg zwischen Russland und Georgien im August 2008 hat alle europäischen Hoffnungen begraben, dass die Zeit für Kriege auf dem europäischen Kontinent vorbei sei. Und auch der Krieg Israels gegen die Terrororganisation Hamas im Gaza-Streifen zeigt, dass die Europäer in einer gefährlichen Nachbarschaft leben. Mahnende Worte an die Streitparteien und Aufbauhilfen bringen den Frieden allein nicht näher. Und spätestens seit der zweiwöchigen Blockade der russischen Erdgaslieferungen Anfang des Jahres wegen eines Konflikts zwischen Russland und der Ukraine führt kein Weg mehr an der Erkenntnis vorbei, dass Europa nur gemeinsam die Sicherheit seiner Energieversorgung sicherstellen kann. Allein sind selbst die großen Länder zu schwach. Und sie wären auch zu schwach, die Finanz- und Wirtschaftskrise zu meistern, die die Welt seit Ende 2008 im Griff hält.
Der Vertrag von Lissabon, der eigentlich nur die Strukturen der EU effizienter machen sollte, muss sich darum schon heute fragen lassen, ob er für diese großen Herausforderungen an die Gemeinschaft taugt. Er ist, wie üblich in der EU, ein Kompromiss, aber einer, der für die nächsten Jahre trägt. Mit der generellen Einführung der qualifizierten Mehrheit schafft er das Veto-Recht der Einzelstaaten ab und damit die Möglichkeiten der Blockade. Die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten wird klarer. Der zukünftige "Hohe Vertreter" für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik wird wirklich so etwas wie ein Außenminister. Die Kommission und die Gesetzgebung wird stärker der Kontrolle des Europaparlaments unterworfen. Und die Abgeordneten bekommen mehr Rechte. Europa kann mit Lissabon schneller und entschiedener handeln und klarer mit einer Stimme sprechen - wenn denn der politische Wille dazu da ist und wenn die Iren, die den Vertrag im Frühjahr 2008 per Volksentscheid abgelehnt haben, sich im Herbst 2009 eines Besseren besinnen.
Bleiben sie aber bei ihrem Nein, dann ist mehr als nur eine Reform gescheitert. Dann stürzt die EU in eine tiefe Krise. Denn die gegenwärtigen europäischen Verträge taugen nicht, um mit den Herausforderungen einer Welt im Umbruch fertig zu werden. Parlament, Kommission und Rat könnten nicht leisten, was die Bürger von ihnen erwarten und was der Bedeutung Europas in der Welt entspricht.
Schon deshalb wäre es im Vorfeld der irischen Entscheidung nicht schlecht, wenn mehr Europäer als das letzte Mal zur Wahl gingen. Denn die Macht der Europäischen Union kommt zwar auch aus den Verträgen. Vor allem aber kommt sie aus ihrem Rückhalt bei den Bürgern.
Martin Winter ist Korrespondent der
"Süddeutschen Zeitung" in Brüssel