Vielleicht hat gerade Socrates Socratous eine Mail aus Zypern geschrieben, Borys Mykolayovych Kolisnychenko aus der Ukraine oder Gunnar Fors aus Schweden: Wenn Hanspeter Blatt (im Bild links) in seinem Berliner Büro mit Spreeblick den E-Mail-Ordner öffnet, findet er dort Briefe aus ganz Europa. Blatt ist der Korrespondent des Bundestages beim Europäischen Zentrum für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation (EZPWD).
Nur wenige Außenstehende wissen, dass sich hinter dem sperrigen Namen ein internationales Netzwerk verbirgt: Parlamente und europäische Organisationen tauschen hier ihre Erfahrungen aus. Alle 47 Mitgliedstaaten des Europarates sind dabei, auch Länder mit Beobachterstatus, das Europäische Parlament und internationale parlamentarische Versammlungen. Insgesamt stehen 65 soge- nannte "Korrespondenten" von Spanien bis Israel und von Norwegen bis Moldawien miteinander in Kontakt, vor allem über E-Mail und Telefon. Die meisten arbeiten beim Wissenschaftlichen Dienst ihres jeweiligen Parlaments. So auch Hanspeter Blatt, der im Bundestag den Fachbereich für Zeitgeschichte leitet, und Kolja Bartsch (im Bild rechts), sein Stellvertreter als Korrespondent.
Im Internet-Zeitalter ist es zwar viel leichter geworden, sich über andere Länder zu informieren. Doch auch Google weiß nicht alles. Mit einer Suchmaschine findet man billige Flugtickets nach Nairobi. Aber man findet keine Antwort auf die Frage, ob andere Länder einen Solidaritätszuschlag auf Flugtickets erheben, um Medikamente für die Dritte Welt zu finanzieren.
Für solche Fragen gibt es das EZPWD. Im vergangenen November schickte Kolja Bartsch die Frage nach dem Ticketzuschlag an Korrespondenten anderer EU-Staaten. "Wir müssen darauf achten, dass die Fragen verständlich formuliert sind", erklärt Bartsch. "Schließlich haben manche Länder ganz unterschiedliche Rechtssysteme und Traditionen." Wer eine Anfrage stellt, muss auch die Situation im eigenen Land skizzieren. In Deutschland gebe es aktuell keinen Solidaritätszuschlag auf Flugtickets, schreibt Bartsch in der Mail, welche Pläne und Erfahrungen gebe es denn in anderen Ländern? Seine Kollegen in Kopenhagen, Helsinki, Paris oder Athen finden Bartschs Anfrage nur wenige Minuten später in ihrem Mailordner.
"Man muss den Kollegen bis zu drei Wochen Zeit für eine Antwort geben", sagt Blatt. Schließlich müssen die Korrespondenten im Wissenschaftlichen Dienst ihres eigenen Parlamentes einen Experten für das angefragte Thema ausfindig machen, bevor sie die Antwort zusammenstellen können. "Manche Fragen werden an alle teilnehmenden Parlamente gestellt, andere nur an ganz bestimmte, beispielsweise die Korrespondenten der EU-Mitgliedstaaten", erklärt er. Nicht immer trifft eine Antwort aus jeder angefragten Volksvertretung ein. "Kleine Parlamente stoßen bisweilen an die Grenzen ihrer Kapazitäten und können Anfragen nicht oder zumindest nicht rechtzeitig beantworten", sagt Hanspeter Blatt. "Aber das muss nicht unbedingt der Fall sein: Das estnische Parlament ist beispielsweise sehr fit."
Aktuelle Ereignisse lassen sich auch an den Anfragen mitverfolgen, die durch das EZPWD-Netzwerk strömen. Beispielsweise die Finanzkrise: Welche Auswirkungen hat die Krise auf Abgeordnetengehälter in anderen Ländern?, fragt ein mitteleuropäischer Korrespondent. Bis zu welcher Höhe werden private Bankkonten durch die Regierung garantiert?, will ein westeuropäischer Kollege wissen.
Der Austausch innerhalb des Netzwerks wird immer intensiver: Während im Jahr 2000 insgesamt nur zehn Anfragen gestellt wurden, waren es allein in den vergangenen sechs Monaten etwa 120. Durchschnittlich etwa 20 Antworten je Frage werden zusammengefasst und in einer Datenbank gespeichert - könnte ja sein, dass sich in zwei Jahren die slowenischen Abgeordneten über den Solidaritätszuschlag auf Flugtickets informieren wollen.